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Internationale Politik Geschichtliche Entwicklungen: vom Totalitarismus direkt zur parlamentarischen Demokratie?

miriam
miriam
Mitglied

Geschichtliche Entwicklungen: vom Totalitarismus direkt zur parlamentarischen Demokratie?
geschrieben von miriam
Wenn wir in den heutigen Tagen zu den Arabischen Staaten blicken – und von einer Demokratisierung sprechen, bedeutet dies noch lange nicht, dass in diesen Staaten die Bedingungen bestehen - die den nahtlosen Übergang zu einer Demokratie erlauben würden, geschweige denn zu einer parlamentarischen Demokratie.

Ohne auf diesem Gebiet ausreichende Kenntnisse zu besitzen, eröffne ich dieses Thema, eher als Fragestellung, und hoffe, dass sich auch Stimmen hier melden, die uns erlauben könnten diesbezüglich klarer zu sehen.

Parlamentarische Demokratie, setzt voraus, dass in einem Staat die Bürger Grundrechte besitzen, dass es eine Verfassung gibt die diese garantiert – und dass eine Gewaltenteilung besteht.

Wenn aber die Mehrheit eines Volkes diese Grundrechte anstrebt – ist vielleicht der Weg zu einer Demokratisierung eingeleitet. Und es folgt m.E. ein langer Prozess bis man von einer reell existierenden (parlamentarischen?) Demokratie sprechen kann.

Die Länder Westeuropas hatten schon einen langen Weg der Demokratisierung zurückgelegt, bis der Wunsch oder der Übergang zu parlamentarischen Demokratien, umgesetzt werden konnte.
Diese Tradition fehlt, meines Erachtens, in den Arabischen Ländern.

Nochmals zur Erinnerung: in Libyen besteht ein allgemeines Verbot zum Bestehen von Parteien, in Syrien gibt es seit 1963 den Ausnahmezustand.
Bestrebungen einzelner Oppositioneller dies zu beheben, werden durch Folter bestraft.

Miriam (eher fragend)
carlos1
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Re: Geschichtliche Entwicklungen: vom Totalitarismus direkt zur parlamentarischen Demokratie?
geschrieben von carlos1
als Antwort auf miriam vom 30.01.2011, 10:21:47
"Wenn wir in den heutigen Tagen zu den Arabischen Staaten blicken – und von einer Demokratisierung sprechen, bedeutet dies noch lange nicht, dass in diesen Staaten die Bedingungen bestehen - die den nahtlosen Übergang zu einer Demokratie erlauben würden, geschweige denn zu einer parlamentarischen Demokratie."

"Parlamentarische Demokratie, setzt voraus, dass in einem Staat die Bürger Grundrechte besitzen, dass es eine Verfassung gibt die diese garantiert – und dass eine Gewaltenteilung besteht." miriam



Danke miriam für diesen nachdenklichen Beitrag. Dies Thema ist immer aktuell, weil es uns zwingt über die Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens und des Staates nachzudenken.

Demokratie bedeutet wörtlich übersetzt Herrschaft des Volkes. Damit ist das Problem verbunden, wie eine große Zahl von Menschen sich selbst regieren, sich selbst Gesetze geben kann, diese selbst ausführt wobei die Bürger das sicher Gefühl haben, dass sie selbst es sind, die Herrschaft ausüben. Alles Gerede führt nicht an der Tatsache vorbei, dass Herrschaft des Volkes Herrschaft von Menschen über andere bedeutet. Daran führt kein Weg vorbei. Die Möglichkeit, dass jeder in seinem Leben mal an der Spitze des Staates steheh könnte, ist nicht nur theoretisch möglich, sondern wurde auch in der ersten Demokratie überhaupt Wirklichkeit. Allerdings umfasste die Zahl der Bürger, die alle Rechte besaßen, auf diejenigen begrenzt, die Besitz hatten. Frauen waren von der Teilnahme an der Volksversammlung ausgeschlossen. Damit wird zweierlei deutlich: Demokratie als Herrschaft, die die Herrschaft eines Einzelnen (Monarch, Tyrann) ablöst, ist sehr anspruchsvoll. Sie erfordert Zeit und Kenntnisse. Sie ist anstrengend, weil sie zur Ausübung Überzeugungskraft erfordert und für die Beteiligten gefährlich ist. Dankbarkeit kann nicht erwartet werden. Erfolgreiche Politiker haben Neider und Verdienst zählt wenig, denn Demokratie ist auch die Bühne, auf der Ganoven und Blender sich tummeln.

