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Biowissenschaften Die Kulturelle Evolution

Karl
Karl
Administrator

RE: Die Kulturelle Evolution
geschrieben von Karl
als Antwort auf schorsch vom 25.04.2018, 09:54:59

Lieber schorsch,


ich hoffe, dass es nie zur Ausrottung des Menschen durch ihn selber kommen wird. Aber der Mensch wird sich verändern und er wird möglicherweise auch an Bedeutung verlieren. Im Laufe des Tages werde ich meinen Text fortführen und einiges dazu sagen.

Karl

Naturella
Naturella
Mitglied

RE: Die Kulturelle Evolution
geschrieben von Naturella
als Antwort auf Karl vom 25.04.2018, 10:26:24

Lieber Karl,

eigentlich hatte ich heute etwas ganz anderes vor. Aber ich konnte nicht umhin, mir all Deine Berichte und Vorträge anzusehen- bzw. hören. Ich fand das Thema so spannend, dass ich Raum und Zeit vergessen habe. - Das ist aber nicht weiter schlimm, denn ich bin zum Glück flexibel.
Also recht herzlichen Dank für Deinen Thread.

Bei mir kam eine Frage auf, als es um das Durchspielen von Handlungen im Kopf ging. Der Chimpanse baute sich Kisten zusammen, um an die Banane zu gelangen. Wenn ich es richtig verstanden habe, ist das Durchspielen von Lösungen eines Problems im Kopf ein essentielles Merkmal von Intelligenz.
 

Wieviele Schritte des Vorausplanens sind uns Menschen denn gegeben?
 
Von guten Schachspielern ist ja zu erwarten, dass sie weiter voraudenkend sind, als wir Durchschnittsmenschen. Ich könnte mir vorstellen, dass es sehr hilfreich sein könnte, wenn sich auch die Durchschnittsmenschen dahingehend kulturell weiterentwickeln würden, mehrere Schritte vorauszudenken. Denn dann könnten Fehler und Nachteile von Entwicklungen rechtzeitig gestoppt und ausgeschlossen werden. Zumindest fände ich, dass das schon mal ein guter Ansatz wäre, gemachte Fehler nicht zu wiederholen.

Oder ist es so, dass wir Menschen, da wir auf der Erdenskala noch kaum zu erkennen sind, noch garnicht so intelligent sind, wie es für eine gute Weiterentwicklung nötig wäre?
Naja, ich bin schon mal gespannt auf Deinen nächsten Text.

LG - Naturella
 
qilin
qilin
Mitglied

RE: Die Kulturelle Evolution
geschrieben von qilin
als Antwort auf Karl vom 25.04.2018, 09:51:13
Zu den Cyborgs. Du sprichst wahrscheinlich damit Menschen an, die sich einen 7. Sinn einbauen lassen?

Erweiterte Sinne Biomagnete, Kompass-Sinn und Erdbebenfühler

Darüber habe ich schon gelesen. Ich finde es erstaunlich, wie flexibel unser Gehirn auf solchen ungewohnten Input aus neuen Sinnesorganen reagiert und mit der Zeit daraus eine intuitiv erlebte eigene Empfindung wird, die dazu gehört.

geschrieben von karl
Lieber Karl,

ja, davon hat sie gesprochen, von Neil Harbisson und ein paar Anderen - ich hatte da eine andere Assoziation: ich habe da vor fast 60 Jahren eine SF-Geschichte gelesen - ein Astronaut wird bei der Landung so schwer verletzt, dass der Körper irreparabel geschädigt ist. Nur das Gehirn funktioniert noch, und so wird dieses in einen Roboterkörper transplantiert - der Rest sind dann die Heldentaten, die der gute Mann mit seinen Superkräften vollbringt... Zwinkern Hat mich damals schwer beeindruckt - das ist das Bild, das ich irgendwie von einem Cyborg herumgeschleppt habe Smiley - wenn man es natürlich mit der heutigen Wirklichkeit vergleicht, dass etwa Neil Harbisson erst monatelang lernen musste, die Vibrationen in seinen Schädelknochen in Farben zu übersetzen (die er ja nicht sehen kann) - dann ist's zum 'Übermenschen' doch noch ein recht weiter Weg...

