Innenpolitik Stuttgart 21

carlos1
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Re: Stuttgart 21
geschrieben von carlos1
als Antwort auf luchs35 vom 18.10.2010, 13:48:47
„Trotzdem frage ich mich, ob Deutschland nicht *mehr* Demokratie wagen und vor allem auch die Defizite im Grundgesetz ergänzen kann.“ Luchs35


Hallo luchs,
das Thema wird immer aktuell sein, weil es ein zeitloses Thema ist, eines für Staatstheoretiker, Philosophen vor allem, Leute, die gern diskutieren und alles besser wissen, aber die Praxis lieber außen vor lassen. Politiker müssen sich daran abarbeiten, deshalb wirkt dieses Thema auch irritierend.

Ich bekundete bereits in Beiträgen meine tiefe Sympathie für das Schweizer Modell der direkten Demokratie, füge aber der Wahrheit halber wiederholend hinzu, dass die Sympathie mehr auf die politische Reife des Schweizer Volkes zielt als auf die Ergebnisse und Praktiken dieser Demokratie. Trotzdem Bedenken. Vor einiger Zeit wurde das Minarettverbot hier im Forum heftig kritisiert, auch ein Ergebnis der direkten Demokratie. Das Urteil über diese Abstimmung des Souveräns wurde nicht allzu verständnisvoll aufgenommen. Eine Entscheidung des Souveräns, die aber hinzunehmen ist . Demokratie bedeutet nicht Zuckerwatte, sondern auch Herrschaft. Das Minarettverbot scheint nicht Ausfluss politischer Weisheit des Souveräns gewesen zu sein. Wenn als weiteres Beispiel allein Männer darüber abstimmen, ob Frauen das Recht abzustimmen bekommen sollen (Ablehnung), dann spricht das für sich.


Willy Brandt ist eine große Politikergestalt, vor allem durch seine Außenpolitik, die erst die Einigung Dtlds möglich gemacht hat. Seinen Spruch von „mehr Demokratie wagen“ schien mir von jeher etwas als seltsam widersprüchlich, ja suspekt. Demokratie als etwas Erstrebenswertes und Gutes gleichzeitig mit einem Wagnis (mehr D. wagen) zu verbinden ist gewagt. Demokratie bedeutet Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit und zwar auf Zeit. Demokratie bedeutet aber auch Verantwortung und Herausforderung und viel Arbeit. Ohne Bildung geht nichts. Wie wollen die 25% Analphabeten denn mitbestimmen und mit entscheiden, Leute, die zwar lesen können, aber nicht verstehen, was sie lesen (die Leseunfähigen nicht gerechnet). Die fehlende Kommunikation bei S21 führst du an (obwohl es nicht stimmt). Dann die Entscheidungen nach „Gutsherrenart.“ Wer kennt denn von den Schreibern die Gutsherren und ihre Entscheidungen? Keiner. Die Gutsherren entschieden ohne Befragung ihrer Abhängigen, aber sie waren verpflichtet für diese zu sorgen und diese zu versorgen. Ein gegenseitiges Verhältnis also. Die direkte Demokratie und ihre Demagogen (nicht Willy Brandt ist gemeint). begründen kein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis. Wer das größte Maulwerk hat und die meisten Claqueure entscheidet. Brandt ist an der rauen innenpoltischen Wirklichkeit gescheitert, nicht am DDR-Spion im Kanzleramt. Sein Parteifreund Wehner lästerte kurz vor dem Sturz Brandts über den Kanzler, es gäbe einige, die gerne „in rosarotem Scháum“ baden.

c.
carlos1
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Re: Stuttgart 21
geschrieben von carlos1
als Antwort auf hafel vom 18.10.2010, 15:01:34
Hallo Hafel,
dein Beispiel der Kostenüberschreitungen bei der 19km langen Brücke von Fehmarn nach Rodby mit einer Mrd € Kostenüberschreitungen zeigt, wo die Grenzen des Verständnisses im Zusammenhang mit Großprojekten bei Normalmenschen liegen könnten (die AKWs lasse ic haußen vor). Die Finanzkrise hat die Leute „hellhörig“ gemacht, stellst du fest. Ich glaube das Problem ist noch etwas vielschichtiger. Es sind auch persönliche Empfindlichkeiten, das Gefühl nicht ernst genommen zu werden, wenn Technokraten immer recht behalten wollen und auch formal im Recht sind.

