Diskussion historischer Ereignisse Wie war die Zeit nach dem Krieg?

John-Wilmore
John-Wilmore
Mitglied

Wie war die Zeit nach dem Krieg?
geschrieben von John-Wilmore
Guten Tag an alle Senioren
Ich suche ältere Leute, die mir ihre Erlebnisse und Erfahrungen mitteilen. Vorallem interessieren mich Antworten auf folgende Fragen:
Als der II.Weltkrieg zu Ende war und die Stätten in Schutt und Asche lagen, wie funktionierte das Leben? Gab es ein Arzt? Gab es Essen und wie funktionierte das zusammen leben mit den Nachbarn?
Es gibt noch hunderte Fragen, die ich hätte, weil ich gerne mehr wissen möchte, wie lief der Alltag nach dem Krieg ab und wie normalisierte sich das Leben wieder?
Vielen Dank für die Antworten; bin schon mal gespannt auf Eure Erlebnisse.

Freundliche Grüsse
John Wilmore
Karl
Karl
Administrator

Re: Wie war die Zeit nach dem Krieg?
geschrieben von Karl
als Antwort auf John-Wilmore vom 07.02.2015, 18:38:42
Hallo John,

der Seniorentreff ist da eine Fundgrube für Dich. Suche doch mit unserer Wortsuche doch einmal nach "Nachkriegszeit".

Karl
carlos1
carlos1
Mitglied

Re: Wie war die Zeit nach dem Krieg?
geschrieben von carlos1
als Antwort auf John-Wilmore vom 07.02.2015, 18:38:42
Lieber John,
deine Frage, wie das Leben nach dem Krieg funktionierte, als der Krieg zu Ende war, ist nicht mit wenigen Sätzen zu beantworten. Leben funktioniert immer, die Frage ist nur, wie es funktioniert und unter welchen Umständen.

Millionen von Menschen erlebten das Kriegsende, doch jeder anders. Erwachsene anders als Kinder. Verschiedene Altersklassen erlebten es unterschiedlich. Alte Menschen wie mein Opa, der die Flucht mitmachte und im gleichen Jahr starb anders als ich. Auch die Zeit danach war für jeden wiederum unterschiedlich, je nachdem, wo er/sie es erlebten und wann genau. Wer als Flüchtling unterwegs war und eine Unterkunft suchte, war übel dran. Wer ausgebombt war, konnte hoffen wieder in sein Quartier in der Stadt zurückzukehren. Als Heimatvertriebener gab es kein Zurück mehr. Eher gut waren die dran, die in Klein- und Mittelstädten lebten, die von direkten Kriegseinwirkungen weitgehend unbehelligt geblieben waren. Eine Kleinstadt wie Kornwestheim bei Stuttgart erlebte Bombenangriffe, die dem großen Verschiebebahnhof galten. In Stuttgart galten die Angriffe der Innenstadt und der Vernichtung der Wohnquartiere.

Die Vorstellung, dass Deutschland eine Trümmerwüste war, speist sich aus den Bildern der zerbombten Großstädte, wo meist nur eine Trümmerwüste übrig geblieben war. Dies Bild entspricht, wie gesagt, eben nicht ganz der Realität. Auch die industrielle Infrastruktur hatte gelitten. Aber außerhalb der Ballungsräume war sie in vielen mittelständischen Betrieben intakt geblieben. Die wichtigsten Versorgungsbetriebe (Wasser, Strom, Gas) konnten alsbald wieder in Betrieb genommen werden.

Die ersten Jahre nach dem Krieg waren geprägt durch extreme Nahrungsmittelknappheit und Mangel an den notwendigsten Dingen des Lebens. Froh konnte der sein, der wenigstens Bekannte hatte, die einen Bauernhof besaßen. Wer keine Beziehungen hatte, musste hamstern gehen und irgendetwas auf Tauchbasis ergattern. Bezahlung in Reichsmark ging nicht. Das Geld hatte seinen Wert als Tauschmittel verloren. Gegen Zigaretten ging fast alles.