() qilin

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Karl
Karl
Administrator

RE: Die Kulturelle Evolution
geschrieben von Karl
als Antwort auf Naturella vom 25.04.2018, 14:06:47

Naturella
Von guten Schachspielern ist ja zu erwarten, dass sie weiter voraudenkend sind, als wir Durchschnittsmenschen. Ich könnte mir vorstellen, dass es sehr hilfreich sein könnte, wenn sich auch die Durchschnittsmenschen dahingehend kulturell weiterentwickeln würden, mehrere Schritte vorauszudenken. Denn dann könnten Fehler und Nachteile von Entwicklungen rechtzeitig gestoppt und ausgeschlossen werden. Zumindest fände ich, dass das schon mal ein guter Ansatz wäre, gemachte Fehler nicht zu wiederholen.

Ich denke, man kann intelligente Problemlösungen bis zu einem gewissen Grad lernen. Vor allem braucht es Ruhe und Entspanntheit. Jeder weiß, dass Hektik und Intelligenz nicht zusammenpassen.

Persönlich würde ich es als großen Fortschritt bezeichnen, wenn es mir gelänge, einmal gemachte Fehler nicht zu wiederholen. Selbst dieses Lernen aus Versuch und Irrtum benötigt bei mir oft zuviele Versuche.

Intelligentes Vorgehen wäre es aber, jeden Fehler bereits im Vorfeld durch Nachdenken (im inneren Weltmodell) zu vermeiden. Das gelingt uns allen manchmal, aber niemals immer. Oft ist es eigene Unzulänglichkeit, manchmal aber auch einfach nur ungenügende Information.

Auch ein superintelligentes Wesen würde theoretisch noch Fehlentscheidungen treffen können, nämlich dann, wenn es nicht über hinreichende Informationen verfügt. Auch ein superintelligentes Wesen wäre nicht wirklich allwissend. 

Karl

 
Karl
Karl
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RE: Die Kulturelle Evolution
geschrieben von Karl
als Antwort auf Karl vom 24.04.2018, 16:15:55
Die Entkopplung von Intelligenz und Bewusstsein und deren Folgen

Wir haben gesehen, wie sich die kulturelle Evolution beschleunigt und teilweise konnten wir dies dadurch erklären, dass die geschaffenen Artefakte die Schaffung neuer künstlicher Systeme erleichtert. Es gibt also sogenannte positive Rückkopplungsschleifen.

Jetzt wollen wir uns einen Aspekt der kulturellen Evolution etwas genauer ansehen, nämlich die Entwicklung intelligenter Systeme.

Die Entwicklung der künstlichen Intelligenz hat mich schon immer brennend interessiert. In meinem beruflichen Leben habe ich mich mit biologischen Gehirnen und ihrer Funktionsweise beschäftigt und ich war schon immer davon überzeugt, auch wenn die Substrate von Computerplatinen und biologischen Gehirnen nichts miteinander zu tun hatten, dass die Informationsverarbeitung in Gehirnen nichts Übernatürliches hat und letztlich nachbildbar sein sollte.

Als Assistent am Genetischen Institut in Würzburg habe ich deshalb Seminare über die Informationsverarbeitung in natürlichen und künstlichen Systemen angeboten, die gut besucht waren und die dann u. a. folgende Vorlesung hervorgebracht haben:

Screenshot 2018-04-25 18.31.19.png 
(Klick auf den Titel transportiert zum ausführlichen Text auf ZUM.DE).

Eine gekürzte Fassung des Textes wurde 1981 in der Umschau als "Mensch und Computer" publiziert. Es war nicht so, dass mir damals viele zugestimmt hätten, aber die zwischenzeitlich stattgefundene Entwicklung zeigt doch, dass Vieles, was damals einigen noch hochutopisch vorgekommen ist, inzwischen realisiert worden ist oder kurz vor der Realisierung steht. 

Einer der Hauptgründe für die rasante Entwicklung der Computertechnologie ist die enorme Verkleinerung seiner Komponenten und die damit einhergehende Verbilligung von Speicherplatz und Rechenleistung. Stellvertretend hierfür steht das Mooresche Gesetz, kein Naturgesetz, aber ein Erfahrungssatz. Das Mooresche Gesetz besagt, dass sich die Komplexität integrierter Schaltkreise mit minimalen Komponentenkosten regelmäßig verdoppelt; je nach Quelle werden 12 bis 24 Monate als Zeitraum genannt.

