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Biowissenschaften Häufige Fragen zur Genetik

Karl
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Re: Häufige Fragen zur Genetik
geschrieben von Karl
als Antwort auf Gerdd vom 19.12.2015, 01:22:44
Lieber Gerdd,

das von Dir angesprochen Buch " DER ZWEIE CODE" von Peter Spork trägt den längeren Titel " Der zweite Code: EPIGENETIK oder: Wie wir unser Erbgut steuern können".

Dieser Titel ist in meinen Augen trotz der Länge eine Verkürzung und eine große Übertreibung, enthält aber einen Kern Wahrheit, der jedoch groß aufgebauscht wird.

Wenn von einem 2. Code gesprochen wird, ist zunächst einmal zu fragen "Was ist der erste Code"? Der erste Code ist der genetische Code, der festlegt, wie die Basensequenz einer mRNA in die Aminosäuresequenz eines Proteins (Eiweißes) übersetzt wird. Diesen Code habe ich gestern hier verlinkt.

Der 2. Code ist darüber gesetzt und bezieht sich auf die Frage, welche Gene sind unter welchen Bedingungen in welchen Zelltypen aktiv oder deaktiviert.

Auf allen Ebenen, von der Transkription der Gene, über die Modifizierung der mRNA und ihre Wanderung ins Cytoplasma bis zur Translation gibt es Regulationsmechanismen.

Wenn heute von "Epigenetik" gesprochen wird, dann sind meist diejenigen Mechanismen gemeint, die die Aktivität der Gene auf DNA-Niveau betreffen, also die Transkription von Genen begünstigen oder blockieren.

Du hast hierbei wirksame Mechanismen Methylierung und Modifikation von Histonen richtig angesprochen. In unseren Zellkernen liegt die DNA ja nicht nackt vor, sondern sie ist in den Chromosomen sehr eng mit Proteinen verpackt, die man fälschlicherweise sehr lange als die eigentlichen Träger der Erbinformation angesehen hatte. Erst in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts konnte Avery nachweisen, dass gereinigte DNA Erbinformation überträgt. Watson und Crick entzifferten dann Anfang der 50er Jahre die Struktur der Doppelhelix, die Aufschlüsselung des genetischen Codes zog sich bis in die 60er Jahre.

Dass Gene dauerhaft oder für lange Zeit abgeschaltet werden können, ist aus der Entwicklungsbiologie gut bekannt. Die unterschiedlichen Zelltypen unseres Körpers enthalten zwar alle das komplette Erbgut, aber sie unterscheiden sich erheblich im Muster der Genaktivität, d. h. nur eine kleine Schnittmenge von Genen ist in allen Zellen aktiv, ansonsten benötigen z. B. Leberzellen andere aktive Gene als eine Nervenzelle. Gestalt und Funktion von Zellen hängt von deren Typus ab und dieser wird von der typischen Genaktivität festgelegt.

Ganze Chromosomenabschnitte, ja sogar ganze Chromosomen können in Körperzellen stillgelegt werden. Ein anschauliches Beispiel liefert das X-Chromosom.

Frauen haben bekanntermaßen zwei X-Chromosomen, Männer nur eines. Eine Leberzelle oder eine Nervenzelle nehmen nun jedoch in Männern wie Frauen identische Aufgaben war, da würde ein zweites X-Chromosom die genetische Balance nur stören. Tatsächlich wird in weiblichen Embryonen etwa im 1000 Zellstadium in jeder Zelle ein X-Chromosom inaktiviert (dabei kann zufällig in einer Zelle das väterlich, in einer anderen das mütterliche X-Chromosom inaktiviert werden). Die Inaktivierung des speziellen X-Chromosoms vererbt sich dann an alle Tochterzellen. Für Merkmale, für die Gene auf dem X-Chromosom wichtig sind, stellen Frauen also genetische Mosaike dar. Das schützt sie bei vielen X-chromosomalen Erbdefekten wie z. B. der Bluterkrankheit oder der Rot-Grünblindheit, unter denen Männer oft leiden, weil sie keine zweite Chance durch ein 2. X erhalten. Untersucht man die Retina von Müttern farbenblinder Männer kann man nachweisen, dass bei ihr farbtüchtige Retinabereiche neben farbuntüchtigen liegen. Aus der Größe der Mosaikflecken konnte man dann auch den Zeitpunkt der Inaktivierung des 2. X-Chromosoms zurückrechnen.

Inaktivierte X-Chromosomen lassen sich übrigens in Zellen der Mundschleimhaut (oder anderen Körperzellen) durch Anfärbung als sogenannte Barrkörperchen nachweisen.

