Forum Politik und Gesellschaft Innenpolitik Bundestagswahl 2021 - aus der Sicht ganz besonderer Erstwähler

Innenpolitik Bundestagswahl 2021 - aus der Sicht ganz besonderer Erstwähler

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Bundestagswahl 2021 - aus der Sicht ganz besonderer Erstwähler
geschrieben von ehemaliges Mitglied

In diesem Jahr durften volljährige Mitbürger mit sog, geistiger Behinderung zum allerersten Mal wählen. So auch unsere Adoptivtochter, die mit Trisomie 21 geboren wurde und von ihrer Mutter zur Adoption freigegeben wurde. Heute ist sie eine erwachsene junge Frau, die sich erst vor kurzem verlobt hat, die berufstätig ist in einer betreuten Werkstatt und die sehr vielseitig interessiert ist. Als Eltern haben wir es sehr begrüßt, dass in den letzten 6 Wochen vor der Wahl in jeder Woche 2 Informationsveranstaltungen im Gemeinschaftszentrum der Werkstätten angeboten wurden, in denen über die Wahl und ihren Sinn und Zweck aufgeklärt wurde, viele Fragen von den Besuchern kamen, besonders an die Vertreter der verschiedenen Parteien und wo auch über die "Kandidaten-Shows" diskutiert wurde, die auf verschiedenen Sendern liefen. Die Wahlprogramme der Parteien wurden in leichter, verständlicher Sprache ausgegeben und schließlich wurde mit Musterwahlzetteln das Ausfüllen geübt. Wenn es uns möglich war, war einer von uns dabei - schon um zu kontrollieren, dass niemand  die Menschen dort zu manipulieren versucht, 
Unsere Tochter und ihr verlobten, die beiden leben jetzt gemeinsam, haben sich für Briefwahl entschieden, schon um in Ruhe alles "richtig"  zu machen. Die Umschläge haben beide persönlich am Rathaus dann eingesteckt. "Damit alles ankommt".
WAS sie gewählt hat - wir wissen es nicht. "Mama , das ist Waaaahlgeheimnis! Darf ,am nicht verraten!" - 
Muss sie uns auch nicht verraten, wir sind sehr stolz auf sie . AfD war es ganz sicher nicht - sie weiß sehr genau, was in der Vergangenheit mit Menschen wie ihr passiert ist und wer dafür verantwortlich war. Ich weiß nur, wie außerordentlich stolz sie ist, wählen zu dürfen. 


Ich zitiere aus einem Artikel in der TAZ 
Früher wurden Menschen mit sogenannten geistigen Behinderungen entmündigt, später gesetzlich betreut. Dass viele von ihnen von den Wahlen ausgeschlossen waren, folgte einem simplen Glaubenssatz: Wer kaum oder gar nicht in der Lage ist, für sich selbst zu sorgen, der sollte besser auch keine politische Stimme haben. Vor 12 Jahren wagten ein paar Menschen aus dem kleinen Ort War­bur­g in NRW ,  diesen alten Glaubenssatz in Frage zu stellen. 

Viele geistig Behinderte werden in allen Angelegenheiten dauerhaft gesetzlich betreut. Ein Gericht ordnet das an.  Das heißt, dass Betreffende nicht einmal vom Zahnarzt behandelt werden, wenn die gesetzliche Betreuerin nicht zustimmt. Sie öffnet seine Post, muss größeren Anschaffungen zustimmen usw.

Das ist in Sachen Selbstbestimmung schon Lichtjahre weiter als die bis 1992 übliche Entmündigung, die Menschen den eigenen Willen absprach. Die gesetzlichen Be­treue­rin­nen heute bestimmen nicht über die, die sie betreuen. Sie sollen deren Wünsche umsetzen.

Ob jemand dauerhaft voll betreut wird, hängt nicht allein von seinen kognitiven Fähigkeiten ab. Es gibt unterschiedliche Auslegungen bei den Betreuungsgerichten. 

Bis 2019 hatte die Anordnung einer solchen Betreuung noch andere Konsequenzen als nur die Entscheidungshoheit über den Zahnarztbesuch oder Umzug. Es folgte auch einer der schwerwiegendsten Eingriffe, den die demokratische Gesellschaft kennt: Wer dauerhaft in allen Angelegenheiten betreut wurde, war per Bundes- und Landesgesetzen vom Wahlrecht ausgeschlossen. Das haben viele Behinderte als absolute Ungerechtigkeit empfunden . Wie die Menschen aus dem kleinen Ort in NRW für das recht aller Behinderten in Deutschland gekämpft und was sie alles unternommen haben, kann gar nicht genug gewürdigt werden. 