Screenshot 2018-04-25 18.50.02.png 

Diese Kurve sieht auf den ersten Blick harmlos aus, aber man beachte die logarithmische Skala, d.h. diese Kurve zeigt, dass von 1970 - 2015 die Anzahl der Transistoren auf einem Chip von wenigen 1.000 auf über 1.000.000.000 gestiegen ist. Das bedeutet eine Leistungssteigerung um etwa 1 Million %!

Schon der Philosoph und Jesuiten Pater Teilhard de Chardin hatte mich als Schüler bei der Lektüre seines Buches der Mensch im Kosmos mit der These des Umschlags von Quantität in Qualität fasziniert. Diese These beinhaltet, dass man einem Irrglauben anhängt, wenn man etwas stetig größer macht, dass es einfach nur das Gleiche bleibt. Teilhard de Chardin hat das anschaulich mit einem Topf Wasser verglichen: Wenn man das Wasser im Topf allmählich erhitzt, passiert zunächst gar nichts Wesentliches, aber plötzlich, beim Erreichen eines Schwellenwertes fängt das Wasser zu kochen an. 

Teilhard de Chardin benutzte dieses Beispiel, um verständlich zu machen, dass die Vergrößerung der biologischen Gehirne im Laufe der Evolution irgendwann etwas Neues entstehen lassen musste. Von der reinen instinktiven Reflexmaschine kleiner Gehirne bis zu den großen Gehirnen der Wirbeltiere, der Säuger und schließlich des Menschen, gab es irgendwann die Aggregatszustandsänderung (das Kochen). Spätestens der Mensch wurde sich seiner selbst bewusst (heute wissen wir, dass dieser - auch bei uns nicht permanente Zustand - ebenso bei einigen höheren Tieren aufblitzen kann).

Das Mooresche Gesetz, das zunächst nur die rasante quantitative Entwicklung der Rechenleistung moderner Computer widerspiegelt, sollte, wenn wir auch hier vom Umschlag von Quantität in Qualität ausgehen, leistungsmäßig einiges bewirkt haben.  

Die folgende Zeitskala der Meilensteine für die Entwicklung der künstlichen Intelligenz macht in der Tat deutlich, dass sich das Mooresche Gesetz in der immer dichter werdenden Auflistung von Meilensteinen für die künstliche Intelligenz niederschlägt.

Screenshot 2018-04-25 19.16.52.png
(Text wird morgen fortgeführt)

Karl
britti
britti
Mitglied

RE: Die Kulturelle Evolution
geschrieben von britti
als Antwort auf Karl vom 25.04.2018, 19:18:11

Randbemerkung zum Vergleich mit dem Schachspiel:

Das Schachspiel gehorcht festgelegten Spielregeln und das Ziel ist, den Gegner schachmatt zu setzen.
Nichts gegen Vorausdenken, aber wenn sich unsere Umwelt aus mehrheitlich selbstgemachten Regeln
(Egoismus) so verändert, dass ein Ende der Menschheit nicht auszuschliessen ist, müsste man meiner Meinung nach die "Spielregeln" ändern und ein anderes Ziel setzen.  britti


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Karl
Karl
Administrator

RE: Die Kulturelle Evolution
geschrieben von Karl
als Antwort auf britti vom 26.04.2018, 09:15:10

Liebe britti,

intelligentes Handeln ist immer zielgerichtet, aber diese Ziele müssen nicht unbedingt "intelligent" oder "gut" sein. Das Fatale ist sogar, dass Intelligenz und  Ziele frei kombinierbar sind. Jemand kann mit intelligenter Raffinesse völlig unmoralische Ziele verfolgen.

Dazu aber später mehr, denn diese Problematik wird ganz wichtig werden, sobald wir uns mit "Superintelligenz", die die menschliche Intelligenz bei weitem übersteigt, beschäftigen werden.

Karl

Karl
Karl
Administrator

RE: Die Kulturelle Evolution
geschrieben von Karl
als Antwort auf Karl vom 25.04.2018, 19:18:11

Umständehalber hat die Fortführung des Kapitels "Die Entkopplung von Intelligenz und Bewusstsein und deren Folgen" jetzt länger gedauert.

Ich möchte jetzt nicht ausführlich jeden einzelnen Punkt dieser KI-Meilensteine diskutieren, sondern mir nur einige Punkte herausgreifen. Dabei werde ich Bausteine eines früheren Textes von mir verwenden.

Was ist der Turing Test?