Noch etwas zu "Wie wir unser Erbgut steuern können". Zunächst einmal müssen Genaktivitätsänderung in Körperzellen von solchen in den Geschlechtszellen unterschieden werden.

Epigenetische Veränderungen in unseren Körperzellen hängen durchaus auch von Verhaltensweisen und Umweltreizen ab. Das ist bekannt. Bei der Frage jedoch, wie dies den Regulationszustand der Gene in den Keimzellen beeinflussen kann, gingen in der Biologie die Meinungen schon immer auseinander. August Weismann, der die Keimbahntheorie der Vererbung bereits im 19. Jahrhundert postuliert hat, sah z. B. einfach keinen plausiblen Mechanismus dafür, wie Verhalten Vererbung beeinflussen sollte. Er sagte z. B. "Wie können die Spezialanpassungen der einzelnen Arbeiter- und Soldatenkasten der Ameisen erklärt werden, wenn diese sich doch niemals fortpflanzen?"

[Hier muss ich unterbrechen, da wir noch Weihnachtseinkäufe machen müssen. Das Thema interessiert mich jedoch so, dass ich es fortsetzen werde. Es geht um die Frage, ob die neueren Erkenntnisse der Epigenetik tatsächlich der Vererbung erworbener Eigenschaften wieder die Türe geöffnet haben. Ist der Darwinismus überholt, gilt jetzt wieder der Lamarckismus? Meine Position: man darf das Kind nicht mit dem Bade ausschütten und muss genau hinschauen.]

Karl
hobbyradler
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Re: Häufige Fragen zur Genetik
geschrieben von hobbyradler
als Antwort auf Karl vom 19.12.2015, 09:48:22
Tatsächlich wird in weiblichen Embryonen etwa im 1000 Zellstadium in jeder Zelle ein X-Chromosom inaktiviert....
geschrieben von karl...


Hallo Karl,
was bedeutet "im 1000 Zellstadium"?
Ciao
Hobbyradler
Karl
Karl
Administrator

Re: Häufige Fragen zur Genetik
geschrieben von Karl
als Antwort auf hobbyradler vom 19.12.2015, 10:12:20
@ Hobbyradler,

die Eizelle teilt sich, die Tochterzellen teilen sich. Dadurch wächst die Zellzahl exponentiell:

1 -> 2 -> 4 -> 8 -> 16 -> 32 -> 64 -> 128 -> 256 -> 512 -> 1024 -> etc.

Einige der Zellen werden jedoch später für die Plazenta abgezweigt und sind somit an der Bildung des embryonalen Körpers nur helfend beteiligt. Wenn ich mich richtig erinnere, bezieht sich die Zahl 1000 auf das Stadium, wo erstmals etwa 1000 Vorläufer der späteren weiblichen Körperzellen gebildet worden sind.

Karl

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Karl
Karl
Administrator

Re: Häufige Fragen zur Genetik
geschrieben von Karl
als Antwort auf Karl vom 19.12.2015, 09:48:22
In Fortsetzung meines Beitrags zur Epigenetik:

Ich habe gerade gesehen, dass wir das Thema generationsübergreifende Epigenetik hier im ST schon öfters diskutiert haben, siehe z. B. hier.

Ich übernehme aus Bequemlichkeitsgründen einmal von dort Textfragmente von mir.

[i]Es ist störend, dass wir Erlerntes nicht über unsere Gene vererben können - findet mein Enkel, er könnte sich das Büffeln der englischen Vokabeln sparen. Aber es ist richtig, dass das Dogma, dass erworbene Eigenschaften nicht vererbt werden, in den letzten Jahren etwas aufgeweicht ist. Leider aber eben nicht in der Weise, dass es meinem Enkel helfen könnte.

Epigenetische Vererbung bedeutet eine generationenübergreifende Stillegung oder Aktivierung von Genen, aber noch nicht eine Veränderung der Basensequenz in der DNA. Die meisten epigenetischen Effekte verflüchtigen sich deshalb innerhalb weniger Generationen.

Bei den Mäusen in diesem Link geht es auch nicht um Lerninhalte, sondern um die Lernfähigkeit. Die Ergebnisse sind auf der Linie der bekannten epigenetischen Effekte. Lamarck wird dadurch ein wenig rehabilitiert, aber wir müssen leider noch immer selber lernen - oder auf die Chips warten, die uns irgendwann implantiert werden könnten.

