Internationale Politik Geschichte ist machbar!

ehemaligesMitglied24
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Geschichte ist machbar!
geschrieben von ehemaligesMitglied24
Wir leben in unruhigen (manche sagen: geschichtsträchtigen) Zeiten. Das Gefühl, das den Alltag des Kleinbürgers beherrscht, ist Ohnmacht, oft gar Angst. Viele gehen gebückt.

Ich habe auf eine Anregung hin Yuval Noah Harari gelesen (Eine kurze Geschichte der Menschheit). Dazu ist mir einiges ein- und aufgefallen, so dass ich für die Anregung dankbar bin.

Rudi Dutschke hat einmal in einem TV-Interview gesagt: „Wir sind nicht mehr die Idioten der Geschichte.“ Wieso ist das so? Ganz einfach – und doch offenbar recht schwer: Über die Jahrhunderttausende haben Herrschende aller Couleur samt den Religionen aller möglichen Richtungen den Menschen erzählt, dass sie zurecht erniedrigt, beleidigt und geknechtet waren. Wir haben nun seit Marx ein Instrumentarium, mit dem wir Geschichte (auch Wirtschaft, Politik und anderes) untersuchen können. Und wir wissen seither, dass wir die Geschichte machen (können). Ernst Bloch sagt, wir können zum zweiten Mal den aufrechten Gang einführen. Das geht aber nur, wenn wir den Verhältnissen auf den Grund gehen, also radikal werden. Beginnen sollten wir im Alltag und begreifen lernen, was da passiert. Mit Tucholsky zu sprechen:

Kaufen, was einem die Kartelle vorwerfen; lesen, was einem die Zensoren erlauben; glauben, was einem die Kirche und Partei gebieten. Beinkleider werden zur Zeit mittelweit getragen. Freiheit gar nicht.

Und: Augen auf bei der Auswahl der Analyse-Instrumente. Wenn mir jemand Dutzende Seiten lang den Kapitalismus erklärt, dabei aber den zentralen Zusammenhang des kapitalistischen Verwertungsgesetzes nicht einmal erwähnt (Harari ab S. 379), dann beherrscht er entweder sein Thema nicht oder will etwas bestimmtes beim Leser erreichen. Die Beschäftigung mit Geschichte sollte Erkenntnisse („Aha-Effekte“) beim Leser bewirken (helfen). Beim Lesen von Hararis Buch hatte ich neun (auf die ich hier nicht eingehe).

Eine Geschichtsauffassung, die Mut macht und Trotz erzeugt, weil sie auf aktiver Hoffnung gründet, formuliert der bereits genannte Ernst Bloch:

Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.
(Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, S. 1628)

So „geht“ Geschichte: Sich dem gebeutelten, drangsalierten Menschen solidarisch nähern. Nicht aber eine „Alien“-Perspektive einnehmen.

In diesem Sinne: In die Hände gespuckt!

Dooscastle
hobbyradler
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Re: Geschichte ist machbar!
geschrieben von hobbyradler
als Antwort auf ehemaligesMitglied24 vom 19.07.2016, 09:17:13
...Augen auf bei der Auswahl der Analyse-Instrumente....
geschrieben von Dooscastle

Das trifft natürlich auch auf deinen Beitrag zu.

Allein bei deinem von Bloch vorgetragen Satz, „Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt, als einer rechten“, stellt sich mir die Frage der Sinnhaftigkeit.

a) Wer bestimmt was eine „rechte“, damit ist sicherlich gemeint „gute“ Welt ist?

b) Das zu jeder Gegenwart künftig von Vorgeschichte gesprochen werden wird, ist wohl eine Binsenweisheit.

Zu überlegen wie künftig eine für ALLE Menschen lebenswerte Welt erreicht werden kann, wäre sicherlich erstrebenswert. Allerdings jenseits linker, rechter oder anderer Ideologien.

Ciao
Hobbyradler
ehemaligesMitglied24
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Re: Geschichte ist machbar!
geschrieben von ehemaligesMitglied24
als Antwort auf hobbyradler vom 19.07.2016, 10:12:36
Hallo hobbyradler,

zu 1: Das wäre in der Tat auszuhandeln und sicher ein spannender Prozess. Ein Ergebnis wäre nicht zu verfügen.

zu 2: Da hast du etwas missverstanden. Es geht darum, dass wir mittlerweile wissen, dass die Verhältnisse nicht (wie man uns ewig lange erzählt hat) natur-, gott- oder sonstwie gegeben sind, sondern von Menschen gemacht. Vor dieser Erkenntnis sah es ja so aus, als wäre zwischen der Existenz von Mensch und Lurch nicht viel Unterschied. Dahin gehört auch die Formulierung vom aufrechten Gang, den es aktuell zu erreichen gilt. Dass wir begreifen, dass wir Geschichte und damit Menschsein selbst gestalten können, beendet nach Bloch erst die Vorgeschichte. Das das aber hochkomplex ist (vgl. Bemerkung 1), ist das alles andere als trivial.