1. KÖNNEN MASCHINEN DENKEN?

Der von Turing entwickelte Intelligenztest für Maschinen ist besonders gut dazu geeignet, das Augenmerk auf die wesentlichen Punkte bei unserer Argumentation zu lenken. Der Engländer A.M. Turing war Mathematiker und Logiker. Häufig wird unterstellt, daß die moderne Ära der Computerwissenschaft mit seinem Aufsatz von 1936 mit dem Titel "On computable numbers, with an application to the Entscheidungsproblem" begann. In dieser epochemachenden Veröffentlichung wies er nach, daß Maschinen gebaut werden können, die alle jene logischen Probleme lösen können, die lösbar sind.
Turing hat sich auch mit der Frage beschäftigt: "Können Computer denken?". Er hat diese Frage allgemein verständlich abhandeln können. Bemerkenswert an seinen Gedankengängen ist, daß sie 1950, also 5 Jahre vor dem ersten tatsächlichen Beginn von Arbeiten auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz entstanden sind.

'Turings Test', so lautet heute das von Turing vorgeschlagene Experiment zur Überprüfung von Computerintelligenz, läßt seine behavioristische Grundhaltung erkennen. Er schlägt ein Experiment vor, das von Nebensächlichkeiten abstrahiert und nur auf die Vergleichbarkeit des intelligenten Outputs konzentriert ist. Es ist eine Basis für sachlich geführte Diskussionen des Problems "Können Maschinen denken".

Leider starb Turing schon 1954, sonst hätte er erste bescheidene Schritte auf dem Wege zur künstlichen Intelligenz verfolgen können. Im folgenden sind seine Gedankengänge sinngemäß wiedergegeben.

1.1. Das Imitationsspiel

Turing sieht bei der Diskussion maschineller Intelligenz emotionale Probleme. Deshalb möchte er sich nicht mit semantischen Streitfragen wie "Was ist eine Maschine?", "Was heißt 'Denken'?" abgeben. Stattdessen schlägt er zur Versachlichung ein Spiel, ein Imitationsspiel vor.

Drei Personen (A, B, C) nehmen an dem Spiel teil. Die Personen A und B sind von C räumlich getrennt, können mit C jedoch Informationen über einen Fernschreiber austauschen. Zunächst soll A ein Mann und B eine Frau sein. C ist ein Interviewer, der durch intelligente Fragen versuchen muß herauszufinden, welches Geschlecht seine Spielpartner haben. B ist ein Spieler, der verpflichtet ist, immer die Wahrheit zu sagen, er soll dem Interviewer möglichst helfen. A darf lügen, er soll den Interviewer über sein Geschlecht im Unklaren lassen. Der Interviewer weiß bei Spielbeginn natürlich nicht, wer A und wer B ist. Er kennt sie unter den Namen X und Y.
Ein paar Beispiel-Fragen:
C: Würde X mir bitte die Länge ihrer oder seiner Haare mitteilen?[3]
X (als A): Meine Haare sind gelockt und ungefähr 35 cm lang.
Y (als B): Ich bin die Frau, glaub ihm nicht etc.
X (als A): Er lügt, glaube ihm nicht.
Es ist klar, daß ein Mensch in der Rolle von A durch geschickte Antworten erreichen kann, daß dem Interviewer am Ende nur noch das Raten bleibt. Was aber ist, wenn das Spiel so durchgeführt wird, daß nicht zwischen Mann und Frau, sondern zwischen Mensch und Maschine unterschieden werden soll und eine Maschine Spieler A darstellt?

1.2. Kritik des neuen Problems

Ist das neue Problem eine Untersuchung wert? Turing meint ja, denn es zieht eine scharfe Trennungslinie zwischen den physischen und den intellektuellen Eigenschaften des Menschen. Es hätte für die ursprüngliche Fragestellung doch wenig Sinn, die Maschine auch noch im Aussehen, in ihren Bewegungen und in ihrer Sprechweise dem Menschen gleichzumachen. Das wäre ja vielleicht sogar schwieriger als eine intelligente Maschine zu bauen.
Andere Vorteile werden durch folgende Frage-Antwort Beispiele verdeutlicht:
C: Schreibe mir bitte ein Gedicht über die Forth-Brücke.
A: Da kannst Du mit mir nicht rechnen. Ich konnte noch nie Gedichte
schreiben.
C: Addiere 34957 und 70764.
A: (Nach ungefähr 30 sec Pause) 105621.
C: Spielst Du Schach?
A: Ja.
C: Ich habe nur noch den König auf E1. Du hast Deinen König auf E3 und einen Turm auf A2. Du bist am Zug. Was spielst Du?
A: (15 sec Pause) Turm auf A1, matt.