Zunächst aber die Frage: Wird durch steigende Kosten die Notwendigkeit einer international wichtigen Brückenverbindung oder die Modernisierung eines Bahnknotens obsolet, allein weil Mehrkosten anfallen? Eher vermute ich, dass durch die Wirtschafts- und Finanzkrise eine Verwahrlosung im Umgang mit Zahlen eingetreten ist, woran die Medien und ihre falschen Darstellungen nicht unschuldig sind. Tiefere, komplizierte ökonomische Zusammenhänge sind nicht gefragt, werden auch nicht verstanden. Es wird in kurz gefassten Meldungen nur noch über -zig Milliardenverluste und Kostenüberschreitungen gesprochen. Ein abwägendes Verständnis für notwendige Zusammenhänge einer Investition und deren langfristiger(!) Nutzen (eine Brücke dieser Art wird viele Jahrzehnte in Nutzung sein, wird aber auch Folgekosten verursachen) wird in der Öffentlichkeit nicht bedacht. Ich bin nicht Fachmann genug, um abzuwägen, ob eine Brücke oder ein Tunnel im Betrieb günstiger sind. Billiger sind Brücken. Erforderlich ist jedoch bei einer Abwägung der Kosten und des Nutzens die Relation der vorhandenen wirtschaftlichen Stärke und der geschätzte zukünftige auch politische Nutzen.

Was ich bei der Schlichtungsdiskussion erfahren habe ist nicht unwesentlich: In Dtld werden die Kosten eher niedriger angesetzt, um ein Projekt über die parlamentarischen Hürden zu bringen und staatliche Gelder zu erhalten. Der Kostenaufwand wird von vornherein niedrig angesetzt. In der Schweiz ist es anders. Man erstellt einen angenommenen Bedarf und baut nach diesem Bedarf das Projekt. Das heißt, in der Schweiz erstellt man z. B.einen Fahrplan und der Bahnhof wird nach diesem integralem Fahrplan gebaut. Pech nur, wenn in 10 oder 20 Jahren der tatsächliche Bedarf niedriger ist. In Dtld kann es dazu kommen, dass nachgerüstet werden muss, weil die Kapazitäten nicht ausreichen. Der Schweizer Sachverständige in der Achlichtung wollte keine bewertende Stellungnahme abgeben, es seien eben verschiedene Denkansätze/Systeme, meinte er.

Schulden machen, um zu konsumieren ist abzulehnen. Das wird in europäischen Staaten aber seit Jahrzehnten praktiziert und ist gegenüber den späteren Generationen zutiefst unmoralisch, denn die heutige Generation profitiert zu Lasten der späteren Generationen.


Bei weitsichtigen langfristigen Investitionen sieht dies anders aus. Diesen Herbst feiern wir den Mut jener, die vor 175 Jahren in Mitteleuropa mit dem Eisenbahnbau begonnen haben. Zuerst verband die Schiene nur Nürnberg und Fürth, doch bald entstand die Vision, den Deutschen Bund durch dieses Verkehrsmittel nicht nur wirtschaftlich, sondern auch besser zu integrieren. Vieles, was heute regional erscheint, besitzt längst europaweite Bedeutung. Wir müssen deshalb europaweit denken. Österreich hat wie Frankreich die Magistrale Paris- Budapest entschieden vorangetrieben. Vier TGV fahren Stuttgart täglich an, erfuhr ich in der Schlichtungsdebatte. Zwischen Salzburg und Wien wird ein Hochgeschwindigkeitsabschnitt nach dem anderen fertig. Der Flughafen Schwechat ist mit einbezogen, ebenso wie das dynamisch expandierende Dreieck im Donauraum Wien- Pressburg-Budapest. Die Dynamik, die Österreich an den Tag legt ist im Vergleich zu den Erscheinungen in Stuttgart erstaunlich und sehr erfreulich. Angebunden werden müssen andere Schwachstellen der Transversale, die Strecke München – Mühldorf - Freilassing – Salzburg. Damit werden keine Lokalinteressen verfolgt, sondern die Anbindung des bayerischen Chemiedreiecks und die Anbindung des Münchener Flughafens. Allein für die Flughafenanbindung München werden mehrere Milliarden Euro veranschlagt. Es gibt auch nicht nur den Gotthard als Alpenübergang, sondern auch den Brenner. Der Verkehr über Rosenheim muss auch entlastet werden. München plant auch eine Schnelltrasse nach Ulm. Der Ulmer OB Gönner erwähnte es unlängst in einem Interview. Die Region mittlerer Neckar ist eine der wirtschaftlich leistungsfähigsten Regionen in Europa. Seit 20 Jahren wurde kein Geld mehr für die Modernisierung der Stuttgarter Hauptbahnhofs ausgegeben. Bei allem Respekt vor der Ruhe älterer Mitbürger, Politik darf nicht sich allein an Partikularinteressen ausrichten, so schön Idylle in blumenreichen Vorgärten sein kann.

