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Innenpolitik Eine doch etwas politische Tiergeschichte

justus39
justus39
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Eine doch etwas politische Tiergeschichte
geschrieben von justus39
Bitte erschreckt nicht,
ich habe lange überlegt, ob diese Geschichte hier hineinpasst und ob ich sie überhaupt veröffentlichen soll.
Aber nach den vielen sehr unterschiedlichen Kommentaren zu Ost und West, Unrechtsstaat und Wiedervereinigung glaube ich, dass ich damals meine Gedanken und Empfindungen darin ganz gut und verständlich verpacken konnte.

Ich schrieb diese Geschichte nach unserer Ausreise und der darauf folgenden Maueröffnung und Wiedervereingung und hoffte mit dieser Fabel die Situation eines Übersiedlers vielleicht verständlicher machen zu können.

Er hieß Hansi

Er hieß Hansi, und alle mochten ihn.
Wenn ich ihn besuchte, traf ich ihn immer gut gelaunt an, und unermüdlich sang er mir sein Liedchen vor. Er war gerade erst ein reichliches Jahr alt, das mag jung erscheinen, aber ein Stieglitz oder Distelfink, wie er auch genannt wurde, gilt da schon als erwachsen.

Von mir und der Oma Walter, bei der er sein Quartier hatte, ließ er sich gern füttern und über sein buntes Gefieder streicheln. Wenn es warm war und die Sonne schien, stellte Oma Walter seinen Käfig an das offene Fenster. Dann sah er die Wiese, den Holunderstrauch auf dem kleinen Hof und weit dahinter einige Baumwipfel. Im Winter kam oft ein Amselpärchen auf die Fensterbank und auch Meisen erfreuten sich an dem Futter, das Oma Walter für sie hingestreut hatte. Manchmal war auch sein Käfig offen, doch dann war das Fenster stets sorgfältig geschlossen. Auch durfte dann die Katze Minka nicht in das Zimmer. Er bekam regelmäßig sein Futter und sein Wasser und der Sand in seinem Käfig wurde ständig erneuert. Er hätte also glücklich und zufrieden sein können.

Doch zuweilen, wenn er vor dem verschlossenen Fenster saß, mögen irgendwelche, von seinen Vorfahren vererbte Sehnsüchte, in seinem hübschen Köpfchen erwachen. Zwar war er schon im Zimmer vom Käfig zur Lampe und von dort zur Gardinenstange geflogen, aber wie mochte wohl so ein Flug im freien sein? Er hatte es nie kennengelernt. Seine Mutter hatte ihn und seine drei Geschwister bei einem Züchter in einer Gartenvoliere ausgebrütet und anfangs auch gefüttert. Doch kaum, daß er und seine Geschwister fliegen konnten, wurden sie in eine andere Voliere umgesetzt.
Nun hätte er wohl auch nie erfahren wie ein Flug in freier Natur ist, wenn nicht, eines Tages nicht nur sein Käfig sondern auch das Fenster einen Spalt breit offengestanden hätte.
Vorsichtig trippelte er durch den Fensterspalt und stand auf der Fensterbank. Er schüttelte sich und peilte den Holunderstrauch an. Der Abstand war ja mächtig groß aber ein Flug dorthin schien ihm doch sehr verlockend, und so stieß er sich schließlich ab, und mit einem noch unsicher Flug erreichte er den Holunderstrauch. Jetzt war er frei, aber so richtig froh konnte er darüber nicht sein. Es war alles so ungewohnt, die Katze schlich über die Wiese, er sah eine große Elster und als es Nacht wurde und noch ein kalter Regen fiel, wäre er doch ganz gern wieder in seinem Käfig gewesen. Aber auch diese Nacht verging und als die Sonne sein Gefieder wärmte, versuchte er sogar ein kleines Liedchen.
Jetzt verspürte er auch schon etwas Hunger, aber auf das Futter von Oma Walter mußte er nun wohl verzichten. Er probierte einige trockene Holunderbeeren, aber so richtig nach seinem Geschmack waren sie doch nicht. So galt es also weiterzufliegen. Schließlich fand er hinter dem Gartengrundstück eine verlassene Sandgrube. Die Ruine eines kleinen Häuschens war von Unkraut und Disteln überwuchert. Hier ließ es sich leben, und in einem dichten Gebüsch von Kiefern konnte er auch vor Elster und Katze sicher sein. Aber von diesem Paradies wußte auch ein ganzer Schwarm von Stieglitzen, die in diese Wildnis einfielen und sich mit Gezwitscher an dem Distelsamen sättigten. Schon nach kurzer Zeit nahmen sie unseren Hansi in ihre Mitte auf.
Unter ihnen fühlte er sich wohl und bald erregte er auch die Aufmerksamkeit eines Weibchens.
Mit seinem Balzgehabe und seinem unermüdlichen Gesang gewann er schließlich ihre Zuneigung, und bald begannen sie zu schnäbeln. Als die sein Weibchen schließlich Halme und kleine Zweige zusammentrug ahnte er, daß er bald eine eigene Familie haben werde.

