Forum Politik und Gesellschaft Innenpolitik ... zum Paragraph 217 StGB

Innenpolitik ... zum Paragraph 217 StGB

lalelu
lalelu
Mitglied

RE: ... zum Paragraph 217 StGB
geschrieben von lalelu
als Antwort auf mane vom 21.10.2017, 19:42:58
Liebe Mane,

vielen lieben Dank – ja, ich hatte gestern einen wunderschönen (und lebhaften) Familientag. Zwar war ich am späten Abend platt, bin aber wieder munter und will jetzt den zweiten Teil deines gestrigen Beitrages beantworten.

Das Video zum Umgang mit Patientenverfügungen, welches du eingestellt hast, ist schwer zu verdauen. Ich hatte weiter vorne im Thread bereits Folgendes geschrieben:

Die Frage, ob die Pharma-Industrie und die Hersteller medizinischer Geräte in erster Linie am Wohl der Patienten oder an ihren Umsatzzahlen interessiert sind, steht im Raum“.

Ich kann nicht beurteilen, ob man das Ergebnis der Stichproben von MONITOR als repräsentativ für Deutschland betrachten kann, aber die Aussage von Dr. Thöns ist jedenfalls eindeutig. Ich zitiere ihn:

Ich erlebe immer mehr, dass Patienten eben nicht nach ihrem Wohl behandelt werden, sondern zunehmend als Objekt gesehen werden, damit man an Hand ihrer Krankheiten und mit den dann möglichen Operationen möglichst viel Geld einnehmen kann“.

Meine Befürchtungen werden in der Realität anscheinend noch übertroffen. Wenn fünf der sechs getesteten Pflegedienste dazu bereit sind, sich ohne jeden Skrupel über eine vorliegende Patientenverfügung hinwegzusetzen und einen Patienten gegen seinen erklärten Willen an ein Beatmungsgerät zu hängen, zeigt das deutlich, dass ihr eigenes finanzielles Wohl anscheinend mehr Gewicht hat als der Wunsch der betroffenen Patienten.

Bei 20.000 € bis 25.000 € pro Monat (!) und Beatmungspatient ergibt sich bei bei 15.000 Menschen, die in Deutschland an Beatmungsgeräten hängen, immerhin ein Betrag zwischen 300.000.000 € und 375.000.000 € pro Monat. Im Jahr sind das Milliardenbeträge, die gezahlt und kassiert werden.

Im Video wird auch gesagt, dass die Zahl der Pflege-WGs in den letzten Jahren sprunghaft angestiegen ist. „Ein Schelm, wer Böses dabei denkt“. Dass Pflegedienste und Gerätehersteller ebenso wie die Pharmaindustrie entschieden gegen Sterbehilfe votieren, rundet das Bild ab.

Ich wiederhole, was ich schon weiter vorne gesagt hatte:

Ohne zynisch werden zu wollen, frage ich mich ernsthaft, auf welcher Seite der Missbrauch häufiger vorkommt: bei denen, die für aktive Sterbehilfe eintreten oder bei denen, die sie kategorisch ablehnen“.

Wie ich gestern schon schrieb, finde ich es absolut in Ordnung, dass professionelle Sterbehilfe angemessen bezahlt wird. Das gilt natürlich auch für Pflegedienste und für lebensverlängernde Maßnahmen. Sowohl das eine als auch das andere darf aber nur dann angewandt werden, wenn der Patient ausdrücklich zugestimmt hat, sei es in der akuten Situation oder einer Patientenverfügung, die regelmäßig neu unterschrieben wird.

Ich bleibe bei meiner Auffassung: Wer sterben will, weil eine unheilbare Krankheit ihm das Leben unerträglich macht, soll dazu professionelle Hilfe bekommen, falls er es bei klarem Verstand wünscht. Wer trotzdem weiter leben will, bis er eines natürlichen Todes stirbt, soll das ebenfalls dürfen und jede mögliche Hilfe erhalten. Nur der EIGENE Wille soll maßgeblich sein!