Ein Radio zu haben ist heute im Medienzeitalter nichts Außergewöhnliches. Wir hatten keines. Erst 1950 schafften wir eines an. Noch im Sommer des gleichen Jahres versammelte sich ein großer Freundeskreis in der Wohnung einer Familie, die ein Radio besaß, um die Übertragung vom Endspiel um die Deutsche Fußballmeisterschaft zwischen VfB Stuttgart und Kickers Offenbach (26.6.1950; Stuttgart gewann 2:1!) anzuhören. In der Pause des Spiels wurde berichtet, dass nordkoreanische Truppen in Südkorea eingedrungen waren. Wieder Krieg. Wenige Tage später wurde ein kleines Radio gekauft und täglich verfolgte ich die Nachrichten vom Kriegsschauplatz, immer in der Angst ein Krieg könnte auch in Deutschland ausbrechen. Die Leute begannen Lebensmittel einzukaufen und zu horten. Ich musste Tüten mit Mehl und Zucker kaufen und nach Hause schleppen. 1950 war die Lebensmittelversorgung bereits wieder gut, zwei Jahre nach der Währungsreform. Die Lebensmittelkarten brauchte man nicht mehr.

1945 war ich 11 Jahre alt. Es war für mich eine Zeit ohne Schule. Die begann erst im September wieder. Von März bis in den Herbst hinein gab es keinen Unterricht. Im Frühjahr wegen der dauernden Tieffliegergefahr. Ich erinnere mich, wie wir in den letzten Kriegsmonaten unterwegs immer nach oben starrten - Fliegergeräusche waren fast immer hörbar - und beobachteten, welche Richtung der Jagdbomber nahm.

Die Monate nach dem Waffenstillstand (8.5.1845) waren geprägt durch Wanderzüge von Vertriebenen, Flüchtlingen, "displaced persons" (ehemalige Fremdarbeiter = Zwangsarbeiter), die in Lagern zusammengefasst wurden und darauf warteten (oder befürchteten im Fall von Ostarbeitern aus der Sowjetunion) in ihr Heimatland verbracht zu werden.

Es ging alsbald um das nackte Überleben, denn der Mensch braucht eine bestimmte Nahrungsmenge/Kalorienzahl am Tag, um zu überleben. Die Lebensmittelkarten reichten dafür nicht aus. Irgendwie musste der Magen gefüllt werden. Es wurden Kräuter gesammelt, auf den abgeernteten Feldern die restlichen Kartoffeln, die im Boden verblieben waren oder Ähren aufgelesen. Man stopfte sich den Magen voll mit Kohlgemüse, wenn es so was gab. Es gab Lebensmittelkarten, auf denen wenige Gramm Fett pro Tag verzeichnet waren oder Marken für Brot oder Zucker. Zigarettenmarken wurden von den Eltern eingetauscht gegen andere Marken (Brot). Die Erwachsenen hatten dicke Füße (Hungerödem). Meine Eltern ließen meinem Bruder und mir mehr zukommen und verzichteten auf das ihnen Zustehende. Ich ging auch auf eine Müllhalde und suchte dort nach Lebensmitteln, brachte auch einmal Fleischbüchsen aus amerikanischer Produktion nach Hause, die die Russen weggeworfen hatten.

Die Wohnungssituation war nach heutigen Maßstäben beengt. Der vorhandene Wohnraum musste geteilt werden mit anderen Flüchtlingen und Ausgebombten. In jedem Zimmer hauste eine Familie. Die Küche wurde nach Absprache gemeinsam genutzt. Der Herd wurde mit Holz befeuert. Kein Vergleich zu den heutigen Cerankochfeldern oder Induktionsherden. Man half sich so gut man konnte. Es gab aber auch Zeitgenossen, die klauten. Lebensmittel durfte man nicht liegen lassen. Eine Familie schenkte uns zum Abschied eine Dose mit Heringen, ließ sie für uns auf einer Fensterbank liegen. Sie war schon weg, als wir sie holen wollten.

Ich erinnere mich noch gut daran, welches Problem auftrat, als die Taschenuhr meines Vaters ihren Dienst versagte. Es war 1946, wir waren noch in der russischen Zone. Der Uhrmacher meinte, dass die passende Welle nicht beschaffbar sei. Mein Vater kannte in der Schweiz jemanden, den er in den 20er Jahren besucht hatte. Er schrieb ihm und erhielt sogar per Post das kleine Ersatzteil. ein kleines Teilchen nur. Es war aber eine große Hilfe.