Du erwähnst die „Unbeherrschbarkeit der Straße“ wegen der Boni und der Krise in der Finanzwirtschaft, wenn keine Korrektur erfolge. Ich sehe keinen direkten Zusammenhang zwischen Finanzkrise mit der Neuordnung des Bahnknotens in Stuttgart und dem dringend erforderlichen Ausbau weiterer Bahnstrecken. Gerade in Notzeiten muss investiert werden. Im Moment sind wir nicht mehr in der Wirtschaftskrise. Was viele wohlbetuchte ältere Leute als Arroganz der Macht empfinden und was sie auf „Rache“ sinnen lässt, muss abgestellt werden.

„Die Diskutanten diskutierten nicht in die Gruppe hinein, sondern ihr Blick war in die TV-Kameras gerichtet. Hier galt es nach außen "Besitzstand zu verteidigen". Bloß nichts zugeben.“ hafel


So sehe ich das auch. Aber was war anderes zu erwarten? Beide Seiten versuchen ihr Auffassungen in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Doch wo ist die Öffentlichkeit? Einige Zuhörer, ist das die Öffentlichkeit? Ich bezweifle, ob alle Zuschauer verstehen, was an Fachchinesisch losgelassen wird. Geißler wies wiederholt darauf hin.


Der Grünenchef in Bad- Württ. spricht von einer breiten und immer stärker werdenden Volksbewegung. Was aber, wenn die Grünen am 27.3.2011 die Mehrzahl der Stimmen erhalten und mit der SPD koalieren? Sind sie dann Bewegung oder Partei? Dann müssten sie sagen, was sie an die Stelle von S21 setzen würden. Sie müssen auch jetzt die Alternative präsentieren. K21 ist doch ein Phantom: Keine Planung, keine Finanzierung. Einige Versaatzstücke aus der Vergangenheit. Die Grünen benötigen den Zustand der Dauerangst, dass in Stuttgart ganze Häuser im Untergrund versinken, wenn die Tunnel gebaut werden, dass die Mineralquellen versiegen werden, dass die Kosten weiter steigen etc. Davon und von der Arroganz der Mächtigen lebt der Protest. Dazu werden Grünen-Politiker mit Hubschrauber eingeflogen, damit sie die Leute über die Vorteile der Bahn aufklären. Wie emotional die Lage gesehen wird, zeigen Leserbriefe. Ein Herr J .Z. schreibt, dass die Selbstherrlichkeit der Politiker aufhören müsse, die Geschäftsgrundlage habe sich dazu noch geändert. Die Kosten seien zu stark gestiegen. Das Haus von Herrn Z. steht in der Urbanstraße und direkt darunter verläuft der Tunnel. Wer hätte da nicht ein ungutes Gefühl? Volles Verständnis für diesen Mann. Ein anderer Leser (70 J.) schreibt, dass bei der Baumfällung im Park viel Geschrei um Nichts gemacht wurde, die wenigsten Bäume seien mehrhundertjährig. Eine ganz kleine Fläche sei es gewesen. Es müsste gesagt werden, wie wenige Bäume gefällt wurden. Im Übrigen sei der Bahnhof ursprünglich von Bonatz ohne Nord- und Südflügel geplant worden, sie fehlen in der Urfassung. Verwandte waren vor kurzem im Schlosspark: Zelte, Würstchenbuden, ein buntes Treiben. Es wird hingepinlelt und hingesch... wo es Platz gibt. Es stinkt.

Viele Grüße
c
heinzdieter
heinzdieter
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Re: Stuttgart 21
geschrieben von heinzdieter
als Antwort auf carlos1 vom 23.10.2010, 22:51:51
Guten Morgen,

ich hatte beide Beiträgekomplett gelesen, was bei langen Beiträgen bei mir eine Ausnahme darstellt.

Ich hatte mir am Freitag die komplette 1. Schlichtungs-Sendung im TV angesehen.

Aber nun zum Eigentlichen:
Niemand streitet um die Neubaustrecke S-UL, bzw Wendlingen-Ulm.
Diese muss gebaut werden, denn sie ist ein wentliches Teilstück der Fernverbindung.
Das eigentliche Thema ist doch der Umbau
Kopfbauhof zum Durchgangsbahnhof
,
wobei dieser neue Bahnhof nicht komplett im Untergrund verschwinden soll, sondern nach Fertigstellung den Schlossgarten duch einen ca 6 bis 8 Meter hohen Wall in 2 Teile teilt.