Obwohl ich selbst Sterbehilfe befürworte, wenn eine unheilbare Krankheit vorliegt und das Leben unerträglich wird, hätte ich für meine Mutter niemals darum gebeten, egal wie schlecht es ihr gegangen wäre. Ich wusste, dass sie das als gläubige Katholikin strikt abgelehnt hätte und hätte ihren Willen respektiert. Zum Glück stellte sich diese Frage bei ihr nie. Sie starb nach einem kurzen Krankenlager im Alter von 92 Jahren eines natürlichen Todes.

Lalelu
 
mane
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RE: ... zum Paragraph 217 StGB
geschrieben von mane
als Antwort auf lalelu vom 21.10.2017, 12:34:09

Es hört sich sehr negativ an, wenn du schreibst: dessen Personal von der Durchführung der Tötung von Menschen ihr Einkommen bestreitet.

Anders ist es aber doch gar nicht möglich. Natürlich müssen die Ärzte und das Pflegepersonal ein Einkommen haben. Gerade bei Sterbehilfe ist es mir wichtig, dass qualifizierte und für diese sensible Aufgabe besonders geschulte Menschen damit betraut werden. Das sollte doch niemand ehrenamtlich nach Feierabend übernehmen.

Ich habe deinen Link zur Lebensende-Klinik angeklickt und in dem Text nichts gefunden, was ich verwerflich finde oder beanstande, ganz im Gegenteil. Der folgende Auszug entspricht genau meiner Meinung:

In den Niederlanden ist die aktive Sterbehilfe unter bestimmten Voraussetzungen legal. Dazu muss ein Patient aussichtslos krank sein, unerträglich leiden und selbst den Wunsch geäußert haben sterben zu wollen. Außerdem muss jeder Fall gemeldet werden“.

Das unterschreibe ich ohne Abstriche.

Liebe Lalelu,

wenn es, wie in den Niederlanden, Kliniken, Ärzte und weiteres Personal gibt, die ausschließlich aktive Sterbehilfe betreiben, werden diese auch gewinnbringend arbeiten müssen - was heißt, sie sind darauf angewiesen, dass es genug Menschen gibt, die ihre Dienste in Anspruch nehmen. Dazu entscheiden sich, wie in den eingestellten Studien zu lesen ist, immer mehr - auch die Indikationen, wo aktive Sterbehilfe geleistet wird, haben sich ausgeweitet. Der Gesetzestext, den du oben zitierst, ist meiner Meinung nach, nicht sehr konkret, d.h. sehr "schwammig" formuliert. Er gibt keine eindeutigen Erkrankungen vor und wird miittlerweile sehr großzügig interpretiert. Waren es 2002, als die aktive Sterbehilfe im Gesetz verankert wurde, fast nur Krebskranke, die es nutzten, bekommen heute bereits psychiatrische Erkrankungen, Demenz, Leute, die zusammen sterben wollen, wo einer sehr krank ist und der andere nicht alleine bleiben will und weitere hinzu.

Professor Theo Boer war 10 Jahre Mitglied einer Untersuchungskommission, die immer erst im Nachhinein (also wenn der Mensch bereits tot ist) zum Zuge kommt, um den rechtmäßigen Ablauf der aktiven Sterbehilfe zu kontrollieren. Er berichtet von einer 60-jährigen Frau, die zunehmend blind wurde, sonst aber vollkommen gesund war, als ihr Sterbehilfe zuteil wurde: "Das ist nicht die richtige Richtung, auch Blindenvereine reagieren sehr allergisch und sagen, dass so mit Behinderungen nicht umgegangen werden darf", sagt er in diesem Video:
 
Gruß Mane

 
mane
mane
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RE: ... zum Paragraph 217 StGB
geschrieben von mane
als Antwort auf lalelu vom 22.10.2017, 13:21:39
Lalelu:
Du schreibst weiter:
Bedenklich finde ich auch, dass manche niederländische Bürger eine "Credo Card" in ihrer Geldbörse haben, auf der ihr Lebenswunsch eingestanzt ist: "Maak mij neet dood, Dokter".