Die heutige parlamentarische Demokratie hat sich im Verlauf der europäischen Geschichte herausgebildet im Kampf der Stände gegen die Krone. Das bekannteste Dokument ist die Magna Charta von 1215, in dem sich der Adel gegenüber König Johann das Recht ausbedang, bei der Erhebung des Schildgeldes befragt zu werden. Der Adel, verbündet mit den Städten wollte sich gegen die zu häufigen Forderungen der Krone bei der Besteuerung zur Wehr setzen und forderte Mitsprache. Im Kern ging es bereits um die Gewaltenteilung, die dann später sich in der Glorious Revolution von 1689 durchsetzte. Das Parlament war die Versammlung, die dem König bei der Beratung über die Steuererhebung gegenübertrat. Dieser musste diese Versammlung einberufen, wenn er Geld benötigte für Feldzüge oder die Hofhaltung. Wer der Besteuerung durch den Herrscher aber zustimmen kann, kontrolliert dessen Macht, beschränkt dessen Machtausübung. Mit der Magna Charta von 1215 begann ein jahrhundertelanger Prozess langer Kämpfe um diese Rechte. Auch um das Recht der körperlichen Unversehrtheit (Habeas Corpus). Niemand sollte eingekerkert werden ohne binnen 24 Stunden rechtliches Gehör zu finden. Der herrscherlichen Willkür sollte Einhalt geboten werden. Diese Forderungen gingen in die Formulierungen der Menschenrechte ein. In Dtld wurden sie als Abwehrrechte gegen die Monarchie in der Revolution von 1848 erhoben.


Eine geschriebene Verfassung im eigentlichen Sinne - wie das Grundgesetz - besitzt Großbritannien bis heute nicht. Für die Demokratie ist eine Verfassung in England auch nicht unbedingt erforderlich. Eine schriftliche Verfassung hat nur dann einen Sinn, wenn deren Grundsätze von den Bürgern gelebt werden. Das Bewusstsein, dass Freiheit durch Beschränkung der Macht, durch freiheitliche Gesetze und dem Willen der Bürger gesichert wird, ist in den ständischen Kämpfen des Mittelalters und der frühen Neuzeit in der Gesellschaft gewachsen. Die freiheitlichste Verfassung ist nutzlos, wenn Freiheitsrechte missbraucht werden. Daran sollten wir denken, wenn wir an die Entwicklung einer Demokratie in der arabischen Welt sprechen.


Ich bin nicht der Meinung, dass mit den Aufständen in den arabischen Staaten wie in Tunesien das demokratische Zeitalter anbrechen wird. Sehr wohl kann aber ein langwährender Prozess der Transformation angestoßen werden. Wir sollten nicht von einer Demokratie im westlichen Sinne zu träumen. Die gebildeten, armen Mittelschichten wollten Verbrecher-Clans los werden. Wer den Fall der Luxusyacht Beru Ma kennt, die vor der Küste Korsikas gestohlen wurde und die dann plötzlich mit anderem Anstrich und geänderten Papieren in einem tunesischen Hafen auftauchte, weiß genug. Der Mann hinter dem Gaunerstück war Imed Trabelsi, Neffe der Präsidentengattin. Pech nur für ihn, dass der Yachteigner, ein französ. Banker, mit Präsident Sarkozy befreundet war. Deshalb ging dieses Gaunerstück nicht so wie gewohnt über die Bühne. Dafür wurde es bekannt. Tunesien war kein totalitärer Staat im eigentlichen Sinne, aber eine hoch entwickelte Kleptokratie, regiert von einer Mafia. In anderen arabischen Staaten gibt es auch Mafiastrukturen. Die Veränderungen werden in diesen registriert werden. Auch im Iran. Sie zeigen, aber auch, wie trügerisch die Hoffnungen auf eine Demokratisierung durch militärische Gewalt und "nation-building" in Irak und Afghansitan waren und sind. Für wahrscheinlicher als eine Demokratie mit Freiheitsrechten halte ich eher autoriäre Erziehungsdiktaturen. Es ist völlig falsch jeden Islamisten als potenziellen Terroristen anzusehen. Die Türkei dürfte hier ein Beipsiel sein, wo eine Islamistenpartei an der Regierung ist. Die Diktaturen haben in der arabischen Welt ein geistiges Vakuum hinterlassen. Wer wird es ausfüllen? Wer anders als der Islam ist im Besitz einer moralischen Autorität?

