Eigene Geschichten Die Notbremse

schorsch
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Die Notbremse
geschrieben von schorsch

Die Notbremse


Eigentlich hatte ich mir den Tag ganz anders vorgestellt. Endlich hatte ich einen Verleger gefunden, der mein Manuskript nicht monatelang ungelesen in irgendeiner Ecke seines Büros aufgestapelt hatte, um es dann mit einer nichtssagenden Notiz an mich zurück zu senden. Nein, schon nach wenigen Wochen war ein Anruf gekommen, man sei interessiert und der Verleger persönlich wolle sich mit mir im Bahnhofbuffet Bern treffen.
Das Gespräch am Ort hatte sich auch zuerst ganz gut angelassen. Der Verleger machte mir ein Kompliment, er habe selten ein Manuskript gelesen, das mit so viel Beobachtungsgabe geschrieben worden sei. Dann aber kamen so viele Wenns und Abers, dass am Schluss klar war, das ganze Buch musste total umgeschrieben werden.
Ich versprach also, mich unverzüglich an die Arbeit zu machen und dann die korrigierte Version dem Verleger zu schicken. Dann war es Zeit, sich zu verabschieden. Da der Verleger den Wein ausgelesen und bestellt hatte, nahm ich eigentlich an, er werde auch die Zeche begleichen, täuschte mich jedoch, denn der Verleger stand auf und verabschiedete sich freundlich. So blieb denn die Rechnung an mir hängen.
Ich erwischte eben noch den Zug, der mich zurück nach Olten bringen sollte. Leider waren alle Nichtraucherabteile schon besetzt und ich konnte mir gerade noch in ein Coupé quetschen, in dem sich drei schwarzgelederte Typen breitgemacht hatten. Den Tätowierungen und der ganzen Bekleidung nach zu schliessen, musste es sich bei den dreien um die Spezies handeln, die man im Sprachgebrauch gemeinhin als Töff-Rocker bezeichnet. Im Verlaufe des Gespräches, das die Burschen ganz ungeniert und in der grösstmöglichen Lautstärke führten, konnte ich mir dann allerdings die näheren Umstände der Bahnfahrt des unangenehmen Trios zusammenreimen. Sie waren tags zuvor nämlich mit ihren schweren Motorrädern auf der Autobahn mit fast zweihundert Sachen in eine Polizeikontrolle mit Radar gerast und dann buchstäblich aus dem Verkehr gezogen worden. Und weil sie - mit einem ansehnlichen Alkoholpegel im Blasapparat - anschliessend randaliert hatten, liess man die drei unbequemen Gesellen in einer Ausnüchterungszelle übernachten und die Motorräder wurden ihnen kurzerhand konfisziert. So war ihre üble Laune also noch einigermassen verständlich, wenn auch überhaupt nicht entschuldbar war, dass sie diese nun an den unschuldigen Fahrgästen abzureagieren versuchten.
Ich machte mich also möglichst dünn und nahm mir vor, die drei Typen tunlichst nicht zur Kenntnis zu nehmen. Dies aber war ein frommer Wunsch, denn die drei Typen machten einen solchen Radau und pöbelten die Passagiere an, dass man sich fast nicht raushalten konnte.
Als niemand auf die Anpöbelungen reagierte, fanden die Rocker unter sich selber ein Opfer. Der Kräftigste von ihnen schien zwar den anderen rein körperlich überlegen, aber im Anpöbeln hatte er es noch nicht zur Meisterschaft gebracht. Wenn er auch versuchte, ihre Sprüche zu parieren, erntete er meist nur ein höhnisches Gelächter. So sass er halt die meiste Zeit still und mit hochrotem Kopf in seiner Ecke und liess die Föppeleien in sein Schicksal ergeben über sich ergehen, wie ein Naturereignis.
Als der Schaffner die Billette kontrollierte, blieb er bei mir stehen und betrachtete mich kopfschüttelnd. Dann meinte er feixend: "Nach Olten wollen Sie? Da können Sie ja winken, wenn wir vorbeifahren!" Und auf die nur mit einer nicht verstehenden Miene geäusserte Frage von mir antwortete er: "Der Zug fährt durch bis Zürich. Haben Sie das nicht gesehen auf der Anzeigetafel im Bahnhof Bern?"
Dann wollte der Schaffner noch die Differenz des Fahrpreises von Olten nach Zürich einziehen. Ich aber, richtig in Wut geraten, weigerte mich. Schliesslich hatte ich auf dem Perron in Bern noch eigens den Mann mit der Kelle gefragt, ob es sich bei dem wartenden Zug um denjenigen nach Olten handle, was dieser mit einem energischen Kopfnicken bejaht hatte. Dies berichtete ich dem Schaffner, welcher aber ziemlich grob antwortete, natürlich fahre der Zug nach Olten – aber halten tue er eben nicht! Dann befahl er mir, in Zürich mit ihm auf das Hauptbüro zu kommen.
Natürlich hatten die Rocker das Geplänkel mitverfolgt und machten sich nun einen Spass daraus, mich in den schillerndsten Farben zu schildern, was ich in Zürich zu erwarten habe. Ich gab keine Antwort und tat, als höre ich nichts. Das brachte den Anführer der Gruppe derart in Rage, dass er mich am Kragen packte und mich anschrie, ich solle gefälligst antworten, wenn er mit mir rede. Ich drückte ihm die Hand weg und fragte ruhig: "Sie lesen wohl keine Sportzeitung? Sonst würden sie mich nicht so unvorsichtig anfassen. Haben Sie mein Foto noch nie im `Sport` gesehen?"
Der Rocker war einen Augenblick verdutzt. Dann schrie er: "Mit einem solchen Zwerg nimmt es dann noch jeder von uns auf!"
Ich nickte mit dem Kopf und fragte grinsend: "Na, welcher von euch ist denn der Stärkste? Der soll doch gleich mit mir hinaus kommen. Wir wollen doch hier drin kein Aufsehen erregen." Dann deutete ich auf den Burschen, der von den anderen eben noch gehänselt worden war. "Fangen wir doch mal mit dem da an." Ohne sich darum zu kümmern, ob der Koloss mir folge, begab ich mich in das Aussenabteil.
Nach einer Weile folgte tatsächlich der Muskulöse. Ich vergewisserte sich, dass die anderen drin geblieben waren. Dann klopfte ich dem Riesenbaby auf die Schulter und sagte: "Hör mal mein Junge; ich habe überhaupt keine Chance gegen dich. Der Grund, dass ich dich herausgelockt habe ist ganz einfach der, dass ich nicht mehr mit ansehen konnte, wie du dich von den beiden Kollegen so hänseln lässt. Bist du bereit, den beiden einen Streich zu spielen?"
Der Bursche schaute mich ungläubig an. Er konnte es wohl nicht glauben, dass sich da ein Wildfremder für ihn einsetzte. Dann aber ging ein gutmütiges Grinsen über sein Gesicht und er fragte, was denn seine Rolle bei diesem Spiel sein würde. Ich nahm zwanzig Franken aus dem Geldbeutel und sagte: "Geh` mal durch die nächsten Wagen und schau nach, ob du den Wagen mit den Getränken findest. Bring uns allen etwas zu trinken. Den Rest des Spieles kannst du ruhig mir überlassen."
Der Bursche grinste wieder und verschwand in der angegebenen Richtung. Ich aber ging ruhig in den Wagen zurück und rief: "Der Nächste bitte."
Die beiden Rocker glotzten ungläubig. Dann stotterte der Anführer: "Wo ist Fredi?"
"Fredi? Ja, der wird jetzt wohl irgendwo auf dem Bahndamm herumkriechen", antwortete ich. "Falls er überhaupt noch kriechen kann", schränkte ich zweifelnd ein.
Die beiden Rocker schnellten auf, drängten mich zur Seite und liefen in den Vorraum. Dann zog einer von ihnen geistesgegenwärtig die Notbremse. Höchste Zeit, denn der Zug war eben im Begriff im Bahnhof Olten einzufahren. Ich erwischte gerade noch den Bus nach Hause, wo meine Frau mit dem Nachtessen auf mich wartete.
Karl
Karl
Administrator