Ich finde diese Karte nicht bedenklich; für mich sorgt sie für Klarheit und erspart - ähnlich wie der Organspenderausweis - verantwortungsvollen Ärzten und Pflegern bei diesem in jeder Hinsicht schwierigen Thema das Rätselraten, was der Betreffende will 
Meine Bedenken gehen dahin, dass Menschen, die diese Karte bei sich tragen, Angst haben, dass sie gegen ihren Willen getötet werden. Sie sind misstrauisch, weil, wie Prof. Boer oben sagt; Sterbehilfe in den Niederlanden viel zu schnell und zu oft geleistet wird.


Lalelu:
Ich wiederhole, was ich schon weiter vorne gesagt hatte:

Ohne zynisch werden zu wollen, frage ich mich ernsthaft, auf welcher Seite der Missbrauch häufiger vorkommt: bei denen, die für aktive Sterbehilfe eintreten oder bei denen, die sie kategorisch ablehnen“.

Aus Kostengründen werden oft Leben erhalten, wenn man nach den Monitor-Recherchen geht, damit die teure Gerätemedizin weiterhin Gewinn abwerfen - aus Kostengründen, könnte man auch behaupten, wird zu häufig aktive Sterbehilfe praktiziert, weil die Kosten in den letzten Lebensjahren besonders hoch sind.
Mane

 

 


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lalelu
lalelu
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RE: ... zum Paragraph 217 StGB
geschrieben von lalelu
als Antwort auf mane vom 22.10.2017, 17:01:04

Liebe Mane,

du lässt Professor Theo Boer zu Wort kommen, der das Beispiel einer blinden Frau anführt, welche Sterbehilfe bekommt, obwohl sie ansonsten völlig gesund ist.

Ich stimme zu, dass so etwas nicht passieren darf. Sterbehilfe, wie ich sie befürworte, setzt zwingend eine unheilbare Krankheit voraus. Blindheit ist sicher schlimm, aber keine Krankheit. Deshalb hat der Arzt, der trotzdem Sterbehilfe gewährt, nicht nur meine persönlichen, sondern auch die Vorgaben in den Niederlanden missachtet, die ich noch einmal wiederhole:

In den Niederlanden ist die aktive Sterbehilfe unter bestimmten Voraussetzungen legal. Dazu muss ein Patient aussichtslos krank sein, unerträglich leiden und selbst den Wunsch geäußert haben sterben zu wollen.

Du schreibst dazu: Der Gesetzestext, den du oben zitierst, ist meiner Meinung nach, nicht sehr konkret, d.h. sehr "schwammig" formuliert. Er gibt keine eindeutigen Erkrankungen vor und wird miittlerweile sehr großzügig interpretiert“.

Du hast recht, aber er nennt die wesentlichen Eckpunkte: Aussichtslose Krankheit, unerträgliches Leiden, und Selbstbestimmung. Das reicht meiner Meinung nach völlig aus, wenn alle drei Punkte berücksichtigt werden.

Laut Professor Boer liegt der Prozentsatz der Menschen, die in Holland wegen Krebs im terminalen Stadium Sterbehilfe bekommen heute bei etwa 70% (2002 waren es ca. 92%). Natürlich ist das ein deutliches Indiz dafür, dass, wie er sagt, die Hemmschwelle gesunken ist, Sterbehilfe auch bei anderen Krankheiten in Anspruch zu nehmen.

Dabei darf man aber nicht verschweigen, dass sich die Zahl der Suizide ohne Beistand eines Arztes in den letzten fünf Jahren auch um 37% erhöht hat. Mit anderen Worten: es wird deutlich, dass betroffene Menschen heutzutage weniger dazu bereit sind, so demütig wie früher ein schlimmes Leiden aus „Gottes Hand“ anzunehmen. Das mag man beklagen, anprangern oder verurteilen, man wird diese Tendenz aber nicht durch strikte Verbote stoppen können.