Im November 1950 fand in Stuttgart das erste Fußballländerspiel einer bundesdeutschen Auswahl und der Schweizer Nationalmannschaft statt in Stuttgart vor hunderttausend Zuschauern statt. Ein ungeheures Ereignis, für mich jedenfalls, denn die Schweizer waren die ersten, die nach dem Krieg den Spielbetrieb mit den Deutschen wieder aufnahmen. Die Schweiz hatte bei der Weltmeisterschaft in Brasilien im Sommer 1950 sogar dem Weltmeister Brasilien ein Unentschieden abgetrotzt. Dtld (d.h. die westdt. Auswahl) gewann 1:0. Werner Burdenski von Werder Bremen erzielte das Tor per Handelfmeter. Den Schweizern bin ich heute noch dankbar für das was sie für uns getan haben.

Viele Grüße
c

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uki
uki
Mitglied

Re: Wie war die Zeit nach dem Krieg?
geschrieben von uki
als Antwort auf carlos1 vom 10.02.2015, 16:33:25
Was mir noch dazu eingefallen ist, ist das Wort „fringsen“
Es war im Jahr 1946 als Kardinal Frings aus Köln, dafür sorgte, dass es noch heute bekannt ist.
Aus seiner Sicht war der Mundraub und der Kohleklau, der meist aus, in den Kurven langsam fahrender Züge, von damaligen Jugendlichen begangen wurde, gestattet, und half so beim Überleben so manch armer Familie.

Die Stromversorgung, so kann ich mich erinnern, funktionierte erst einmal nur bedingt.
Zu bestimmten Zeiten wurde der Strom abgestellt.

Der Winter war bitterkalt und an Brennmaterial war sehr schwer zu kommen. S.o., „Kohleklau“
Im Ruhrgebiet, mit den vielen Zechen, sah man Leute, die in den Halden nach Kohlestückchen suchten. In kleinen Handkarren wurden die dann transportiert.

In den Zechensiedlungen mit Garten wurden Hühner, in den Ställen Kaninchen gehalten. Man organisierte, wo es nur ging.

Vor den Geschäften bildeten sich lange Schlangen, um das Wenige, das angeboten wurde, zu ergattern. Nicht selten lösten sich die Familienmitglieder beim Warten ab. Zum Beispiel gab es vielleicht Brot gegen Mittag zu kaufen und schon Stunden vorher wurde sich dafür angestellt. Oft mussten die Letzten trotzdem mit leeren Händen nach Hause.

Kleidung, besonders Schuhe waren enorm schwer zu ergattern. Nicht selten sah man in Eis und Schnee Kinder mit Holzpantinen, an denen die Schneeschicht beim Gehen immer höher wurde, durch die Straßen laufen. In der übrigen Jahreszeit war man glücklich, ein Paar Schuhe, die aus Reifen hergestellt wurden, zu bekommen. Alte Schuhe, aus denen man raus gewachsen war, wurden vorne abgeschnitten, damit die Zehen wieder Platz hatten.

Um für das Essen der Familie zu sorgen machten sich meist Frauen auf, um bei Bauern aus der nahen oder ferneren Gegend irgendwelche Habseligkeiten gegen Lebensmittel zu tauschen. –Hamstern—

Die Waggons der Züge waren brechend voll. Wie die Trauben hingen, ja klammerten sich die Menschen an den Haltegriffen und standen auf den Trittbrettern. Es wurde jeder sich bietende und unmögliche, gefährliche Platz eingenommen. Nicht selten passierten dabei auch Unglücke.

Schlimm war es, während des Hamsterns von einer Streife erwischt zu werden. Das mühsam geschleppte Eimerchen Kartoffeln, für das man geopfert hatte, was man entbehren konnte, musste auf der Straße entleert werden und wurde vernichtet.
Die Besatzer selbst hatten ja keinen Hunger.

Es gäbe auch von mir noch Einiges zu schreiben, doch ich denke, es langt erst einmal.

Was mich wundert, dass sich bisher so wenige hier beteiligt haben.

Vielleicht musste ja erst mal ein Anfang gemacht werden?

Viele Grüße
~uki~
nerida
nerida
Mitglied

Re: Wie war die Zeit nach dem Krieg?
geschrieben von nerida
als Antwort auf John-Wilmore vom 07.02.2015, 18:38:42

Es gibt noch hunderte Fragen, die ich hätte, weil ich gerne mehr wissen möchte, wie lief der Alltag nach dem Krieg ab und wie normalisierte sich das Leben wieder?
Vielen Dank für die Antworten; bin schon mal gespannt auf Eure Erlebnisse.