Deine letzte Bemerkung trifft den Punkt genau. Wobei man festhalten muss, dass z. B. Das Kapital
nichts mit Ideologie zu tun hat, sondern lediglich mit Analyse der Gegebenheiten, vergleichbar vielleicht Max Webers Wirtschaft und Gesellschaft.

LG!

Dooscastle

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hobbyradler
hobbyradler
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Re: Geschichte ist machbar!
geschrieben von hobbyradler
als Antwort auf ehemaligesMitglied24 vom 19.07.2016, 12:43:12
...zu 2: Da hast du etwas missverstanden. Es geht darum, dass wir mittlerweile wissen, dass die Verhältnisse nicht (wie man uns ewig lange erzählt hat) natur-, gott- oder sonstwie gegeben sind, sondern von Menschen gemacht. Vor dieser Erkenntnis sah es ja so aus, als wäre zwischen der Existenz von Mensch und Lurch nicht viel Unterschied....
geschrieben von dooscastle

Hallo dooscastle,

Das sehe ich völlig anders, natürlich sind unsere Verhältnisse naturgegeben und gebunden. Nichts, zumindest uns nichts Bekanntes, läuft in unserem Universum ohne Naturgesetze ab. Der Mensch ist also gut beraten diese zu akzeptieren und ernst zu nehmen. Ich meine das Wort Naturschutz ist völlig falsch gewählt, es würde besser durch Menschenschutz ersetzt. Denn die Natur wird den Menschen überleben.

Aber du meinst vermutlich das Zusammenleben der Menschen? Da bin ich mir tatsächlich nicht sicher ob wir Fortschritte gegenüber den Steinzeitmenschen machen konnten, wenn auch mit mehr Wissen ausgestattet und dem Wort „Humanität“ vor uns her tragend.

Ciao
Hobbyradler
Karl
Karl
Administrator

Re: Geschichte ist machbar!
geschrieben von Karl
als Antwort auf ehemaligesMitglied24 vom 19.07.2016, 09:17:13
So „geht“ Geschichte: Sich dem gebeutelten, drangsalierten Menschen solidarisch nähern. Nicht aber eine „Alien“-Perspektive einnehmen.
geschrieben von dooscastle
Ich tue mich immer schwer mit Aussagen, die keinen Zweifel aufkommen lassen sollen.

Die "Alien"-Perspektive, das hatte ich in meiner Rezension von Harari wohl so formuliert, sollte einfach nur ausdrücken, dass sich Harari um eine objektive Sicht aus großer Distanz bemüht. Dies bedeutet natürlich nicht, dass er vollständig objektiv ist, niemand kann seine eigene Sicht vollständig verleugnen, auch Marx und Engels nicht.

"Sich dem gebeutelten, drangsalierten Menschen solidarisch nähern" ist durchaus etwas, zu dem auch ich mich hingezogen fühle, aber objektiv ist gerade das nicht, denn es drückt bereits eine Wertung vor aller Erfahrung aus. Objektivität würde bedeuten, die Menschheit als Ganzes im Auge zu haben oder vielleicht noch objektiver, die gesamte Biosphäre, nicht nur den drangsalierten Part, auch die potentiellen Drangsalierer.

Wir stehen heute nicht mehr so sehr vor den Herausforderungen, die Marx und Engels formuliert haben, sondern vor völlig neuen Herausforderungen, die diese beiden noch nicht voraussehen konnten. Die digitale Revolution hebt den globalen Lebensstandard (aus der großen Distanz eines Aliens betrachtet), aber führt zu einer neuartigen Form der Versklavung und die Entwicklung einer digitalen "Superintelligenz wäre die größte und bedrohlichste Herausforderung, vor der die Menschheit je gestanden hat" (ein Zitat von der Rückseite des Buchdeckels von " Superintelligenz. Szenarien einer kommenden Revolution" von Nick Bostrom). Dieses Buch ist quasi die Fortsetzung des letzten Kapitels von Harari, der den Menschen auf dem Weg vom Affen zu Gott wähnt, wobei Bostrom der Ansicht ist, dass der Mensch auf diesem Weg verloren gehen könnte.