Immer diese langen Beiträge, ich will mich bessern. Besser wäre es aber, die Welt würde sich bessern.
Karl
Karl
Administrator

Re: Geschichtliche Entwicklungen: vom Totalitarismus direkt zur parlamentarischen Demokratie?
geschrieben von Karl
als Antwort auf carlos1 vom 01.02.2011, 17:51:17
Die Länder Westeuropas hatten schon einen langen Weg der Demokratisierung zurückgelegt, bis der Wunsch oder der Übergang zu parlamentarischen Demokratien, umgesetzt werden konnte.
Diese Tradition fehlt, meines Erachtens, in den Arabischen Ländern.
Liebe Miriam,

ich möchte an die Situation in Deutschland erinnern. Wenn wir ehrlich sind, dann wurde uns die Demokratie nach dem Krieg von den Westmächten übergestülpt. Zwar hatten etliche Deutsche noch Erfahrungen mit der Weimarer Republik, aber das waren häufig eher schlechte. "Die Deutschen" waren im Durchschnitt (ich möchte nicht verallgemeinern) wahrhaftig keine erprobten Demokraten. Die parlamentarische Organisationsform von Politik wurde uns (bzw. unseren Eltern) von den klugen Vätern des Grundgesetzes vor die Nase gesetzt und sie hat funktioniert! Das Grundgesetz steht im Internet und kann jederzeit abgeschrieben werden. Obwohl ich weit von der Naivität entfernt bin zu glauben, dass sich nun alles 1:1 auf die ägyptische Situation übertragen lässt, glaube ich doch, dass heute gesellschaftspolitische Lernprozesse schneller ablaufen als früher, denn Informationen werden schnell ausgetauscht. Westlicher Lebensstil ist allgegenwärtig, verheißungsvoll wie abschreckend.

Was Ägypten vielleicht fehlt, um erfolgreich zu sein, wäre eine charismatische Persönlichkeit wie Nelson Mandela, die eine neue demokratische Gesellschaftsordnung ehrlich und authentisch einführen könnte. Mohammed el-Baradei habe ich zwar für seinen Mut gegenüber den Amerikanern bewundert, aber viel Charisma hat er nicht. Die Gefahr besteht, dass Ägypten nach einer Übergangszeit wieder in das alte autoritäre Zwangsregime zurückfällt. Vergessen sollten wir aber nicht, dass selbst in diesem korrupten System einige Elemente von Demokratie bereits verankert waren (wenn auch nicht ernst genommen). Es gab Wahlen, es gab ein Parlament, es gab eine Art "Parteien" etc.

Was ich aber vor allem sagen wollte ist, dass es natürlich gut ist, wenn demokratische Strukturen über Jahrhunderte gewachsen sind, aber wir dürfen daraus nicht folgern, dass Demokratie so lange wachsen muss, um zu gelingen. Es muss der breite Wille da sein, sie gelingen zu lassen.

Karl

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hafel
hafel
Mitglied

Re: Geschichtliche Entwicklungen: vom Totalitarismus direkt zur parlamentarischen Demokratie?
geschrieben von hafel
als Antwort auf Karl vom 01.02.2011, 21:12:03
Richtig; .. und es gab da auch eine Kontrolle. Die Alliierten kontrollierten dabei, ob die ersten Gehversuche in Sachen Demokratie in die richtige Richtung gingen.

Umgesetzt auf andere Staaten würde das heißen, dass diese durch "Kontrollorgane" besetzt werden müssten -- was wohl kaum vorstellbar ist.

Hafel
miriam
miriam
Mitglied

Re: Geschichtliche Entwicklungen: vom Totalitarismus direkt zur parlamentarischen Demokratie?
geschrieben von miriam
als Antwort auf hafel vom 01.02.2011, 21:34:02
Eine tolle Überraschung – dieses Thema welches ich letztendlich als Monolog betrachtet habe, wurde heute doch fortgesetzt – und ich fand Eure Antworten vor, nach einem ziemlich anstrengenden Tag, an dem ich wegen mehrerer Termine, in dieser eisigen Kälte, meinen Mut (!) beweisen musste.

Danke Euch allen – in erster Linie aber Carlos, der immer wieder auf seinen Entdeckungsreisen die Themen findet, die von der ersten Seite schon verschwunden waren.

Was mich betrifft, dachte ich heute unterwegs, wieder an dieses Thema bzw. an die Entwicklung in Ägypten – und da fiel mir plötzlich ein Buch ein, welches ich als noch sehr junger Mensch gelesen hatte: "Die Insel der Pinguine" – von Anatole France.