Freundliche Grüsse
John Wilmore


was hier auch eine gute und zu empfehlende Fundgrube für Deine Frage wäre, das ist der Sender "Phönix".

Es kommt ja auch darauf an, wo man damals lebte.
Da gab es die Ausgebombten in den Städten, die Flüchtlinge, die oft in den Elendsbaracken der Fremdarbeiter und Kriegsgefangenen untergebracht wurden.

Die Landbevölkerung, denen es auch nur vordergründig besser ging, da die Abgaben und Auflagen sehr hoch waren. Dazu mussten in nicht zerstörten Häusern und Wohnungen Flüchtlinge und Ausgebombte untergebracht werden.

Ich selbst lebte bis zur Einschulung bei meinen Großeltern auf dem Land. Dann kam ich zu den Eltern in die total zerbombte Stadt.
Wir lebten damals in einer hochherrschaftlichen Etagenwohnung mit Stuckdecken, feinste Schnitzereien an den Türen und Parkettböden. Die Küche, Sanitätsräume waren feinster Machart. In dem 'Badezimmer lebte damals meine Großmutter -ein schmales Bett und ein Spind fand gerade mal Platz. Der Rest der Familie -Vater,Mutter und zwei Kinder bewohnte ein großes Zimmer in dem sich alles abspielte. Den Rest der Wohnung teilten sich noch fünf andere Familien.
Der lange Schulweg führte mich durch eine Ruinenlandschaft in der fast kein Haus mehr stand und von meiner Schule stand nur noch ein Teil des Gebäudes, der Rest war 'Ruine.
Seltsamerweise kann ich behaupten, dass ich eine schöne Kindheit hatte. Meine Eltern hatten einen großen Freundeskreis und es war immer was los bei uns. Die Abende verbrachte ich auf dem Fußboden sitzend und an die Beine meiner Mutter geschmiegt und lauschte all den Geschichten, die von Flucht und Bombennächten handelte.
Ich lernte damals schon Kriege und Unmenschlichkeit zu hassen - es hat mich geprägt.

Ganz sicher wird man hier die Nachkriegszeit auch unterschiedlich erfahren haben, ob man entweder in West-oder Ostdeutschland lebte.

Ich hatte das Glück -zumindest empfinde ich das so - dass ich im Westen aufwachsen durfte und jetzt in einem Land lebe, das gesellschaftlich, sozial mich stolz machen kann. Das mir auch die Freiheit gab, selbst und vor allem auch meine Kinder weltweit Freunde zu finden.

Das dürfen wir nicht wieder verpielen - Gott steh uns bei.
Edita
Edita
Mitglied

Re: Wie war die Zeit nach dem Krieg?
geschrieben von Edita
als Antwort auf uki vom 10.02.2015, 20:26:21

Was mich wundert, dass sich bisher so wenige hier beteiligt haben.
~uki~
geschrieben von uki


.........mich wundert noch, daß John Wilmore seit seinem EB nie wieder hier reingeschaut hat.........

Direkte Erinnerungen, die ausschließlich mit dem Krieg zusammenhingen, habe ich nicht, im Gegenteil, wir Kinder ( 44-46-und 47 geb.) haben lange Zeit überhaupt nicht gewußt, was Krieg ist, und daß er mal gerade vorbei war, die momentanen Bedingungen waren eben so, und fertig, Hauptsache war, daß wir Vater und Mutter hatten!

Jetzt erst, vor ein paar Wochen habe ich einen Artikel gefunden, der mich immer noch fassungslos macht, und.......er betrifft nur die Frauen und Mädchen, und der Krieg war längst vorbei........

Nach Kriegsende - Vergewaltigt-Verschwiegen-Verdrängt!

Edita

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carlos1
carlos1
Mitglied

Re: Wie war die Zeit nach dem Krieg?
geschrieben von carlos1
als Antwort auf Edita vom 11.02.2015, 08:14:35
Uki, es wird nicht viele geben, die aus eigenem Erleben aus jener Zeit berichten können. Deshalb wohl weniger Beiträge. Es geht um die Nachkriegszeit. Wie weit reicht eigentlich die Nachkriegszeit?