Ich glaube persönlich nicht, dass uns eine Gesellschaftsanalyse aus dem 19. Jahrhundert viel bei der Bewältigung der Zukunft helfen kann, vor allem dann nicht, wenn wir sie wie eine Glaubensbekenntnis vor uns hertragen.

Karl
sittingbull
sittingbull
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Re: Geschichte ist machbar!
geschrieben von sittingbull
als Antwort auf Karl vom 20.07.2016, 11:35:39
Wir stehen heute nicht mehr so sehr vor den Herausforderungen, die Marx und Engels formuliert haben, sondern vor völlig neuen Herausforderungen, die diese beiden noch nicht voraussehen konnten.
geschrieben von karl


nun waren Marx und Engels ja auch keine Varietékünstler , die mit irgendeiner form von Hellseherei ihr publikum verblüffen wollten .

tatsächlich haben sie "die menschwerdung des affen" einer
wissenschaftlich begründeten analyse : der zusammenhänge von soziologischen und ökonomischen paramtern unterzogen und gesetzmässigkeiten hergeleitet ,
die auch unter "völlig neuen herausvorderungen" bestehen können .

das sie damit falsch lagen oder historisch überholt sind , behaupten in der regel nur jene , die nicht gelesen oder das gelesene nicht verstanden
haben ... oder aber jene , die von dem Status Quo profitieren .

sitting bull

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ehemaligesMitglied24
ehemaligesMitglied24
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Re: Geschichte ist machbar!
geschrieben von ehemaligesMitglied24
als Antwort auf hobbyradler vom 20.07.2016, 09:47:05
Hallo hobbyradler,

ich komme gerade von einer Bergwanderung; ich glaube, du hast es bei der Hitze etwas besser, durch den Fahrtwind. Egal - das heutige Pensum war also etwas früher zu absolvieren, um dem Brutofen ein wenig auszuweichen.

Zum Thema:

Ich dachte, das erschließt sich aus dem Zitat: Bloch spricht von den gesellschaftlichen Verhältnissen. Und die sind durch Menschen gemacht. Wenn ich das begreife, dann weiß ich auch, dass ich sie verändern kann, z. B. indem ich (mit anderen Menschen zusammen) andere (gesellschaftliche Verhältnisse) "mache".

Solange man uns allerdings erzählen konnte, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse unverrückbar seien (wie die von dir angesprochenen Naturgesetze, also Schwerkraft etc.), war Veränderung schwer möglich, weil Nicht-Veränderbares und Veränderbares in denselben Topf geworfen wurde ("Naturgesetze": Schwerkraft, Gottesgnadentum, Hebelgesetz, Diktatur ...).

Darin eingeschlossen ist im übrigen die dialektische Erkenntnis: Der Mensch unterwirft sich die Natur, indem er sich ihr unterwirft (will sagen: Ohne die Kenntnis der Naturgesetze und ihre Anwendung wäre es dem Menschen nicht möglich zu fliegen, zu tauchen etc.). Du siehst, da bist du ganz bei Engels (diesmal im "Anti-Dührung").

Deiner letzten Bemerkung möchte ich völlig zustimmen; und da sind wir wieder bei Ernst Bloch. Sagen wir so: Wenn wir uns vorstellen, wir richten uns (im übertragenen Sinne) aus unserer bisher gebückten Haltung auf - das würde wahrscheinlich bedeuten, dass wir die (gesellschaftlichen Herrschafts-)Verhältnisse überblicken könnten. So könnten wir sogar die Richtung bestimmen, in die es unseres Erachtens demnächst gehen sollte.

Nebenbei, und nicht an dich gerichtet: In diesen Bemerkungen findet sich nichts, was veralten könnte.

So, jetzt geh' ich duschen.

Bis dann!

Dooscastle
ehemaligesMitglied24
ehemaligesMitglied24
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Re: Geschichte ist machbar!
geschrieben von ehemaligesMitglied24
als Antwort auf Karl vom 20.07.2016, 11:35:39
Hallo Karl,

nagt da der Selbstzweifel ein wenig? Oder habe ich da etwas überlesen?

Mit der Subjekt/Objekt-Problemstellung ist es ein wenig komplexer als du es hier darstellst. Hier nur (damit der Rahmen gewahrt bleibt) die Andeutung, dass in den Geisteswissenschaften das Verhältnis gern genau andersherum gedacht wird. Und zwar spätestens seit Hegel.