Fakt ist auch, dass durch den Umbau K 21 zu S 21 eine Freifläche (Bauland) von ca 100 Hekter in bester Lage gewonnen wird.

Diese zubebauende Fläche in zentraler Lage ist planerisch voll erfasst und erschlossen; also ein unumkehrbaren Zustand.

Die Schlichtungen von Herrn Geissler haben meiner Auffassung nur die Aufgabe, die erhitzten Gemüter zu beruhigen.

Es doch ersichtlich dass seitens des Landes, der Stadt und der Bahn keinerlei kompromisbereitschaft besteht, denn sonst wäre

das Grundwassermanagment im Südflügel
das Technikgebäude in den Nordflügel
der Zugang zum neuen Bahnhof über den vorhanden Haupteigang

vorgesehen worden.

So gäbe es viele Möglichkeiten die montane Lage durch bautechnische Gut-Will-Maßnahmen zu beänftigen.
Aber man will seitens des BH (Land,Stadt,DB) mit den Kopf durch die Wand.
S 21 wird und muss gebaut werden auch wenn es 10 oder mehr Milliarde den kosten sollte, denn nicht nur die fortgeschrittenen Baumaßnahmen lassen einen Ausstieg nicht mehr zu, sondern auch die getroffen Vereinbarungen zur Bebauung der Freifläche.

heinzdieter

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Re: Stuttgart 21
geschrieben von ehemaliges Mitglied

Hier Thomas Mohr (Gewerkschaft der Polizei) mit seiner Sichtweise des Polizeieinsatzes gegen Stuttgart-21-Gegner am 30.9. im Stuttgarter Schlossgarten, zu dem er abkommandiert wurde.

Interview bei Monitor
Interview Thomas Mohr (21.10.2010)


zum Nachlesen in der Frankfurter Rundschau
Polizisten klagen Politik an

Thomas Mohr wurde (laut fefes blog) am Mittwoch in den Innendienst abkommandiert und im Intranet der Polizei als Netzbeschmutzer angeprangert.


hafel
hafel
Mitglied

Re: Stuttgart 21
geschrieben von hafel
als Antwort auf hafel vom 23.10.2010, 11:58:00
Moin moin und Hallo Carlos!

Zunächst recht herzlichen Dank für Deine ausführliche Antwort. Ich habe sie wie immer aufmerksam gelesen. Dein Beitrag lässt erkennen, dass wir in den Zielen eine ähnliche Denkweise haben. Wir unterscheiden uns auf verschiedenen Einzelbaustellen über den richtigen Weg dahin.

Grundsätzlich gäbe es nun nur noch sehr wenig zu ergänzen. Da Du jedoch einige Nebenthemen angesprochen hast, möchte ich dennoch gerne darauf eingehen, obwohl wir da leider vom eigentlichen "Stuttgart-Thema" abweichen. Diese Abweichung umfasst aber die Gesamtlage "Eisenbahn in Deutschland".

Die Vogelfluglinie:

Die Vogelfluglinie hat ihren Namen aus der Flugbahn der Vögel zwischen Hamburg und Kopenhagen. Diese Verkehrsverbindung hat eine längere Tradition und Geschichte und wurde bereits zur Nazizeit diese Strecke projektiert. Heute sind noch vor Heiligenhafen daraus Erdaufwerfungen sichtbar. Es kam aber im 3ten Reich nicht zu einer Ausführung , da kriegswichtige Projekte den Nazis wichtiger waren, Nach dem Krieg wurde zunächst eine Fährverbindung (um die Insel Fehmarn herum) von Großenbrode Kai nach Gedser eingerichtet. Danach wurde die Fehmarnsundbrücke gebaut und eine schnelle Verbindung auf die Sonneninsel Fehmarn geschaffen. Die Fähre ging nun von Puttgarden nach Rodby. Bisher erreichten die Insulaner das Festland durch eine kleine Personen-Eisenbahnfähre, die dann verschiedene Orte auf Fehmarn verkehrsmäßig bediente.

Meine Schwiegereltern hatten zwischen Großenbrode und Neukirchen, direkt an der Ostsee einen Hof der vom zuständigen Bahnhof Neukirchen mit allerlei Gütern bedient wurde. Ich gebe zu, für die heutige Zeit ein verträumter Bahnhof, der jedoch regelmäßig bedient wurde. Vor allem am Vormittag und am Nachmittag gab es einen sehr intensiven Schülerverkehr zum Gymnasium nach Oldenburg/H.