Ich erinnere mich, dass im Winter 1945 immer Kerzen am Abend angezündet wurden, ich vermisste den Strom nicht. Wann es wieder Strom gab, weiß ich nicht genau. Später nach einem Umzug, lebten wir in einer EG-Wohnung, in der aus einem Raum, ein Kinderzimmer abgeteilt worden war. Daneben war ein kleine Küche. Der Herd wurde mit Holz beheizt. Wir erhielten von freundlichen Nachbarn zunächst Brennholz und heizten damit die kleine Wohnung. Im Sommer hieß es Brennholz für den Winter organisieren. Lose im Wald wurden zugeteilt. Im Wald gab es die Stumpen gefällter Bäume, wo es erlaubt war (Lose wurden zugeteilt), die Wurzeln auszugraben. Ein Leiterwagen musste ausgeliehen werden. Ich weiß noch, dass der Weg in den Wald sehr weit war. Er war nach heutigen Begriffen gefährlich, wei s z. T. steil bergab ging und wir alle den beladenen schweren Wagen bremsen mussten. Es war auch mühselig mit Pickel und Spaten die Wurzeln freizulegen und dann zu zersägen. Aber das Wurzelholz war sehr gut. Kohlen gab es erst später. Ich eignete mir auch große Fertigkeiten im Holzhacken an. Das hatte ich bei einem Mann in der Nachbarschaft gesehen, der elegant mit dem scharfen Beil das Holz spaltete. Eine wichtige Anschaffung erfolgte 1947 oder 1948, als uns ein Schreiner einen tollen Handwagen mit großer Ladefläche baute mit eingebauter Handbremse. Die schweren Holzladungen konnten so elegant durch Bedienung einer Kurbel abgebremst werden.

Kaninchenhaltung war verbreitet. Ich hatte wunderbare Tiere. Es war schlimm für mich, wenn ein Hase oder ein Huhn geschlachtet werden sollte. Später kamen noch ein paar Gänse hinzu. Die Gänse beeindruckten mich übrigens sehr, wegen ihrer Intelligenz. Bessere Wachhunde konnte ich mir nicht vorstellen. Die US-Armee, erfuhr ich Jahrzehnte später, verwendete viele Jahre später in Mutlangen, nicht weit entfernt, für ihren Pershing-Raketenstandort, Gänse als Wachhunde an der Drahteinzäunung. Leider landeten diese wunderbaren sensiblen Tiere bei uns auch im Kochtopf.

Mein Vater baute auch einen großen Stall, worin mehrere Hasen untergebracht wurden. Später kam ein Hühnerstall hinzu. Wir hatten bald so viele Eier, dass wir sie kaum verbrauchen konnten. So etwas war natürlich in der Großstadt nicht möglich. Im Bau von Ställen gewannen wir immer mehr Erfahrung; der letzte Hühnerstall war sogar doppelwandig konstruiert, der Hohlraum in den Seitenwänden und bei Dach und Bodenplatten mit Hobelspänen als Dämmmaterial ausgefüllt, das mühsam eingefüllt werden musste.

Wenn ich an das Jahr 1945 zurückdenke, so ist es nach dem zu beurteilen, was in den Geschichtsbüchern und zeitgenössischen berichten geschrieben wird, ein trauriges Jahr. Stunde Null, sagen manche, obwohl eine Stunde Null niemals real sein konnte. Was haben kleine Jungen mit der Zeit angefangen, der Schule-losen Zeit. Natürlich gab es eine Art Bandenbildung. Wir bauten eine Hütte aus alten Brettern und Baumzweigen, verkrochen uns darin. Wir rauchten, aber keinen Tabak, probierten einfach alle möglichen Blätter aus. Das Zeug stank fürchterlich, aber wir fühlten uns als Erwachsene. Das war eher harmlos.

Andere Dinge treiben mir heute noch den kalten Angstschweiß auf die Stirn. Einige Kilometer entfernt, lag im Wald ein riesiges Munitionslager der Wehrmacht, völlig unbewacht. Von Russen war dort nichts zu sehen. Jeder konnte sich bedienen. Wir Knirpse waren am Werk. Wir spazierten dort frei umher. Artilleriemunition, Granatwerfermunition, alle Größen in großen Stapeln. Wir organisierten Gewehrmunition in MG-Kästen, schafften sie nach Hause, spannten die Geschosse in den Schraubstock, entfernten, die Kugel und sammelten die Treibladungen für ein Feuerwerk. War toll. Wir legten auch MG-Gurte ins Feuer und warteten in Deckung , dass es knallen würde. Völlig verrückt. Die explodierenden Zündplättchen der Patronen ohne Treibladung dagegen knallten wie Sylvesterfeuerwerk.

