Diskussion historischer Ereignisse Wer weiß das noch ?

sysiphus
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Wer weiß das noch ?
geschrieben von sysiphus
SPIEGEL Nr. 13 1948
Amerika präsentiert die Rechnung
Jahrelang lagen in den Archiven des State Departments in Washington die Akten der amerikanischen Leih-Pacht-Lieferungen an Rußland während des Krieges wohlbehütet in mehrfach gesicherten Geheimfächern. Auch die neugierigsten Reporter konnten nicht an die bisher taktvoll verschwiegenen Zahlen und Tatsachen herankommen, die das Geheimnis einer in der Geschichte der Menschheit beispiellosen Transaktion in sich bargen. Aber durch die von den Amerikanern als fortgesetzte Provokation interpretierte Politik der Sowjetunion ist man jetzt in Washington zu der Ueberzeugung gekommen, daß Takt und Höflichkeit gegenüber dem ehemaligen Kriegsverbündeten nicht mehr angebracht sind. Die Zahlen wurden zur Veröffentlichung freigegeben.
Auf die verzweifelten, oft hysterischen Bitten der kommunistischen Machthaber Rußlands lieh der "kapitalistische Erzfeind", die Vereinigten Staaten, den Russen Gold. Schiffe, Maschinen, Lebensmittel, Flugzeuge, Tanks und tausenderlei andere Dinge im Werte von über 11 1/2 Milliarden Dollar. 11 1/2 Milliarden ist ein beträchtlicher Teil des nationalen Vermögens der Vereinigten Staaten. Für die Durchführung des Europahilfe-Programms sind beispielsweise vorläufig nur 5,3 Milliarden Dollar vorgesehen, also halb soviel wie die Russen während des Krieges bekamen.
Manche russischen Zeitungen sprechen von dem "Shylock Amerika", der die elf Milliarden Dollar jetzt zurückverlange. Als der amerikanische Kongreß das Leih-Pacht-Gesetz bewilligte, erklärten alle beteiligten Länder - inklusive Rußland - , daß die amerikanische Haltung beispiellos in der Geschichte dastehe.
Man darf nicht vergessen, daß das Leih-Pacht-Gesetz auf dem Prinzip gegenseitiger Hilfeleistung aufgebaut war. Aber die russische Gegenleistung, obwohl sie mit den verzweifeltsten Mitteln hochgetrieben war (die Russen belasteten das amerikanische Konto sogar mit den Löhnen der Lotsen, die amerikanische Leih- und Pachtschiffe in die russischen Häfen steuerten), beträgt nur 2213000 Dollar. Während die Vereinigten Staaten dem britischen Weltreich unter dem Leih-Pacht-Gesetz fünfmal soviel gaben, wie sie empfingen, erhielten die Russen fünftausendmal soviel, wie sie den Amerikanern gaben.
Trotz der Zusicherungen der Russen und trotz unterzeichneter Verträge haben sich die Russen seit Beendigung des Krieges im August 1945 bis Januar 1947 geweigert, eine Abrechnung auch nur zu diskutieren. Sie besaßen sogar die Unverfrorenheit, die "kapitalistischen Erzfeinde" um einen neuen 6-Milliarden-Dollar-Kredit zu ersuchen.
Als sich die Amerikaner dieser Forderung gegenüber schwerhörig zeigten, erklärten sich die Russen plötzlich bereit, die Abrechnung des Leih-Pacht-Gesetzes zu diskutieren. Die erste Sitzung fand am 30. April 1947 statt und zehn weitere bis zum 18. Juli 1947. Der Sowjetbotschafter versprach, die amerikanischen Vorschläge, die auf dieser letzten Sitzung gemacht wurden, an Stalin weiterzugeben. Im Januar dieses Jahres kam endlich die russische Antwort an: die Sachlage würde überprüft werden.
Die Geschichte des Leih-Pacht-Gesetzes enthält viele interessante Daten. Nachdem Hitler am 22. Juni 1941 in Rußland eingefallen war, erhielt Rußland innerhalb einer Woche Kriegsmaterial im Wert von neun Millionen Dollar. Kurze Zeit später sandten die Vereinigten Staaten von ihrem damals verschwindend kleinen Besitz an Kriegsmaterial Waren im Werte von beinahe 22 Millionen Dollar. Harry Hopkins, der Freund und Vertraute von Präsident Roosevelt, flog nach Moskau.
Stalin sagte ihm, daß Rußland nicht besiegt werden würde, wenn es die nötigen Rüstungsmaterialien von Amerika bekäme. Obwohl die Amerikaner die meisten ihrer Bestände den Engländern versprochen hatten, erhielten die Russen im August Kriegsmaterial im Wert von 123 Millionen Dollar. Im Oktober bewilligte Präsident Roosevelt den Russen einen Kredit in Höhe von einer Milliarde Dollar. Dies ist das einzige Mal, daß Stalin einen Dankesbrief schrieb. Im Januar 1942 war die Milliarde bereits verbraucht, und Rußland erhielt einen Kredit von einer weiteren Milliarde Dollar.
Insgesamt bekam Rußland von den Vereinigten Staaten 14700 Flugzeuge, 7000 Tanks, 52000 Jeeps, 375000 Lastwagen, 35000 Motorräder. Außerdem ganze Fabriken (u. a. ein riesiges Werk zur Produktion von Autoreifen), Schiffe. Hochöfen, Lokomotiven und ganze Krankenhäuser. Die Russen erhielten 2670000 t Oel und Benzin, 8218 Abwehrgeschütze, 131000000 Maschinengewehre, 15000000 Paar Schuhe und unzählige andere Materialien.
Die Männer in Washington, die heute das Geschick der Vereinigten Staaten lenken, haben oft betont, daß sie bereit gewesen wären, den Russen die 11,5 Milliarden Dollar zu schenken, in respektvoller Anerkennung der russischen Leistungen während des Krieges. Aber nun ist man in Washington zu der Ansicht gekommen, daß die Russen den Takt und die Generosität der Amerikaner für Dummheit und Schwäche halten. Die Vereinigten Staaten haben eine bittere, eine teure Lektion gelernt. "Und die Russen haben die besten Freunde verloren, die sie je gehabt haben", erklärt ein amerikanischer Korrespondent.

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