Nun zum eigentlichen Thema zurück:

Mit der Eröffnung der Bahn-Vogelfluglinie gab es nur noch durchgehende Züge von Hamburg nach Puttgarden, die gerade einmal in Lübeck Halt machten. Mit der Fehmarnsundbrücke wurde der Regionalverkehr derart ausgedünnt (konnte auch rein technisch auf der eingleisigen Strecke gar nicht aufrecht erhalten werden) dass Bahnhof für Bahnhof zurückgebaut und stillgelegt wurde. So auch der Bahnhof Neukirchen. Ich hatte seinerzeit eine Veröffentlichung über die Infrastruktur der Vogelfluglinie geschrieben und hatte chronologisch den "Abstieg" des Bahnhofs Neukirchen zur einfachen Relaisstation bildlich festgehalten. Die Expresszüge rauschen nur noch durch! Wo war hier eine Verbesserung der Infrastruktur für die Bürger vor Ort ??

Nun soll der Fährbahnhof Puttgarden aufgegeben werden und eine 19km lange Brücke oder Tunnel über/unter den Belt gebaut werden. Es geht hier um eine reine Fahrzeitverkürzung . Eine Zeiteinsparnis von etwas über einer Stunde bei einer Gesamtfahrzeit von ca. 3 Stunden (jetzt mit Fähre etwas über 4 Stunden). Diese Verkürzung kostet nach heutigen Berechnungen mindest 5,5 Milliarden EURO (bei derzeit knappen Kassen) wo noch die Anschlüsse auf beiden Seiten hinzu kommen, die von einem Ingenieurbüro mit 800 Millionen beziffert wurden, Nicht erfasst ist der Rückbau des Fährbahnhofes Puttgarden, wo am Ende die Infrastruktur derart eine Veränderung einnimmt, wo hunderte von Arbeitsplätzen offen sind. Gewiss können die dortig eingesetzten Eisenbahner und Zöllner auf anderen Dienststellen unterkommen, nur ist da eben die Abflachung der Infrastruktur etwas größer.
Ich könnte schon jetzt eine Wette eingehen, dass wieder die Expresszüge (mit Halt in Lübeck) dann in einem Rutsch durch die Insel düsen (immerhin geht es um Fahrzeitverkürzung) und der Nahverkehr bleibt wieder auf der Strecke.

Das Bahnjubiläum:

Carlos, Du erwähnst das zu Recht, am 07. Dezember kann die deutsche Eisenbahn auf 175 Jahre zurück blicken. Die erste Strecke wurde am 07. Dezember 1935 zwischen Nürnberg und Fürth eröffnet.
Hierzu würde ich gerne eine paar Bemerkungen machen, obwohl sie vom eigentlichen Thema abweichen, jedoch zum weiteren Verständnis die Gesamtphilosophie der DB etwas beleuchten.

1985 wurde die deutsche Eisenbahn 150 Jahre alt und ich kann hier aus eigener und persönlicher Erfahrung berichten. Meine Amtzeit, als Bundesvorsitzender des Dachverbandes der deutschen Eisenbahnfreunde fiel (rein zufällig) in diese Zeit. Die damalige Situation war wie folgt: Die DB modernisierte und modernisierte und hatte dabei ihre historischen Wurzeln vollkommen aus den Augen verloren. Diese "Wurzeln" haben dann die zahlreichen Eisenbahnfreunde (vor der Wende 30 000 organisiert) aufgesammelt und die stillgelegten Strecken in Eigenarbeit wieder aufgearbeitet. Die von der Bahn "abgelegten" historischen Fahrzeuge haben die Eisenbahnfreunde teuer abgekauft und in einer sehr teuren Eigeninitiative aufgearbeitet und gepflegt. (Nebenbemerkung: Die Aufarbeitung einer Dampflok mit TÜV-Prüfung in einem DB-Ausbesserungswerk hatte damals schon eine 6stellige DMzahl gekostet, was nur durch großzügige Spenden und hohen Mitgliedsbeiträgen bewältigt werden konnte). Der Industrielle und Hemdenhersteller Seidensticker kaufte selber eine DB-Schnellzuglok vom Typ 01, die dann als Seidenstickerlok in die Geschichte einging.

Nach der Wiederaufarbeitung und Fahrbereitschaft der Fahrzeuge wollten die Eisenbahnfreunde nun auf geeigneten Nebenstrecken ihre Fahrzeuge einsetzen um mit den Fahrteinnahmen wieder von ihren Schulden runter zu komme. Da sagte die DB NEIN und und nochmals NEIN und hatte mit ihrer starren Haltung sehr dubiose Gründe dafür. "Auf unseren Gleisen nicht"!