Dieses Frage- und Antwortspiel ist für unsere Fragestellung also sehr gut geeignet, denn die Maschine soll auf ihre intellektuellen Fähigkeiten getestet werden und nicht für ihr Aussehen bestraft werden. Nebenbei bemerkt: Die Aufgabe, die der Maschine gestellt ist, ist schwieriger als bloß intelligent zu sein. Um für einen Menschen gehalten zu werden, muß sie mit einigen ihrer Fähigkeiten hinter dem Berg halten (z.B. mit der Rechengeschwindigkeit). Ein Mensch hätte in dem Spiel als Spieler A keine Chance.
Bevor wir nun auf die Frage eingehen, ob es theoretisch vorstellbar ist, daß ein Computer in dem Imitationsspiel erfolgreich bestehen kann, möchte ich einige der Fähigkeiten von Computern anhand eines einfachen Beispiels erläutern.

2. COMPUTER ALS INTELLIGENTE SPIELPARTNER

Ein besonders wichtiges Merkmal intelligenten Verhaltens ist sein vorausschauender Charakter. Der Schachspieler ist z.B. dann ein guter Spieler, wenn er seine Zugwahl aufgrund von Überlegungen trifft, die die mögliche Spielfortsetzungen möglichst weit in die Zukunft hinein mit berücksichtigen.
Der vorausschauende Charakter intelligenten Handelns setzt voraus, daß ein internes Modell der Umwelt existiert. Die möglichen Folgen einer Handlung müssen "im Kopf" durchgerechnet werden. Der intelligent Handelnde trifft seine Entscheidungen über die durchzuführenden Handlungen aufgrund seiner Bewertung der Handlungsfolgen. Das bedeutet, daß im internen 'Weltmodell' nicht nur verschiedene 'Spielfortsetzungen' erkannt werden, sondern auch, daß ein interner Bewertungsmaßstab, eine Bewertungsfunktion für Handlungsfolgen existiert. Die Bewertung einer Handlung erfolgt danach, ob der Abstand zu einem Ziel vergrößert oder verringert wird.
Handlungsziele werden durch die jeweilige Umweltsituation, aber vor allem auch durch die interne Bedürfnislage bestimmt. Wenn man hungrig ist, setzt man seine Intelligenz dazu ein, etwas zu essen zu bekommen. Sind alle physiologischen Bedürfnisse befriedigt, wird es leichter, sich auf den Gewinn einer Schach- oder einer Damepartie zu konzentrieren.

Die Existenz einer Bewertungsfunktion, an der wir die Folgen unserer möglichen Handlungen messen, und die Fähigkeit, daß wir in einem internen Modell der Umwelt mögliche Handlungen durchspielen und uns für die 'beste' Variante entscheiden können, ist charakteristisch für Intelligenz. Wir dürfen die wichtige Frage stellen, ob Computer zu solch intelligentem Verhalten in der Lage sind, also ob sie vorausschauen,bewerten und entscheiden können.

2.1. Damespiel als Testfall

Bereits in den 50er Jahren entwickelte A.L. Samuel ein lernfähiges Damespielprogramm, das schließlich so gut wurde, daß es einen Meisterspieler besiegte, der mehrere Jahre von menschlichen Gegnern nicht besiegt worden war.
Spiele sind für Computerwissenschaftler beliebte Objekte. Im Gegensatz zu Problemen des täglichen Lebens sind die auftretenden Schwierigkeiten standardisiert und die Komplikationen des Details fehlen. Samuel wählte Dame und nicht Schach, weil die relative Einfachheit der Regeln es erlaubte, den Schwerpunkt der Analyse auf die Lernfähigkeit des Programms zu legen. Obwohl Dame intellektuell sicher nicht mit Schach konkurrieren kann, sind ihm doch die wesentlichen Merkmale eigen, welche unsere Fragestellung erfordert. Hierzu gehören:
1. Im praktischen Sinne ist Dame nicht determiniert, d.h. es gibt keinen bekannten Algorithmus, der einen Sieg oder ein Unentschieden garantiert. Die komplette Analyse des Spielbaumes des Damespiels würde ungefähr 1040 einzelne Zugentscheidungen umfassen. Wenn drei Züge in einer Nanosekunde analysiert werden könnten, würde die vollständige Analyse immer noch 1021 Jahrhunderte dauern.
2. Es besteht ein definiertes Ziel. Beim Damespielen besteht es darin, den Gegner bewegungsunfähig zu machen.
3. Es existiert zumindest ein gutes Kriterium, das etwas über die Nähe zum Ziel aussagt. Beim Damespiel ist das numerische Verhältnis der schwarzen und weißen Spielsteine entscheidend.
4. Die Gesetze, denen eine Handlung folgen muß, sind bekannt.
5. Es besteht in Form publizierter Damepartien ein Wissenshintergrund, gegen den die Leistungen des Computerprogramms gemessen werden können.
6. Die meisten Menschen sind mit den Regeln des Damespiels vertraut. Deshalb ist zu hoffen, daß das Verhalten des Computerprogramms verständlich gemacht werden kann.
Im folgenden wird die konkrete Struktur des Damespielprogramms erläutert.