Zuhause habe ich dann nochmals nachgelesen (in Wikipedia befindet sich dieses bemerkenswerte Buch in der Originalsprache – also im Französisch und auch in englischer Übersetzung) – und dabei stieß ich auf das Kapitel über die Zukunft.

Ich übernehme nun die Zusammenfassung dieses Teils aus Wikipedia:


"Im achten Buch unternimmt France einen kühnen Sprung in die Zukunft. Über eine Gesellschaft, die sich technologisch immer weiter entwickelt, kulturell jedoch verkümmert, herrscht eine Schicht von Plutokraten, deren einziges Ziel es ist, immer mehr Reichtümer anzuhäufen. Dieses Regime, „das auf die stärksten Pfeiler der menschlichen Natur gebaut war, auf Dünkel und auf Gier“, ruft jedoch eine Revolte von terroristischen Attentätern hervor, denen es gelingt, mit hochentwickelten Sprengstoffen Zerstörungen unvorstellbaren Ausmaßes anzurichten. Das Ergebnis ist, dass nicht nur die Zivilisation, sondern ebenfalls die Erinnerung an sie verschwindet.
Die Geschichte hebt zu einem neuen Zyklus an, der in denselben Bahnen verlaufen wird."

Ende des Zitats.

Wie Ihr feststellt, habe ich hier von der speziellen Konstellation in Ägypten, erst einmal abgesehen.
Es häufen sich in den Arabischen Ländern, die Umbrüche – und jedes Land hat natürlich ihre eigene Geschichte dabei.
Ich aber habe im Laufe meines nun fast achtzig Jahre zählenden Lebens, so viele unterschiedliche Umbrüche gesehen – dass ich zuerst einmal sehr skeptisch bin.

Entschuldigt diese vielleicht zu allgemeine und auch zu pessimistische Schlussfolgerung.

Morgen muss ich nicht hinaus in die Kälte – werde dann aufs Thema zurückkommen.

Gute Nacht

Miriam

Bezug nehmend auf einem anderen Thread:
Ist es nicht bemerkenswert wie einige hier im ST das Thema über Ägypten wieder sinnvoll nutzen - um auf Israel mit ihrer Munition loszuballern?


Ich finde dies beschämend!

schorsch
schorsch
Mitglied

Re: Geschichtliche Entwicklungen: vom Totalitarismus direkt zur parlamentarischen Demokratie?
geschrieben von schorsch
als Antwort auf miriam vom 30.01.2011, 10:21:47
Demokratie in einem Land, in dem 1 Mann über Millionen Leibeigene herrscht, heisst, dass der Leibeigene wählen kann, welchen Finger er bei einem kleinen Vergehen abgehackt haben möchte!

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miriam
miriam
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Re: Geschichtliche Entwicklungen: vom Totalitarismus direkt zur parlamentarischen Demokratie?
geschrieben von miriam
Nun mal zurück zu den Beiträgen von gestern, die viel Nachdenkenswertes enthalten, so Vieles, dass es mir jetzt nur gelingen wird, einige Punkte anzusprechen.

Carlos schreibt:


"Demokratie bedeutet wörtlich übersetzt Herrschaft des Volkes. Damit ist das Problem verbunden, wie eine große Zahl von Menschen sich selbst regieren, sich selbst Gesetze geben kann, diese selbst ausführt wobei die Bürger das sichere Gefühl haben, dass sie selbst es sind, die Herrschaft ausüben. Alles Gerede führt nicht an der Tatsache vorbei, dass Herrschaft des Volkes Herrschaft von Menschen über andere bedeutet."

Zitat Ende.

Mit anderen Worten: wir wären also wieder bei den Herrschenden und den Beherrschten – wobei ich feststelle, dass diese Einteilung und das eventuelle Beherrscht werden von den Verhältnissen oder den Kräften aus einem anderen Land hier abhängig ist, und dadurch für uns (für mich?) eher schwer zu durchschauen ist, da es auch eine Menge unbekannte Faktoren enthält. Und es ist – nach meinem Empfinden dieser Faktor des Unbekannten - des nicht Durchschaubaren, welcher regelrecht Angst erzeugen kann.

Weiter schreibt Carlos:


Die heutige parlamentarische Demokratie hat sich im Verlauf der europäischen Geschichte herausgebildet im Kampf der Stände gegen die Krone.

Zitat Ende.

Dieser lange Weg hatte natürlich seinen Sinn und auch seine Logik – aus bestehenden Fakten konnte sich noch etwas anderes, Neues entwickeln, und dies auf der Basis der Erfahrung dessen was man zu einem gewissen Zeitpunkt schon erreicht hatte.
Dadurch war es auch überprüfbar, also auch auf der Basis dessen was man dabei feststellte, noch veränderbar.