Nun kam der "Genosse historischer Zufall" ins Spiel. 1985 stand ein Eisenbahnjubiläum an und die Bahn hatte außer ihren bekannten modernen TEE- und Interregio-Garnituren und einem IC-Prototyp absolut nichts aus ihrer eigenen Geschichte vorzuweisen.

Und da gab es auch so ein Spitzengespräch (übrigens rein zufällig auch im Ländle) zwischen den Bahn-Oberen und unseren Bundesdachverband. Auch hier auf Augenhöhe, denn jede Seite wollte von dem Anderen etwas abringen.
Mein Verhandlungspartner war damals Bahndirektor Horst Troche, ein hervorragender Bahnfachmann. Wir einigten uns (im Sinne des kommenden Jubiläums) sehr schnell darauf, dass unserer Dachverband für eine mehrtägige Großveranstaltung in Nürnberg ihre historischen Fahrzeuge der Bahn zur Verfügung stellt und im Gegenzug die DB den Eisenbahnfreunden auf dafür geeigneten Strecken das Fahren mit historischen Fahrzeugen erlaubt. Was dann auch geschah. Die Nürnberger Cavalcade vom historischen "Adler" bis zum IC war ein Highlight seines Zeichens.

Wer sich heute das Programm des 175er Jubiläum betrachtet, wird dabei feststellen, dass unzählige Nebenveranstaltungen durch Eisenbahnfreunde mit ihren eigenen historischen Fahrzeugen dieses Jubiläum stützen.

Natürlich Carlos, hast Du Recht, dass die Erfindung der Dampfmaschine und damit der Eisenbahn eine der größten Erfindungen der Menschheit waren. Jahrtausende vorher war der Mensch auf Muskelkraft (Pferd) und Windkraft (zur See) angewiesen. Mit der Erfindung der Dampfmaschine veränderte sich diese Welt. Es ergab sich der größte Strukturwandel bis zur heutigen Globalisierung. (Das Auto wurde ja erst 70 Jahre danach "erfunden").
Dabei spielte ein sehr kluger Kopf ein Rolle, Friedrich List. List, Nationalökonom und ein sehr weit denkender Mann, erkannt im ersten Drittel des 19.Jhht welche Chancen ein umfassendes Eisenbahnnetz zur Verbindung der 41 Teilstaaten des zersplitterten Deutschlands war. List hat seinen großen Gedenkstein am Leipziger Hauptbahnhof und haben wir auf dem ST-Treffen in Leipzig mit einer interessierten Gruppe dieses Obelic-Monument besucht. Trotz seines Selbstmordes waren seine Pläne und Ideen sowie der Siegeszug der Eisenbahn nicht mehr aufzuhalten.

Zurück zu Stuttgart 21:

Es muss ein Weg gefunden werden, dass Bahn und Bahnkunden wieder ein gemeinsames Ziel vor Augen haben. Im Laufe der Jahre hat sich jedoch die Bahn auf ihren wirtschaftlichen Höhenflügen von einem Teil ihrer Aufgaben zurück gezogen und hat damit in vielfältiger Form ihre treuen Bahnkunden verprellt und alleine gelassen.
Die Bahn verdient zunächst ihr Geld mit dem Güterverkehr. Der alte und bekannte Spruch hat auch heute noch seine Gültigkeit: "Geht es der Wirtschaft schlecht. Geht es auch der Bahn schlecht". Güter gehören nun einmal auf die Bahn! Bei den sehr ehrgeizigen superschnellen Verbindungen zu den internationalen Citys, geht das weitgehend auch zu Lasten des Allgemeinverkehrs. Am meisten wird dabei der Regionalverkehr vernachlässigt und still gelegt.
Carlos, an Hand von Schleswig-Holstein, einem Flächenland, kann ich Dir ein Hand voll Strecken nennen, die die Bahn einfach still gelegt hat. Zum Glück sind hier hin und wieder Privatbahngesellschaften eingesprungen, die diese Lücken (zum Teil sogar kostengünstig) ausfüllen. Was für die DB nicht hundertprozentig lukrativ ist, schmeißt sie als Ballast ab.