2.2. Vorausschauen

Der Computer spielt Dame, indem er ein paar Züge vorausplant und die sich ergebenden Stellungen bewertet, ähnlich wie das ein menschlicher Damespieler tun würde. Dies funktioniert so, daß alle möglichen Züge ausgehend von einer Stellung berechnet werden. Dies geschieht mehrere Zugfolgen tief. Die Tiefe der Analyse ist nicht konstant, sondern richtet sich nach einer Hierarchie von Kriterien. Einige seien genannt:
1. Es wird immer mindestens x (z.B. 3) Züge voraus gerechnet.
2. Es wird tiefer analysiert, wenn der nächste Zug ein Sprung ist, der
letzte Zug ein Sprung war oder ein Austauschangebot möglich ist.
3. Es wird höchstens x+y (z.B. 20) Züge vorausberechnet. Diese Grenze
wird durch die Memory Kapazität des benutzten Computers bestimmt.
Durch diese Kriterien wird erreicht, daß die nachfolgende Bewertung der sich ergebenden Stellungsbilder nur solche Stellungen erfaßt, die relativ stabil sind (tote Positionen). Das Vorausschauen wird also nicht mitten in einem Abtausch abgebrochen.

2.3. Bewerten

Die Endstellungen, die sich aus dem Vorausschauen ergeben, werden bewertet. Grundlage hierfür ist in dem Programm ein lineares Polynom. Der wichtigste Term hierin, d.h. der Term mit dem höchsten Koeffizienten, steht für das numerische Verhältnis der weißen und schwarzen Spielsteine. Sein Vorzeichen entscheidet darüber, ob normales Dame oder "Freß-Dame" gespielt wird. Weitere 26 Terme wurden von Samuel in das Bewertungspolynom eingebaut, z.B. Zentrumskontrolle, Beweglichkeit, Kontrolle der Grundlinie etc. Auch binäre Kombinationen dieser Parameter wurden ausprobiert. Der Computer konnte, wie unter der Überschrift "Verallgemeinerndes Lernen" nochmal erwähnt werden wird, die Koeffizienten der Terme sowie die Auswahl der verwendeten Terme im Prinzip selbst bestimmen.

Mit Hilfe des Bewertungspolynoms wird jeder Endstellung, die sich aus dem Vorausschauen ergibt, ein numerischer Wert zugeschrieben. Hiervon ausgehend muß der beste Zug ausgewählt werden. Dies geschieht mit Hilfe der Minimax-Methode. Es reicht nicht aus, den Zug zu wählen, der zu der am höchsten bewerteten Endstellung führt, denn die bösen" Absichten des Gegenspielers müssen mit berücksichtigt werden. Rückwärts von den Endstellungen muß die Analyse durch den Spielbaum fortschreiten; jedem Knoten wird entweder der Minimalwert der tieferen Schichten zugedacht (wenn er eine Entscheidungsstelle des Gegners beschreibt) oder der Maximalwert (wenn er eine eigene Entscheidungsstelle darstellt). Erst diese Minimax Methode ermöglicht die Auswahl des besten Zugs. Der Wert der wahrscheinlichsten Endstellung wird der Ausgangsstellung zugeschrieben. Dies ist sehr wichtig zum Verständnis der Effektivität des Auswendiglernens, der primitivsten Lernform, zu der Samuel seinen Computer "erzogen" hat.

