Gruppenbeitraege "Erinnerungen an die Wendezeit"

Karl
Karl
Administrator

Hallo Senhora,
geschrieben von Karl
herzlichen Dank für Deinen Beitrag. Ich kann mir vorstellen, wie spannend und anspannend das damals gewesen sein muss. Die Temperatur steigt eher langsam an und wenn der Deckel wegfliegt, ist man überrascht. Wenn Wasser erhitzt wird, dann spürt man zwar schon, das sich etwas ändert, kleine Blasen steigen auf, aber wenn die Siedetemperatur erreicht ist, geht es schlagartig. Auch politische Entwicklungen haben ihren Schwellenwert, ab dem sich dann vieles schlagartig verändert.

Es wäre spannend, wenn hier viele ihre Eindrücke aus der Wendezeit schildern würden.

Karl
lotte2
lotte2
Mitglied

der 13. August 1961 .... in Wien erlebt
geschrieben von lotte2
Es war Sonntag... ich war in der Messe in Wien /Jedlersdorf ... schwanger ... es war dösig heiß... auf einmal aufgeregtes Atmen ... eine Hand, die meines Mannes, griff nach meiner Schulter ... er war doch daheim geblieben - für das Rigorosum zu lernen ... ich hörte " Du, sie haben eine Mauer gebaut ...." in mir war die Übersetzung: Du kannst Deine Eltern und Geschwister nie mehr sehen ..

Und dann:das stundenlange Sitzen vor dem Radio
keine Telefonverbundung (meine "Leute daheim mussten zur Nachbarin gehen ... , wir zur Telefonzelle )

am 14. August hatte ich eine Fehlgeburt....


Meine Eltern und Geschwister sah ich auch wieder ( mit "Eintrittsgeld") ... aber meine Eltern durfte mich erst besuchen, als sie Rentner waren und meine Geschwister zu unserem 25.Hochzeitstag ... und dann noch, als ich 50 Jahre alt wurde ...

senhora
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Kurios
geschrieben von senhora
.......In der BILD war auf der Titelseite zu lesen „Die Menschen im Chemiedreieck sind kleinwüchsiger und haben kleinere Gehirne“.
G. fragte mich ganz entgeistert,“ glauben die Wessis das etwa?“
Ich: „Ich fürchte ja.“......

Senhora

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senhora
senhora
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Phänomen de Talleyrand
geschrieben von senhora

Bildquelle:Wikipedia

Als die Turbulenzen während der Wende etwas abebbten und mein Leben leicht Kurs nahm, wenn auch sehr unsicher, begann ich meine Mitmenschen wieder etwas deutlicher wahrzunehmen. Es war die Zeit, in der ich wieder in der Lage war zu reflektieren und bemerkte, welch wundersame Metamorphose sich in meinem Umfeld vollzogen hatten.
Neben vielen anderen, fällt mir eine Person dabei immer wieder besonders ein, die ich zu den Prototypen eines Wendehalses zähle. Ich vergleiche ihn immer mit dem Franzosen de Talleyrand, dem im 19. Jahrhundert das Meisterstück gelang, trotz häufig wechselnden Staatsformen immer Oberwasser zu behalten und stets lukrative Ämter zu bekleiden.
Besagte Person war ein strammer Parteigenosse und glühender Verfechter der staatlich verordneten Doktrin, der bis zum letzten Tag jede Kritik vehement und scharf verurteilte, Parteiaustritte geißelte und die Ungetreuen heftig verbal angriff.
Dann stand fest, die Situation hat sich grundlegend und unumkehrbar geändert, und über Nacht wurde aus dem standfesten und unbeugsamen Parteisoldaten ein “Verfolgter des Stalinismus”, weil sein Vater nach dem Krieg von den Russen abgeholt wurde und nie zurückkam.
Bald war er im Vorstand in einer Bank und behielt, im Gegensatz zu mir und vielen Anderen, auch nach der Privatisierung durch eine westdeutsche Firma seine herausragende Position in dem Betrieb, und er behielt sie bis zur Rente.
Die ideologische Nützlichkeit wurde durch ökonomische Nützlichkeit ersetzt und schon schwammen viele von der alten Garde wie Fettaugen wieder oben.
Ich war beeindruckt, wie schnell sich mancher Parteikader zum Wirtschaftsführer wandelte und wie diese all die nun opportunen Parolen und Thesen zur Hand hatten, die sie ebenso häufig benutzten wie die alten.