[/indent]
Leider gibt es keinen bekannten Mechanismus, der im Gehirn gespeicherte komplexe Informationen in die Keimzellen übertragen könnte. Allerdings würde in der Selektionstheorie von Darwin jeder Mechanismus, der in sinnvollerweise hilft, die Nachkommen besser an ihre Lebensbedingungen anzupassen, belohnt werden. Deshalb gibt es auch generationsübergreifende Epigenetik. Der Fadenwurm C. elegans kann z. B. Resistenz gegen Viren entwickeln. Er produziert dann kleine RNAs, die mit dem viralen Genom interagieren und dessen Funktion stören. Es ist bekannt, dass Elterntiere diese kleinen RNAs an ihre Nachkommen weitergeben können. Hier wird also eine Resistenz erworben und weitervererbt. Allerdings, da das DNA-Erbmaterial nicht verändert wurde, geht dieser Effekt in wenigen Generationen verloren. Ähnlich verhält es sich mit anderen generationsübergreifenden epigenetischen Effekten - auch beim Menschen.
Man muß ... genau unterscheiden - zwischen epigene­tischer Vererbung (Übertragung von Mutter auf Kind) und generations-übergreifenden epigenetischen Effekten (Prägung des Fetus im Mutterleib). Um sicher zu sein, dass eine epigenetische Vererbung vorliegt, muss das vererbte Merkmal noch in der dritten Generation sichtbar sein. Quelle.
geschrieben von wissenschau.de

Der Selektionsvorteil generationsübergreifender epigenetischer Vererbung ist evident. Durch diese Mechanismen werden Organismen befähigt, schneller auf Umweltänderungen zu reagieren.

Der Mensch hat die "Vererbung erworbener Eigenschaften" natürlich durch seine Schrift perfektioniert. Nichts muss mehr in Vergessenheit geraten. Deshalb ist die kulturelle Evolution der biologischen Evolution haushoch überlegen.

Karl
Gerdd
Gerdd
Mitglied

Re: Häufige Fragen zur Genetik
geschrieben von Gerdd
Lbr Karl,
ich will versuchen Imprinting zu verstehen.

Nach Mendel erben wir von unseren Elten je ein Gen mit der gleichen Aufgabe.
Da es dominante und rezessive Gene gibt, ist z.B. der Bauplan in dem Proteine dunkle Haarfarbe oder dunkle Haut bewirkt dominant über die Gene, die für weniger starke Pigmentierung sorgen.
Dabei war aber nach Mendel völlig egal, welches Gen von der Mutter und welches vom Vater stammte.

Plötzlich (vor 30 Jahren!) bemerkte man, daß es einen Unterschied macht, wer der Vater und wer die Mutter bei der Erzeugung der Nachkommen von Säugern ist.
[Eigentlich wußte man schon vorher, daß z.B. Maultier und Maulesel sehr verschieden sind – also Mutter ein Pferd und der Vater ein Esel oder umgekeht.]

Die Aktivität mancher Gene hängt offensichtlich davon ab, ob sie vom Vater oder von der Mutter stammen und nicht ausschließlich davon, ob sie dominant oder rezessiv sind?

Dieses Phänomen nannte man dann Imprinting oder genomische Prägung.

Im Prinzip schalten Männer und Frauen in den Keimzellen (Eizellen und Spermien) einige Gene epigenetisch stumm, aber es sind unterschiedliche bei Mann und Frau?

Die Kinder erben von jedem dieser sogenannten imprinteten Gene normalerseise eine aktive und eine inaktive Form.
Soweit so klar, denke ich?

Wenn ich jetzt als männliches „Kind“ meine eigenen Keimzellen bilde, muß ich den epigenetischen Code meiner Eltern löschen und ich muß dann auch in meinen Spermien an den Chromosomen, die ich von meiner Mutter geerbt habe, nicht zusätzlich zu den mütterlichen Stummschaltern noch väterliche anbringen, um männlich aktiviertes Erbgut zu haben.
(als "weibliches" Kind entsprechend)

Tritt auf diesem Weg ein Fehler auf, sind in den Zellen der kommenden Generation plötzlich Gene doppelt oder garnicht aktiv, die eigentlich nur in einfacher Ausführung abgelesen werden sollen.

Es gibt Nachteile (Krankheiten!) aber auch Vorteile durch Imprinting – es hat sich ja schließlich in der der Evolution der Säugetiere und Pflanzen!? durchgesetzt!

Soweit mal, ich hoffe ich habe einigermaßen richtig verstanden?
Hzl Gerdd
Karl
Karl
Administrator

Re: Häufige Fragen zur Genetik
geschrieben von Karl
als Antwort auf Gerdd vom 19.12.2015, 22:42:00
Lieber Gerdd.