2.4. Auswendiglernen und Vergessen

Wir haben gesehen, wie jeder Spielstellung ein Wert zugeordnet wird, der sich aus der Minimax Analyse des Spielbaums ergibt. Dieser Wert wird nun zusammen mit der Spielstellung gespeichert. Wenn in einem neuen Spiel diese Stellung beim Vorausschauen wieder angetroffen wird, so wird sie nicht mit dem Polynom, sondern mit dem gespeicherten Wert bewertet. Dies bedeutet eine effektive Verdopplung der Zugzahl, um welche vorausgedacht wird. Theoretisch ist es möglich, daß durch diese Art des Lernens in der n-ten Partie partiell nx Züge vorausgedacht wird, wenn x die normale Vorausschautiefe bezeichnet.

In der Praxis stößt das Auswendiglernen jedoch sehr bald an die Grenzen der Speicherkapazität eines Computers. Samuel löste in seinem Fall dieses Problem dadurch, daß die Bewertung sehr selten angetroffener Stellungen vergessen werden konnte. Je häufiger eine Stellung beim Spiel angetroffen wurde, umso länger wurde die Bewertung "behalten".

Was kann der Computer, ausgestattet mit der Fähigkeit des Auswendiglernens, leisten? In der Trainingsphase ließ Samuel das Programm gegen sich selbst, aber auch gegen viele menschliche Gegner, darunter einige Meisterspieler, antreten. Auch einige Spiele aus der Literatur wurden nachgespielt. Am Ende dieser Lernphase spielte der Damecomputer eine sehr gute Eröffnung und erkannte die meisten Gewinn- oder Verluststellungen im Endspiel. Im Mittelspiel hatte das Auswendiglernen jedoch keine eindeutige Verbesserung bewirken können. Das Computerprogramm war in diesem Stadium als ein überdurchschnittlich guter Anfänger, aber sicher nicht als Experte, zu bezeichnen.

2.5. Verallgemeinerndes Lernen

Auswendiglernen ist durch die Gedächtniskapazität des Computers beschränkt. Es gibt zu viele mögliche Stellungen, als daß alle "auswendig" gespeichert werden könnten. Eine viel effektivere Lernmethode besteht darin, die gemachten Erfahrungen zu verallgemeinern und nur diese Verallgemeinerungen zu speichern. Dieses Lernen sollte verschiedene Ebenen der Abstraktion beinhalten. Samuel versuchte seinem Programm die Fähigkeit zur Abstraktion dadurch zu geben, daß er es in die Lage versetzte, die Terme des Bewertungspolynoms selbst auszuwählen und das Vorzeichen und die Größe der Koeffizienten anhand des Spielerfolgs zu bestimmen. Die Modifikation der Termkoeffizienten anhand des Spielerfolges beinhaltet folgende Schwierigkeit: Nach Beendigung eines Spiels ist nicht immer sicher, welcher Spielzug zum Gewinn oder zu dem Verlust der Partie geführt hat, also ist auch nicht sicher, welcher Term neu gewichtet werden sollte. Samuel umgeht dieses Problem dadurch, daß er während des Spiels nach jedem Zug eine Bewertung des Bewertungspolynoms vornimmt. Gegeben sei z.B. eine beliebige Stellung im Mittelspiel. Grundlage des Lernvorgangs ist dann der Vergleich der Bewertungen für die augenblickliche Stellung, die sich ergeben, einmal aus der augenblicklichen Berechnung mit dem Polynom und zum anderen nach der Generierung des Spielbaums aus der Rückrechnung mit der Minimax Methode. Die Differenz zwischen beiden Bewertungen ist Delta. Delta ist ein Maß für die Güte des Bewertungspolynoms. Wenn Delta positiv ist, bedeutet das, daß die Berechnungen des Polynoms zu pessimistisch waren. Alle positiven Terme sollten also u.U. stärker bewertet werden. Wenn Delta negativ ist, dann war die Bewertung mit Hilfe des Polynoms zu optimistisch und alle Terme, die negativ beitragen, sollten u.U. stärker zu Buche schlagen. Nach Beendigung des Spiels werden deshalb die für jeden Zug ermittelten Delta-Werte mit dem Vorzeichen der verschiedener Terme während eines ganzen Spiels korreliert. Die Koeffizienten werden je nach berechneter Korrelation für das nächste Spiel verändert.