Einmal kam ich pilzesuchend in die Sandgrube und glaubte unseren Hansi mit seiner kleinen Familie erkannt zu haben, er sah mich etwas anders an als die übrigen Vögel, die vor mir scheu davonflogen.

Vielleicht hätte ich Hansi und seine Geschichte längst vergessen, wenn sich nicht auch für meine Familie und wenige Wochen später auch für Millionen unserer Landsleute auch unsere Käfigtür geöffnet hätte. So wie er begannen wir mit unseren ersten unbeholfenen Flugversuchen, so traf uns auch nach der anfänglichen Euphorie über die erlangte Freiheit ein kalter Regenschauer, auch wir mußten lernen, uns vor der schleichenden Katze und der diebischen Elster zu schützen, und manchmal habe auch ich mir den schützenden Käfig zurück gewünscht.

So sehr unsere ersten hilflosen Flugversuche auch belächelt wurden, schließlich kamen wir doch damit zurecht. Unsere vier Kinder haben schon begonnen, ihr eigenes Nest zu bauen, und zurück in den Käfig will von ihnen sicher keiner mehr.

Ich hoffe, dass Ihr mich verstanden habt.
justus
youngster
youngster
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Re: Eine doch etwas politische Tiergeschichte
geschrieben von youngster
als Antwort auf justus39 vom 17.10.2014, 11:59:48
Hallo lieber justus,

um es gleich mal zu sagen ich bin in der Bundesrepublik (Westdeutschland) geboren und aufgewachsen und nicht in der ehemaligen DDR (Ostdeutschland). Bin aber schon vor der Wende durch einen ehemaligen Freund meines Vaters in die DDR gekommen auf Besuch, gewohnt haben wir im Hotel.

Was ich aber sagen muss diese von dir verfasste Fabel hat mich doch sehr berührt. Denn passender hättest du deine Befindlichkeiten und die vieler deiner Landsleute nach dem Mauerfall nicht ausdrücken können.

Muss noch dazu sagen, dass ich auch noch nach der Wiedervereinigung noch lange Jahre im Kontakt mit diesem Bekannten, seiner Frau und ganzen Familie stand.

Vielen Dank für die in meinen Augen wunderbare und doch so richtige, wahre Tiergeschichte. Ganz toll von dir beschrieben und die ganze Bandbreite der Empfindungen und Befindlichkeiten wieder gegeben.

Danke dir dafür.

Gruß youngster
pippa
pippa
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Re: Eine doch etwas politische Tiergeschichte
geschrieben von pippa
als Antwort auf youngster vom 17.10.2014, 12:45:11
Natürlich habe ich Dich verstanden, lieber justus, denn Deine Fabel ist sehr berührend und verständlich geschrieben.

Ich habe zu DDR-Zeiten dort einige Besuche gemacht. Damals war ich noch ziemlich jung und unsicher. Ich musste ums Überleben kämpfen, was mir zuweilen schwer fiel. Hilfe hatte ich nie.

So ist es wohl auch nicht allzu unbegreiflich, dass ich die von mir Besuchten im Geheimen manchmal um ihre Sicherheit beneidete.

War ich wieder zu Hause, war dieses Gefühl immer sehr schnell verschwunden.

Am 3. Oktober war ich zusammen mit tausenden dankbaren Menschen aus Ost und West auf dem Brocken und habe auf der Gedenkfeier tatsächlich aus tiefster Überzeugung „Nun danket alle Gott“ gesungen, obwohl ich kein Christ bin und auch nie war.

Da ich auf westlicher Seite im ehemaligen Grenzgebiet lebe, überfällt mich dieses Gefühl des Dankes fast täglich.

Danke für Deine Fabel.

Pippa
ana
ana
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Re: Eine doch etwas politische Tiergeschichte
geschrieben von ana
als Antwort auf justus39 vom 17.10.2014, 11:59:48
justus,

sehr schön beschrieben worden,Du könntest diese kleine aussage-
kräftige Geschichte veröffentlichen!

Hansi kannte nur seinen Käfig,Freiheit kannte er bisher nicht.
Eine kleine Öffnung bescheerte ihn jedoch die große Freiheit und
er kehrte nicht wieder zurück.

Guter Vergleich zur Maueröffnung!
olga64
olga64
Mitglied

Re: Eine doch etwas politische Tiergeschichte
geschrieben von olga64
als Antwort auf ana vom 04.11.2014, 15:53:10
Eine kleine Öffnung bescheerte ihn jedoch die große Freiheit und
er kehrte nicht wieder zurück.

geschrieben von ana


So denken anscheinend die vielen Frauen in der früheren DDR, die ihr berufliches Fortkommen im Westen und anderswo suchen und diesen Landstrichen den Rücken kehren. Zurück bleiben alte Leute und nicht oder schlecht ausgebildete junge Männer - damit stirbt dieser Landstrich, wenn nicht gegengesteuert wird. Vielleicht doch mehr Ausländer in diese Bundesländer? Jüngere, die dann auch Kinder bekommen können und wollen? Olga

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