Re: Die Notbremse
geschrieben von Karl
als Antwort auf schorsch vom 28.09.2010, 12:50:40
Das war ein guter Einstand, schorsch, für diesen Thread! Aber das war Jägerlatein - oder? Karl
olga64
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Re: Die Notbremse
geschrieben von olga64
als Antwort auf schorsch vom 28.09.2010, 12:50:40
Ist das schon ein langer Auszug aus einem der Schorsch-Bücher? Na, dann wollen wir mal hoffen, dass es ein Bestseller wird - oder hoffen wir doch lieber nicht? Olga

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schorsch
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Re: Die Notbremse
geschrieben von schorsch
als Antwort auf Karl vom 28.09.2010, 16:29:19
Kein Jägerlatein. Aber selber (bitter) Erlebtes so geschrieben, wie es auch noch hätte sein können ()

Konkret: Das mit dem Zug (falschen erwischt wegen unaufmerksamem Schaffner) war die eine Sache. Ich fuhr aber damals durch bis Zürich, stieg dann auf jener Seite aus, wo das Gepäck be- und entladen wird (weil der Schaffner mich mit aufs Büro nehmen wollte - weil ich nicht einsah, dass ich nachbezahlen sollte, wenn der Uniformierte mir eine falsche Auskunft gibt).