Imprinting hast Du richtig verstanden. Ich stolpere nur über Deine Begriffe "dominante" und "rezessive" Gene. Was Du meinst sind nicht Gene, sondern konkrete Genvarianten Allele. Das "Gen" für z. B. Hämoglobin ist nur der Sammelbegriff für sehr viele natürlich vorkommende Varianten dieses Gens. Einige dieser Allele sind wenn sie mit einem anderen Allel kombiniert werden "dominant" über dieses andere, dann "rezessive" Allel. Aber in Kombination mit noch einem anderen Allel des Gens kann das erstere sich u. U. "rezessiv" verhalten. Es gibt also eine Hierarchie der Allele. Im "Fortpflanzungstopf" einer tierischen oder menschlichen Population können sich Hunderte von Allelen eines Gens befinden, wir selber besitzen aber jeweils nur höchstens zwei davon.

Wir tragen von jedem Gen zwei Varianten in uns, eine vom Vater, eine von der Mutter (bei Genen auf dem X-Chromosom gilt das bei Männern nicht, da gibt es jeweils nur eine mütterliche Variante). Nun kann das eine Allel dominant über das andere sein, das andere wird dann als rezessiv bezeichnet. Es gibt aber auch Zwischenformen, so dass beide Allele zum Erscheinungsbild beitragen.

"Imprinting" findet bei Genen unabhängig vom Allelzustand statt, die mütterlich oder väterlich weitergegebenen Allele können durch chemische Modifikation ein- oder ausgeschaltet sein.
Die genomische Prägung kommt noch nicht in der klassischen mendelschen Vererbung vor, sondern wurde erst später entdeckt. Bei Genen, die dem Genomic Imprinting unterliegen (geprägte Gene), ist entweder nur die von der Mutter stammende, oder nur die vom Vater stammende Version aktiv. Die Gene besitzen also eine elterliche, genomische Prägung. Imprinting beruht auf epigenetischen Modifikationen der DNA, die in den Keimzellen erhalten bleibt. Die Basenabfolge wird dabei nicht geändert. Durch diese epigenetische Prägung ist eines der zwei elterlichen Allele des imprinteten Gens aktiv und das andere inaktiv. Diese elterlichen Prägungen werden in den frühen Keimzellen jedes Individuums teilweise gelöscht und geschlechtsspezifisch neu etabliert – die epigenetische Codierung imprinteter Gene ist also reversibel. Wesentliche Unterschiede zur „klassischen“ Vererbung sind z. B. die elternabhängige Vererbung des Aktivitätszustandes eines Gens, die Reversibilität dieses Zustandes und die Unabhängigkeit des Imprints vom genetischen Code. Quelle.
geschrieben von Wikipedia.de


Karl

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Monja_moin
Monja_moin
Mitglied

Re: Häufige Fragen zur Genetik
geschrieben von Monja_moin
Einen interessanten Artikel zum Thema Gene und Vererbung habe ich heute im Newsletter von Archäologie Online entdeckt.

Vermischung verschiedener Menschenformen spielte wichtige Rolle für das Immunsystem des Menschen

Als moderne Menschen vor vielen Tausend Jahren in Europa auf Neandertaler trafen und sich mit ihnen fortpflanzten, erbten einige Nachkommen Genvariationen, deren Träger Infektionen besser abwehren konnten. Dieses Neandertaler-Erbe könnte aber auch dafür verantwortlich sein, dass einige Menschen anfälliger für Allergien sind. Forscher vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und vom Institut Pasteur und dem CNRS in Paris belegen jetzt in zwei voneinander unabhängigen Artikeln die wichtige Rolle artübergreifender Beziehungen für die Evolution des Menschen und insbesondere für die Evolution des angeborenen Immunsystems, das uns vor Infektionen schützt.
Quelle.
geschrieben von Quelle


Monja.

P.S.: Ich wollte die URL zum anklicken extra einfügen, klappt leider nicht.
Karl
Karl
Administrator

Re: Häufige Fragen zur Genetik
geschrieben von Karl
Morgen erscheint in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung ein Artikel von mir als Replik auf das neueste Buch von Sarrazin und sein FAS-Interview vom letzten Sonntag: "Warum Thilo Sarrazin die Genetik nicht versteht".

Wer mag kann den Artikel hier mit mir diskutieren.

Karl
Elmos
Elmos
Mitglied

Re: Häufige Fragen zur Genetik
geschrieben von Elmos
als Antwort auf Karl vom 30.04.2016, 20:49:41
Hi,

hättest du vielleicht einen Link zu deinem Beitrag? Das macht es vielleicht etwas einfacher ihn zu finden.

liebe Grüße
Andrea
Karl
Karl
Administrator

Re: Häufige Fragen zur Genetik
geschrieben von Karl
als Antwort auf Elmos vom 01.05.2016, 09:51:49
Liebe Andrea,

ich gebe besser die etwas längere Variante mit Belegen auf meiner Uni-Homepage an (für die gekürzte Version bei der Sonntagszeitung braucht man ein Abo).

Karl

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