Nicht die Altkader waren die Schmuddelkinder in dem geänderten System, sondern die skeptischen, nachdenklichen Mahner, die auch Schatten sahen, wo es für eine Vielzahl nur Licht gab.
Möglich, dass meine Erwartungen an Demokratie und Freiheit romantisch verklärt waren, von Idealvorstellungen ausgingen, aber vermisst habe ich damals Konsequenz, Ehrlichkeit, Fairness und Lauterkeit.

Senhora
Vorschau
Vorschau
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Nicht alles in der DDR war schlecht, wie es mitunter berichtet wird ...
geschrieben von Vorschau
Ich habe immer in der DDR gelebt, war vor der Wende auch nicht in Westdeutschland zu Besuch.
Habe 1959 geheiratet, wir bekamen 1961 eine 2 1/2-Zimmer-Neubauwohnung, allerdings durch die AWG (Arbeiterwohnungsgenossenschaft), die wir in Raten abbezahlen mußten. (Insgesamt 2.100 M der DDR). Mein Mann und ich hatten beide einen Beruf erlernt. Wir hatten unser gutes Auskommen.Waren nicht in der Partei. Kindersachen wurden vom Staat gestützt, ein Brot kostete -,51 M, eine Straßenbahnfahrt -,20 M. Gewiß, es gab selten Südfrüchte, wir konnten nicht reisen wohin wir wollten, aber es gab sehr wenig Kriminalität, keine Arbeitslosigkeit. Man konnte sich noch abends auf die Straße trauen. Es gab auch keine Bettler.
Als 1963 mein Cousin aus Westdeutschland zu Besuch kam, hat er gestaunt, wie gut wir leben. Er meinte, dass sie nicht jeden Tag Butter essen könnten, dass wir besser eingerichtet wären als sie. Sie hatten allerdings ein Haus gebaut, das bei uns fast unmöglich war, weil es schlecht Material gab.

Nein, ich will die DDR nicht schön reden. Viele schlechte Dinge wurden hier schon aufgezeigt. Aber es gibt nicht wenige, die ihr Mäntelchen auch nach dem Wind gehängt haben. Sie haben in der DDR einen Beruf gelernt, studiert, und sind dann nach Westdeutschland gegangen. Lernen und Studieren waren umsonst. Allerdings wurden Arbeiterkinder bevorzugt beim Studium.

Schön, dass es inzwischen schon so viele Freundschaften zwischen Ost- und Westdeutschland gibt. Viele Wessis sind begeistert, wenn sie hier in Mecklenburg-Vorpommern Urlaub machen, wie schön unser Land ist.

Ich wünsche Euch allen eine schöne Woche.
Helga
senhora
senhora
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Die letzte Nachricht
geschrieben von senhora
Manchmal, wenn einer der heute so oft bewunderten, geehrten, geachteten, mutigen, freiheitsliebenden Menschen sein Heil in der Flucht gesucht hatte, bekamen die uneingeweihten und zurückgelassenen Angehörigen solche Post.
Und manchmal war es die letzte Nachricht.


Als ich fortging, war die Straße steil
kehr wieder um
red ihr aus um jeden Preis
was sie weiß

Als ich fortging, war der Asphalt heiß
kehr wieder um
nimm an ihrem Kummer teil
mach sie heil

Als ich fortging, warn die Arme leer
kehr wieder um
machs ihr leichter, einmal mehr
nicht so schwer

Als ich fortging, kam ein Wind so wach
warf mich nicht um
unter ihrem Tränendach
war ich schwach

Nichts ist von Dauer
was keiner recht will
auch die Trauer wird dann sein
schwach und klein

Text. Gisela Steineckert
(Veröffentlichung mit Genehmigung der Verfasserin)

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