Hier mag ich mit meiner persönlichen Einstellung ein Exote sein: So wie der Staat die Aufgabe und die Verantwortung für die Straßeninfrastruktur, denn notwendigen Lebensunterhalt seiner Bürger sichern muss, so muss er auch für die Mobilität der Bürger sorgen. Es wird die Zeit kommen wo Öle knapper werden und nicht jeder mehr auf ein Auto zurück greifen kann. Wäre es dann nicht ein Segen, wenn wir ein flächendeckendes leistungsfähiges, pünktliches und bezahlbares Schienenverkehrsnetz hätten? Diese Verkehrsbedienung des Staates für seine Bürger muss meiner Meinung nicht unbedingt in den schwarzen Zahlen sein, Es gehört zu den Sozialleistungen eines Staates und es geht darum sein Bürger mobil zu halten.

Dieser Wahnwitzige Vergleich der Bahn mit dem Luftverkehr lässt mich jedes Mal wieder den Blutdruck etwas ansteigen. Hier soll doch einfach einmal Gerechtigkeit gelten und der Flugverkehr mit seinem Treibstoff ebenso versteuert werden wie alle anderen Verkehrsteilnehmer auch. Dann werden eben die Flüge teurer und sind nicht mehr ganz so konkurrenzlos. Na und? Wer dann Zeit gewinnen möchte, muss diesen Gewinn auch bezahlen.

Und ich sehe hier persönlich beim S21 – Projekt nicht die richtigen Fragestellungen, dass am Ende der/die Stuttgarter nicht nur an ihrem neuen Bahnhof stehen und die durchrasenden Expresszüge nur zuwinken können, denn die wenigsten Stuttgarter werden täglich nach Paris oder Budapest wollen, Sie wollen pünktlich und preiswert zum Dienst und wieder nach Hause fahren. Es kann nicht die Folge sein, dass viele dann wieder ihr Auto aus der Garage holen.

In Stuttgart sollen nicht nur die Bürger mitgenommen werden, sondern vor allem die zahlreichen Regional- Bahnkunden.
Hafel


adam
adam
Mitglied

Re: Stuttgart 21
geschrieben von adam
als Antwort auf hafel vom 24.10.2010, 14:37:47
Und ich sehe hier persönlich beim S21 – Projekt nicht die richtigen Fragestellungen, dass am Ende der/die Stuttgarter nicht nur an ihrem neuen Bahnhof stehen und die durchrasenden Expresszüge nur zuwinken können, denn die wenigsten Stuttgarter werden täglich nach Paris oder Budapest wollen, Sie wollen pünktlich und preiswert zum Dienst und wieder nach Hause fahren. Es kann nicht die Folge sein, dass viele dann wieder ihr Auto aus der Garage holen.

In Stuttgart sollen nicht nur die Bürger mitgenommen werden, sondern vor allem die zahlreichen Regional- Bahnkunden.
Hafel


@hafel,

ich verstehe zu wenig von all dem, was Du hier mit Carlos diskutierst, um mitreden zu können. Allerdings bin ich für S 21. Die Finanzierung steht und ich sehe in einem unterirdischen Durchgangsbahnhof viele Vorteile für Stuttgart, nicht zuletzt für das Erscheinungsbild der Innenstadt und auch für Güter und Fernverkehr. Wie die Politik versucht, das Projekt durch zu boxen, steht auf einem anderen Blatt. So nicht.

Allerdings kann ich Deine Argumentation nicht nachvollziehen, was den Regionalverkehr anbelangt. Da gibt es für Stuttgart und die Region ein gut ausgebautes S-Bahnnetz, das ich jahrelang selber genutzt habe und das auch gut angenommen wird. Für Leute, die aus der Region nach Stuttgart zur Arbeit oder zum Einkaufen wollen, ist m.E. bestens gesorgt.

--

adam



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hafel
hafel
Mitglied

Re: Stuttgart 21
geschrieben von hafel
als Antwort auf adam vom 24.10.2010, 15:46:09
@ moin lieber Adam:

Ich habe mir zunächst einmal Deinen Link ausgedruckt un schaue gerade auf das "Verbund-Liniennetz". Danke für Deine Info.

Ich werde jetzt bei Kaffee und Kuchen Deinen Beitrag bewerten und melde mich zu einem späteren Zeitpunkt wieder.

Schönen Restsonntag

Hafel
Marija
Marija
Mitglied

Re: Stuttgart 21
geschrieben von Marija
als Antwort auf adam vom 24.10.2010, 15:46:09
Und ich sehe hier persönlich beim S21 – Projekt nicht die richtigen Fragestellungen, dass am Ende der/die Stuttgarter nicht nur an ihrem neuen Bahnhof stehen und die durchrasenden Expresszüge nur zuwinken können, denn die wenigsten Stuttgarter werden täglich nach Paris oder Budapest wollen, Sie wollen pünktlich und preiswert zum Dienst und wieder nach Hause fahren. Es kann nicht die Folge sein, dass viele dann wieder ihr Auto aus der Garage holen.