Das mit den Motorradrockern ist auch passiert. Allerdings auf einer anderen Zugfahrt. Und den Mut, den ich in der Geschichte mir andichtete, hätte ich zwar gerne gehabt und in Gedanken damals auch durchgespielt. Ich unterliess es aber wohlweislich.

Also nichts mit Notbremse. An diese dachte ich nur, als wir Olten passierten!

Aber was wäre das Leben denn ohne Fantasien?
schorsch
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Re: Die Notbremse
geschrieben von schorsch
als Antwort auf olga64 vom 28.09.2010, 16:31:54
Ist das schon ein langer Auszug aus einem der Schorsch-Bücher? Na, dann wollen wir mal hoffen, dass es ein Bestseller wird - oder hoffen wir doch lieber nicht? Olga


Doch nicht etwa ein ganz kleines Bisschen neidisch, liebe Olga?

Nein, neue Bücher wirds wohl keine mehr geben vom Schorsch. Da hat dieser allzu viele böse Erinnerungen daran. Grübel: Allerdings gäbeten dies ja tatsächlich wieder eine Buch.....
olga64
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Re: Die Notbremse
geschrieben von olga64
als Antwort auf schorsch vom 28.09.2010, 16:43:41
Aber nein - Schorsch - ich bin nicht neidisch, auch nicht ein bisschen. Im Gegensatz zu unserer Zeit, in der jeder Mensch sich all das Wichtigste sieht, denke ich schon realistisch, dass eine Auflage für mein Buch über mein Leben so klein sein müsste,dass es nicht mehr den Produktionsanforderungen genügen kann. Da ich ausserdem den Satz "alles zu seiner Zeit" beherzige, bin ich viel zu neugierig auf das Neue, was mir begegnet und stochere deshalb nur ungern und selten in meiner persönlichen Vergangenheit rum. Und so möchte ich dies auch weiterhalten. Olga

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youngster
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Re: Die Notbremse
geschrieben von youngster
als Antwort auf schorsch vom 28.09.2010, 12:50:40
Hallo schorsch,

diese kleine Geschichte fand ich toll und spannend geschrieben. Du solltest unbedingt weiter Bücher schreiben. Aber welche Bücher hast du denn schon verfasst und wo kann ich mich darüber informieren?

Das Beste was ich fand, dass du eigen erlebtes zu einer solch tollen Storry gemixt hast. Deine künstlerischen Freiheiten seien dir dabei zumindest von mir verziehen.

Eigentlich kann ich nur sagen schreibe weiter mal weider eine schöne Geschichte hier im Forum.

Gruß youngster
schorsch
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Re: Die Notbremse
geschrieben von schorsch
als Antwort auf youngster vom 28.09.2010, 18:21:40
In meiner hiesigen HP hatte ich im Blog mal alle 3 Romane von mir eingestellt. Nach einer langen Weile (Lange Weile macht langweilig!) nahm ich sie wieder weg, weil ich denke, man sollte Karls Speicher nicht mit Dingen voll stopfen, die ohnehin niemand liest. Im Moment ist noch eine Kurzgeschichte dort zu lesen: "Schutzengel".

Im alten Forum hatte ich noch unter der Rubrik "Autoren" einige Geschichten gespeichert. Diese finde ich aber nicht mehr.

Macht`s nichts; schadet`s nichts!

P.S. für die, die es noch nicht wissen könnten: Ich habe 3 Romane geschrieben; 2 sind als Bücher erschienen (vergriffen). Wer gerne googelt, hier die Stichworte: "Der Armeleutebub", "Herbstlaub", "Noch weit bis Eden".

Dazu habe ich noch ein paar Handvoll Kurzgeschichten und einige hundert Gedichte geschrieben (unveröffentlicht).
indeed
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Re: Die Notbremse
geschrieben von indeed
als Antwort auf schorsch vom 28.09.2010, 12:50:40
Mir gefällt diese Geschichte. Ist mit viel Phantasie unterhaltend erzählt.
LG indeed
indeed
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Re: Die Notbremse
geschrieben von indeed
als Antwort auf indeed vom 30.09.2010, 07:41:22
Ich habe erst kommentiert bevor ich die Beiträge hier gelesen habe. Ich habe nur die Geschichte vor ca gut einem Jahr gelesen, die da heisst: Armeleutebub, Daran kann ich mich gut erinnern. Darum habe ich eine Bitte an dich: Stelle doch noch einmal nach und nach deine Geschichten hier wieder ein. Es sind hier so viele neue User, die sie auch noch nicht kennen. Ich würde mich jedenfalls sehr freuen.
Mit lieben Gruß
indeed

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