In der Nähe stand auch ein verlassener intakter Tiger-Panzer in einem Getreidefeld, auf dem wir gern herumturnten. Der Panzer war noch voll munitioniert, die 8,8cm Granaten standen rings im Turm aufgereiht an den Wänden. In der Nähe lagen Tellerminen, deren Zünder herausgeschraubt waren. Die Erwachsenen ahnten von dem Treiben nichts. Wir waren natürlich auch anderweitig unterwegs, Nahrung organisieren. Eines Tages tauchte bei unserem Panzer aus dem Getreidefeld plötzlich ein junger Russe auf und rief Hände hoch. Aber er wollte nichts von uns, sondern wollte nur ein paar Kirschen von den Bäumen ernten. Er sprach gut deutsch. Mach dich nuff, sagte er zu unserem Leithammel.

Die Zeit habe ich auch noch in Erinnerung, weil ich sorgfältig einen alten Atlas studierte und Karten malte, die Städte und Flüsse eintrug, die Gebirge einzeichnete. Die STraße von Hormuz, Ulan Bator in der Mongolei waren mir bekannt. Rosario in Argentinien etc ... Den Llano Estacado des Karl May suchte ich lange vergebens. So lernte ich die Welt kennen. Karl Mays Schmöker, soweit greifbar, waren ein Erlebnis. Schloss Rodriganda mit Dr. Sternau imponierten mir gewaltig. Vor allem hatte es mir eine Weltgeschichte angetan, die im Regal des Hausherrn stand. Dieser war noch in amerikanischer Gefangenschaft. Die Perserkriege der Athener, Thebens Epaminondas, Alexander der Große, Friedrich II. von Preußen und viele andere lernte ich in diesem Werk kennen. Vor allem aber beeindruckte mich Robinson Crusoe, den ich mehrfach las. Es war eine Zeit, in der es keine Väter gab. Sie waren in Gefangenschaft. Die Mütter waren überfordert mit uns Kindern und Halbwüchsigen, sie waren weitgehend mit sich selbst beschäftigt. Viele Frauen waren von den Russen vergewaltigt worden. Mit 11 Jahren wusste ich nicht, was es bedeutete, als ein Mädchen mir sagte, die Nachbarin sei vergewaltigt worden. Null Ahnung und naiv. Meine Mutter deutete viele Jahre später, dass ihr dies Schicksal erspart geblieben war, weil sie gut russisch sprach.

Zur Schule fuhr ich dann ins kaputte Dresden. Täglich mit dem Bus. Du meine Güte. Um Raum zu schaffen, hatte man die Hälfte der Sitze entfernt, damit es mehr Stehplätze gab. Ich stellte mich immer gleich an den Ausgang, um die Straße zu beobachten. Die Fahrt dauerte ewig, weil der Bus mit Holzgas betrieben wurde. Kein Benzin oder Diesel, sondern Holzgas, das in einem überdimensionierten Kessel durch schwelendes Holz erzeugt wurde. Bei jeder Steigung ging es quälend langsam, im Schritttempo. Manchmal blieb der Bus auch stehen. Wir stiegen aus und schoben. Natürlich war der Bus sehr voll. Aber er wäre auch ohne volle Belegung langsam gewesen. 1946 wurde es dann besser, als Busse auch mit Diesel betrieben wurden.

Edita, du sprichst das dunkle Kapitel der Gewalt gegen Frauen im Krieg an. Die Großmutter meiner Frau war Hebamme in Stuttgart. Zu ihr kamen nach dem Einmarsch der Alliierten (Franzosen) viele Frauen mit ihren Unterleibsverletzungen. Ich erspare mir Details ihrer Schilderungen. Sie musste Blutungen stillen. Vergewaltigungen waren auch bei der Wehrmacht nicht unbekannt.