In Stuttgart sollen nicht nur die Bürger mitgenommen werden, sondern vor allem die zahlreichen Regional- Bahnkunden.
Hafel
geschrieben von adam


@hafel,

ich verstehe zu wenig von all dem, was Du hier mit Carlos diskutierst, um mitreden zu können. Allerdings bin ich für S 21. Die Finanzierung steht und ich sehe in einem unterirdischen Durchgangsbahnhof viele Vorteile für Stuttgart, nicht zuletzt für das Erscheinungsbild der Innenstadt und auch für Güter und Fernverkehr. Wie die Politik versucht, das Projekt durch zu boxen, steht auf einem anderen Blatt. So nicht.

Allerdings kann ich Deine Argumentation nicht nachvollziehen, was den Regionalverkehr anbelangt. Da gibt es für Stuttgart und die Region ein gut ausgebautes S-Bahnnetz, das ich jahrelang selber genutzt habe und das auch gut angenommen wird. Für Leute, die aus der Region nach Stuttgart zur Arbeit oder zum Einkaufen wollen, ist m.E. bestens gesorgt.

--

adam




Lieber Adam,
da du für S21 bist, nehme ich an, dass du Stuttgarter bist - oder irre ich ?

Ich bin gebürtige Mannheimerin, lebe am Bodensee und habe auch Jahre im Ausland verbracht.
Die Bahn-Netze sind mir hinlänglich aus eigener Erfahrung bekannt.

S21 wird keine Hilfe sein, es wird verkomplizieren und den Ausbau des Güterverkehrs um Jahrzehnte
zurück stellen. So alt können wir beide nicht werden, bis da wieder Land in Sicht ist - sorry für diese Polemik.
Alle Befürworter von S21 machen sich nicht klar, dass dieses unterirdische Nadelöhr ganz große Gefahren birgt hinsichtlich Zeit und Sicherheit. Die Geotektonik ist für ein solches Projekt m.M.n. nicht geeignet. Ein Beispiel für die Risiken sieht man ja bereits in kleinster Form an den popeligen Tunnelbauten der Autobahn Singen - Stuttgart.

Verlierer von S21 sind der Regionalverkehr und der Güterverkehr.
Und was die Stadt Stuttgart anbelangt: DA HILFT GAR NICHTS MEHR, HÄSSLICH IST HÄSSLICH.

Wie hieß es bei Spiegel-Satire online neulich sinngemäß :
Gleise oben lassen, Mappus tiefer legen.
adam
adam
Mitglied

Re: Stuttgart 21
geschrieben von adam
als Antwort auf Marija vom 24.10.2010, 16:52:03
Gleise oben lassen, Mappus tiefer legen.


@Marija,

für Zweiteres bin ich sehr.

Ich habe knapp 40 Jahre im Raum Stuttgart gewohnt. => Remstal.

--

adam

luchs35
luchs35
Mitglied

Re: Stuttgart 21
geschrieben von luchs35
als Antwort auf adam vom 24.10.2010, 17:33:20
Aaaach, Adam, bist du etwa der Remstal-Rebell?
Zu S 21 würde jedenfalls würde dieser waschechte Stuttgarter passen. Der würde ganz allein Mappus tiefer legen!

Obwohl....ich glaube nicht, dass da noch was zu retten ist. Die Beschwichtigungsverhandlungen sind m.E. reine Augenwischerei, und Heiner Geisler setzt dafür seine Popularität ein.

Trotzdem wäre ich für ein auf die einzelnen Länder begrenztes Einspruchsrecht, das zumindest detaillierten Einblick in die Planungen und Kosten gibt und auch die Möglichkeit bietet, den Politikern und ihren Lobbysten auf die Finger zu sehen /zu klopfen. Das scheint mir nämlich das Wesentliche an dem ganzen Prozedere rund um S 21 zu sein.

Und Schorsch noch die Frage: Was passiert in andern Ländern, wenn über ein Vorhaben beschlossen wird? Man baut, wo es die Politiker allein bestimmen. Irgendwo halt- und wenn es dich dann trifft, ist dann die direkte Demokratie schuld? Du hättest Gösgen so oder so vor der Tür. Das Argument, die Masse überstimmt die Minderheit, hinkt also.

Und ganz allgemein möchte ich sagen, dass es nirgendwo ein völlig gerechtes System gibt, schon gar nicht, wenn die Bevölkerung keine ausreichende politische Reife besitzt, um das Steuer rechtzeitig in die Hand zu nehmen.

Luchs


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