2.6. Vergleich der Lernmodi

Während das Auswendiglernen sehr schnell zu einer guten Eröffnung führte, aber im Mittelspiel wenig veränderte, hatte verallgemeinerndes Lernen nicht so ein gutes Eröffnungsspiel zur Folge, aber das Mittelspiel wurde drastisch beeinflußt. Einmal in Steinvorteil, hatte der Gegner meist keine Chance mehr.

2.7. Kombination der Lernmodi

Wirklich meisterlich spielte der Damecomputer nach der Kombination beider Lernmodi. So konnte er ein Spiel gegen Mr. R.W. Nealey gewinnen, der seit Jahren gegen Menschen nicht mehr verloren hatte. Nealey kommentierte das Spiel gegen den Computer folgendermaßen:

"Unser Spiel... hatte seine Höhepunkte. Bis zum 31. Zug war unser gesamtes Spiel publiziert, wenn man davon absieht, daß ich mehrmals das 'Buch' verlies, um den Computer in Zeitnot zu bringen. Ab dem Zug 32-27 (dem Verlustzug) ist das Spiel original, soviel ich weiß. Es ist für mich sehr interessant festzustellen, daß der Computer mehrere Starzüge machen mußte, um gewinnen zu können, anderenfalls hätte ich die Möglichkeit zum Unentschieden gehabt. Deshalb spielte ich weiter. Die Maschine spielte ein perfektes Endspiel ohne einen Fehlzug. In bezug auf das Endspiel habe ich seit 1954, als ich mein letztes Spiel verlor, keinen solchen Gegner gehabt."
Quelle: mein Text von 1981

Heutzutage wird sich darüber gestritten, ob Computerprogramme den Turing Test bereits bestanden haben oder noch nicht. Weniger Zweifel herrscht darüber, dass ein Konversationspartner am Telefon irgendwann uns ratlos zurücklassen wird, weil wir nicht wissen werden, ob wir mit Mensch oder Computer(programm)  gesprochen haben. Es wird uns auch wenig helfen, wenn wir bei jeder neuen Bastion, die Computer(programme) erobern, behaupten, es sei eben keine wirkliche Intelligenz nötig, um Dame-, Schach-, Go- oder Investmententscheidungen  zu treffen oder um Industriegüter zu fertigen und Auto zu fahren.

Völlig unabhängig von der Frage, ob wir wissen können, auf welchem Weg Computer(programme) Probleme lösen und Entscheidungen treffen, wird allein entscheidend sein, ob sie es besser können als wir. Können sie es besser, werden sie eingesetzt werden. Dies wird nicht ohne Konsequenzen bleiben.

Screenshot 2018-04-28 11.18.27.pngIn zwei Tagen werde ich den Text fortführen mit der Frage "Können technische Systeme Bewusstsein entwickeln?"

Karl
 
Rosi65
Rosi65
Mitglied

RE: Die Kulturelle Evolution
geschrieben von Rosi65
als Antwort auf Karl vom 28.04.2018, 11:21:33

Hallo Karl,

habe gerade die Biographie von Alan Turing gelesen. Als Mathematiker und Computerpionier hat er nicht
nur den ersten Schachcomputer konzipiert, sondern auch, gemeinsam mit G. Welchmann, den Enigna-Code dechiffriert. Dieser Code wurde von der Deutschen Wehrmacht im zweiten Weltkrieg zur verschlüsselten Datenübertragung eingesetzt und galt als unknackbar.
Leider haben ihm die Briten damals wegen seiner persönlichen Lebensführung sehr zugesetzt.
Alan Turings Leben endete unter dramatischen Umständen viel zu früh. Sein Suizid gilt bis heute noch
als umstritten.

Wie schade, wenn man bedenkt, was dieser intelligente Mann vielleicht später noch alles hätte entdecken oder erfinden können.

Herzlichen Gruß
 Rosi65  
 

Karl
Karl
Administrator

RE: Die Kulturelle Evolution
geschrieben von Karl
als Antwort auf Rosi65 vom 28.04.2018, 21:34:33

Liebe Rosi,

Turing war homosexuell und wurde deshalb in GB trotz seiner großen Verdienste am Enigma-Programm juristisch verfolgt, denn Homosexualität war damals strafbar. Er ist eine tragische Gestalt und ein Beispiel dafür, dass Hochbegabte nicht immer glücklich sind. 

Karl


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