Das Bild der Frau, die durch das zerstörte Dresden geht, erinnert mich an die Angriffe vom 13./!4. Februar 1945. Wenige Tage vor den Bombenangriffen lagen wir tagelang in den Kellern des Dresdner Hauptbahnhofs, meine Mutter, Bruder und der Großvater. Wenige Tage vor dem Angriff fand meine Mutter ein Zimmer im Außenbereich der Stadt. Die Stadt war zum Zeitpunkt der Angriffe mit Flüchtlingen aus dem Ostgebieten überfüllt. Eine Woche nach dem Angriff lagen die Straßen voll mit Bombensplittern und Blindgängern, Überresten von Stabbrandbomben, Phosphorbomben. Man musste aufpassen, wo man den Fuß hinsetzte. Das Haus, das wir suchten, war nicht mehr zu sehen. Nur ein großer Trichter im Boden, ringsum Ziegelhaufen. Keine Überlebende.

Viele Grüße
c
Edita
Edita
Mitglied

Re: Wie war die Zeit nach dem Krieg?
geschrieben von Edita
als Antwort auf carlos1 vom 11.02.2015, 11:07:41


Edita, du sprichst das dunkle Kapitel der Gewalt gegen Frauen im Krieg an. Die Großmutter meiner Frau war Hebamme in Stuttgart. Zu ihr kamen nach dem Einmarsch der Alliierten (Franzosen) viele Frauen mit ihren Unterleibsverletzungen. Ich erspare mir Details ihrer Schilderungen. Sie musste Blutungen stillen. Vergewaltigungen waren auch bei der Wehrmacht nicht unbekannt.
Viele Grüße
c


Carlos, daß das in Kriegen eine " beliebte " Art von Folter und Rächertum gegenüber den verfeindeten Gegnern ist, das ist schon klar und auch hinlänglich bekannt, aber was mich so schockiert ist, daß das nach dem Krieg so weiterging, und dann auch noch vertuscht wurde, das finde ich so entsetzlich!

Edita
carlos1
carlos1
Mitglied

Re: Wie war die Zeit nach dem Krieg?
geschrieben von carlos1
als Antwort auf Edita vom 11.02.2015, 11:17:57
" .... was mich so schockiert ist, daß das nach dem Krieg so weiterging, und dann auch noch vertuscht wurde, das finde ich so entsetzlich!" edita


Edita, wann ist "nach dem Krieg"? Der krieg war mit dem Waffenstillstand nicht beendet. Die bedingungslose Kaptitulation am 8.5.1045 bedeutete, dass alle Deutschen auf Gnade und Verderb den Siegern ausgeliefert waren. Vereinfacht gesagt: Sie waren vogelfrei. Die Besatzungszeit begann. Ein Leben zählte nicht viel.

Bei den US-Streitkräften herrschte ein strenges Fraternisierungsverbot. Waffenstillstand heißt, dass die Waffen schweigen, nicht dass der Krieg beendet ist.

Die Besaatzungszeit endete in der Bundesrepublik 1955 mit dem Deutschlandvertrag. 1952 wurde einseitig von den USA der Kriegszustand für beendet erklärt. Erst durch den 2 + 4 Vertrag von 1990 erhielt das geeinte Deutschland eine Art Ersatzfriedensvertrag.

Ich fragte deshalb in meinem Beitrsg, wann die nachkriegszeit beginnt.

Das ändert nichts an der Berechtigung deiner Empörung.

Das Phänomen Gewalt gegen Frauen ist mit anderen Kriegen auch verbunden.

Viele Grüße
c.
justus39
justus39
Mitglied

Re: Wie war die Zeit nach dem Krieg?
geschrieben von justus39
Zwar bin ich nicht Wilmore,
aber ich danke allen, die sich die Mühe machten so ausführlich und realistisch die Situation nach diesem furchtbaren Krieg zu beschreiben. Ich habe alle Eure Beiträge gelesen, und wenn sich schon der Eröffner dieses Threads nicht mehr dafür interessiert, in mir haben sie viele Erinnerungen und Gefühle geweckt. Es lohnt sich darüber nachzudenken, wie erleichtert wir trotz aller Not und Entbehrungen waren, dass dieser Krieg endlich sein Ende gefunden hatte.
Man konnte hoffen, dass Vater oder Bruder zurückkehrten, und war froh, dass man selbst noch am Leben war.
Daran muss ich zurückdenken, wenn sich heute Mitmenschen beklagen, wie schlecht es ihnen geht.

justus

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