Überhaupt nicht einverstanden bin ich mit Professor Boer, wenn er sagt, dass Sterbehilfe grundsätzlich nicht von Ärzten geleistet werden solle, weil es deren Aufgabe ist, Leben zu retten. Er beklagt, dass es in Holland zu 94% die Ärzte sind, die Sterbehilfe leisten. Im Gegensatz zu seiner Auffassung ist das für mich ausgesprochen positiv. Ich wünsche mir nicht, dass Sterbehilfe hauptsächlich von Laien geleistet wird. Natürlich ist es die vordringlichste Aufgabe eines Arztes, Leben zu retten, aber wenn dadurch lediglich Leiden ohne jede Lebensqualität verlängert wird, sehe ich keinen Sinn darin.

Liebe Mane, die unterschiedlichen Auffassungen im Detail machen es unmöglich, eine Lösung zu finden, mit der alle zu 100% einverstanden sind. Ich vermute, dass auch wir nicht zu einer völlig einvernehmlichen Meinung kommen, obwohl unsere Einstellung sich in vielen Punkten deckt.

Mich erschreckt der Gedanke nach wie vor weitaus mehr, als unheilbar kranker und leidender Mensch irgendwann keine Sterbehilfe zu erhalten und von anderen gezwungen zu werden, mein Leiden zu ertragen, als dass ich mich davor fürchte, gegen meinen Willen „totgemacht“ zu werden.

Ich akzeptiere, wenn andere das genau umgekehrt sehen und wünsche mir deshalb, wie ich schon wiederholt sagte, dass das Selbstbestimmungsrecht des unheilbar kranken, aber geistig voll orientierten Patienten immer Vorrang vor dem Willen der Ärzte und des Pflegepersonals hat.  

Augenblicklich habe ich keine neuen Argumente mehr, die ich vorbringen könnte. Falls dir noch etwas einfällt, bin ich aber gerne bereit, mich damit auseinanderzusetzen. Ansonsten bedanke ich mich für die faire Diskussion und beende von meiner Seite aus das Thema.

Liebe Grüße, Lalelu
 

Gerdd
Gerdd
Mitglied

RE: ... zum Paragraph 217 StGB
geschrieben von Gerdd
lalelu und mane
--- ich danke Euch für Eure fairen Beiträge, die ich sehr verfolge ---
herzlich de Gerdd

vielleicht dazu auch ein neuer Link:
Freitodhilfe (Schweiz)

 
mane
mane
Mitglied

RE: ... zum Paragraph 217 StGB
geschrieben von mane
als Antwort auf lalelu vom 23.10.2017, 08:26:56

Augenblicklich habe ich keine neuen Argumente mehr, die ich vorbringen könnte. Falls dir noch etwas einfällt, bin ich aber gerne bereit, mich damit auseinanderzusetzen. Ansonsten bedanke ich mich für die faire Diskussion und beende von meiner Seite aus das Thema.

Liebe Grüße, Lalelu

Liebe Lalelu,

ich denke auch, dass wir zu diesem Thema unsere Sichtweisen dargestellt haben und sehe auch im Moment keinen weiteren Grund zur Weiterführung der  Diskussion. Der Austausch mit dir hat mir gut gefallen.

Lieber Gerdd,

danke für den interessanten Link zur Situation in der Schweiz. Dort ist es jetzt Ärzten auch offiziell erlaubt, ein Rezept zur Freitodhilfe auch dann auszustellen, wenn die sterbewillige Person nicht unmittelbar vor dem Ende ihres Lebens steht. In dem Artikel steht weiterhin, dass bereits bei einem Viertel der bisherigen Freitodbegleitungen keine zum Tod führende Krankheit vorgelegen hätte und die Tendenz steigend gewesen wäre.

Gruß Mane

 

 

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