Hier in diesem Artikel der TAZ kann man das alles noch einmal nachlesen

Für unsere Tochter und ihren Verlobten hat es sehr viel bedeutet , sie verfolgen die politischen Diskussionen aufmerksam und beim gemeinsamen Essen oder Kaffee trinken überrascht sie uns immer wieder mit ihren ganz eigenen Gedanken und Überlegungen zu den verschiedenen Themen. Ich würde sogar behaupten, dass gerade Menschen mit dem Down Syndrom eine bessere und ehrlichere Politik machen würden. Nunja, aber wenigstens dürfen sie endlich wählen. 

 

Der-Waldler
Der-Waldler
Mitglied

RE: Bundestagswahl 2021 - aus der Sicht ganz besonderer Erstwähler
geschrieben von Der-Waldler
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 19.10.2021, 10:42:05

Danke für diesen Beitrag, @Corgy.

Ich habe mich in den Wochen vor den Wahlen öfters mal gefragt, welche von meinen "Betreuten", die ich damals in dem Wohnheim in meiner Gruppe hatte, in der Lage gewesen wären, zu wählen. Und außer zu einem einzigen musste ich immer wieder sagen: Alle. Dieser eine war ein Mann mit schwerstem Autismus, der völlig in seiner eigenen Welt lebte, aus der er auch nicht herausfand, selbst mit Hilfe von Spezialisten, die ins Heim kamen. Aber alle anderen hätten wählen können, davon einige sogar ohne Vorbereitung. Ich erinnere mich an einen jungen Mann, der morgens als erstes die Tageszeitung zu sich ins Zimmer nahm, um "informiert zu sein".

Ich finde es toll, dass viele Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung nun wählen dürfen.

LG

DW

barbarakary
barbarakary
Mitglied

RE: Bundestagswahl 2021 - aus der Sicht ganz besonderer Erstwähler
geschrieben von barbarakary
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 19.10.2021, 10:42:05

Da kam mir gerade der Gedanke, dass diese betreuten Menschen, die sich über ihr Wahlrecht freuen, aufgeklärter sind über Politik als manch andere, die nur Stammtischparolen nachplappern oder sich überhaupt nicht informieren. Falls sie überhaupt zur Wahl gehen, nach welchen Kriterien entscheiden sie wohl?

LG barbarakary


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Mitglied_3fbaf89
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Mitglied

RE: Bundestagswahl 2021 - aus der Sicht ganz besonderer Erstwähler
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf barbarakary vom 19.10.2021, 11:14:56

Ja, liebe  barbarakary - davon bin auch ich absolut überzeugt. Die vielen Nichtwähler, die zu faul und uninteressiert sind, könnten von diesen  Menschen noch sehr viel lernen, So wie auch DW geschrieben hat, haben "Behinderte" in den meisten Fällen ein großes Interesse - und in Deutschland werden sie da erst seit wenigen Jahren wirklich unterstützt, Bei der Suche nach älteren Beiträgen zu diesem Thema fand ich auch einen, in dem Spanien als Vorreiterland beschrieben wird, was die Unterstützung und Förderung gerade von Down-Syndrom-Menschen angeht. Dort gibt es sogar eine junge Frau, Angela Baquiler, die in der Kleinstadt Valladolid Stadträten ist bzw,. war. 

Ich habe da dieses Interview mit ihr gefunden

Der-Waldler
Der-Waldler
Mitglied

RE: Bundestagswahl 2021 - aus der Sicht ganz besonderer Erstwähler
geschrieben von Der-Waldler

Pablo Pineda ist ein Mann mit Trisomie 21, der in Spanien ein Studium (!) abgeschlossen hat und heute Lehrer ist. Hier ein Interview mit ihm..

Man muss den Menschen nur etwas zutrauen, und wird sich wundern, was die alles können. Vor allem kennen sie weder Hinterhältigkeit noch Missgunst, sie zeigen offen, wenn sie jemanden mögen (und auch, wenn sie jemanden nicht mögen). Diese Ehrlichkeit und Offenheit hat für mich die Arbeit mit diesen Menschen zur wunderschönsten beruflichen Erfahrung meines Lebens gemacht.

LG

DW

Karl
Karl
Administrator

RE: Bundestagswahl 2021 - aus der Sicht ganz besonderer Erstwähler
geschrieben von Karl
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 19.10.2021, 11:30:28

@corgy

Danke für diesen Thread! Das Thema rührt mich sehr an und die gesellschaftliche Entwicklung sehe ich hier sehr positiv, gibt sie den Betroffenen doch Würde und Anerkennung zurück.

Karl

 

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Mitglied

RE: Bundestagswahl 2021 - aus der Sicht ganz besonderer Erstwähler
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf Karl vom 19.10.2021, 11:40:55

Danke,Karl - leider  denken nicht  alle  Menschen so.  

Hier  kommen die  Betroffenen  selbst  einmal  zu  Wort
 



und  auch  das  ist   sehenswert
 

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