Das heißt hier konkret, dass Marx/Engels ihre „eigene“ Sicht in ihren Polemiken (nimm als Beispiel die „Deutsche Ideologie“) überhaupt nicht hintanstellen, schon gar nicht „verleugnen“. Da, wo sie aber die Verhältnisse kühl analysieren, geht es nirgends um „eigene“ Sichten. Das wüsstest du, hättest du mal einen Blick in eine der Schriften geworfen. Damit lande ich bei deinem letzten Satz. Lieber Karl, wenn ich deine Rezension des Harari-Buches lese, erhebt sich doch die Frage, wer hier was vor sich herträgt.

Zwischenruf: Ich dachte vor einigen Tagen, dass du ein Thema zur Diskussion gestellt hättest („Friede in unseren Tagen“) und habe dazu einige Bemerkungen gemacht. Erst als du geantwortet hast, dass ich ja wohl das Buch nicht/nicht zu Ende gelesen hätte, habe ich begriffen, dass es um H geht/ging. Ich habe mich ein wenig geschämt, weil ich in der Tat erst ca. 220 Seiten rum hatte. Aber: Ich habe es dann bis zum (in meiner Sicht bitteren) Ende durchgearbeitet. Sonst würde ich dazu keine Bemerkungen loslassen. Ende des Zwischenrufs.

Wir stehen m. E. ganz klar vor Herausforderungen derselben Art, deren Gesetzmäßigkeiten M/E herausgearbeitet haben. Das ging mal los mit dem Verwertungsgesetz, das dem Ausdruck
G – W – G’ /G’ >G zu Grunde liegt, der auch die ständig steigende Mehrwertproduktion beschreibt. Der Mehrwert MUSS wachsen. Der Kapitalist MUSS Geld zu mehr Geld machen, sonst kann er nach Hause gehen. Da liegt der Hund begraben, der kapitalistische. Wer das nicht sieht, hat nichts verstanden, besser: kann nichts verstehen von dem, was abgeht.

Das aber lässt H einfach unter den Tisch fallen. Aber nicht, um es da liegen zu lassen, sondern um mir zu erklären, dass der Kuchen (ich denke die Wertschöpfung) auf geheimnisvolle Art ständig wächst. Ein einziges Mal kommt H der Wahrheit nahe: „Jahr für Jahr kehrten reich mit Schätzen beladene Flotten aus Amerika und Asien in die Häfen von Sevilla und Cadiz zurück.“ Man wurde reicher, machte Gewinn; dass letzterer schlicht „Raub“ genannt werden muss, verschweigt des Sängers Höflichkeit. (An dieser Stelle kurz zu meinen neun Aha-Erlebnissen: „Kolonien erwirtschafteten Gewinne.“ (S. 387) Aha.)

Ein weiteres Beispiel für Hs „Objektivität“: Er verwendet häufig den Begriff „Rasse“ (meist ohne, manchmal mit Anführungszeichen, und zwar für Menschen. Der Begriff „Rasse“ wird allerdings heutzutage nur im Zusammenhang mit domestizierten Tieren benutzt.

Schließlich (sonst wird’s zu lang) das Patriarchat, eines der, wie ich finde, spannendsten Themen. Das handelt H auf einem Dutzend Seiten ab, erwähnt einmal (S. 196) das Matriarchat, und zwar das der Bonobos, und das war’s. Kein Wort zu matrifokalen Gesellschaften, nichts zu Bachofen, Morgan, Göttner-Abendroth, nichts über das Mabinogion. Kein Wort zu Delawaren und Hopi.

Ich muss doch sehr bitten!

Vielleicht kehren wir aber mal wieder zum Ausgangsthema zurück?

Es grüßt freundlich:

Dooscastle
ehemaligesMitglied24
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Re: Geschichte ist machbar!
geschrieben von ehemaligesMitglied24
als Antwort auf sittingbull vom 20.07.2016, 12:28:59
Hallo Häuptling,

zu deinem letzten Satz: Erschreckend richtig! Insbesondere kurz nach '89: "Jetzt ist ja wohl klar, dass Marx Blödsinn erzählt hat!". Auf jeder zweiten Fete saß so einer rum. Ich bin dazu übergegangen zu fragen: "Was hast du gelesen?" Meist war dann Ruhe im Karton. Wobei ich wirklich gern diskutiert hätte, aber eben nicht im luftleeren Raum.

Bis denndann!

Dooscastle

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