Karl schreibt im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Wegen der Demokratisierung:



"ich möchte an die Situation in Deutschland erinnern. Wenn wir ehrlich sind, dann wurde uns die Demokratie nach dem Krieg von den Westmächten übergestülpt. Zwar hatten etliche Deutsche noch Erfahrungen mit der Weimarer Republik, aber das waren häufig eher schlechte. "Die Deutschen" waren im Durchschnitt (ich möchte nicht verallgemeinern) wahrhaftig keine erprobten Demokraten. Die parlamentarische Organisationsform von Politik wurde uns (bzw. unseren Eltern) von den klugen Vätern des Grundgesetzes vor die Nase gesetzt und sie hat funktioniert!"

Zitat Ende.

Karl – hat da nicht auch die Tatsache eine gewisse Rolle gespielt, dass zu dem Zeitpunkt die Deutschen ein besiegtes Volk waren – und auf die damals sehr nahe Vergangenheit zurückblickten, die alles andere als ein Ruhmesblatt war?

Ja – in der Tat: die charismatische Persönlichkeit fehlt in Ägypten, oder ist uns nicht bekannt – und ich ertappe mich, dass ich el Baradei als solche betrachte.
Nun – dass wird aber in Ägypten gar nicht so gesehen – dies ist was zählt, und nicht unsere Sicht.


Miriam
carlos1
carlos1
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Re: Geschichtliche Entwicklungen: vom Totalitarismus direkt zur parlamentarischen Demokratie?
geschrieben von carlos1
als Antwort auf miriam vom 02.02.2011, 09:51:43
@miriam
Du hast eine philosophische Ader. In deinem letzten Beitrag erwähnst du, dass in der Herausbildung demokratischer Strukturen im Laufe der Jahrhunderte eine innere Logik erkennbar sei, ein Sinn. Das ist ein Thema der Geschichtsphilosophie. Diese Logik legen wir aber eher in eine nachträgliche Betrachtung geschichtlicher Abläufe selbst hinein. Den Gedanke einer in der Geschichte sich verwirklichenden Vernunft ist von Hegel zum System erhoben worden. Marx hat es in extenso weiter betrieben. Mir lag es aber fern, eine Geschichtsdeutung zu geben, der zufolge Demokratie nur möglich sei nach langer Vorlaufzeit. Mir ging es darum am Beispiel einiger historischen Abläufe zu zeigen, dass die Idee der Demokratie von Voraussetzungen abhängig ist, dass sie nicht vom Himmel fällt, jedenfalls nicht sofort auf Knopfdruck, wenn ungeduldige frustrierte junge Menschen es fordern. Darüber könnte eine Diskussion über die Bedingungen der Möglichkeit einer Demokratie in bisher straff autoritär regierten Ländern entstehen. Die Moderne ist gekennzeichnet durch eine ungeahnte Beschleunigung der geschichtlichen Abläufe. Das Verständnis aber für andere Meinungen, die Einsicht in die Notwendigkeit von Kompromissen, wovon die Demokratie lebt, wächst durch die beste Technik aber nicht.


Karl, ein Vergleich mit der als erfolgreich eingeschätzten Umerziehung der Deutschen nach 1945 mit den Voraussetzungen einer angedachten Demokratisierung etwa in Ägypten ist ohne weiteres möglich. Dtld war nicht nur besiegt, es hatte eine totale Niederlange erlitten, hörte als Staat auf zu existieren, war gänzlich dem guten Willen der Alliierten ausgeliefert. Dies – mit der entsetzlichen Not, der verzweifelten wirtschaftlichen Lage, der Angst vor einer Sowjetisierung, der beginnende kalte Krieg - war die wichtigste Voraussetzung dafür, dass die Deutschen sich der Demokratie zuwandten. Es blieb ihnen doch nichts anderes übrig. Das Grundgesetz wurde in seinen Grundstrukturen wesentlich durch die Alliierten beeinflusst, vor allem durch die USA. Es gab aber deutsche Denkmuster wie die Vorarbeiten der Reichsverfassung von 1848, die Menschenrechte, die Erfahrungen mit den Verfassungen von 1871 und 1919. Es hatte ein Parteiensystem gegeben, woran angeknüpft werden konnte.


Die Frage ist, was von solchen Bedingungen der Möglichkeit einer Demokratisierung in Ägypten, einem völlig anderen Kulturkreis (rudimentär) vorhanden ist oder möglich ist. Wir erleben TV-Bilder und sehen viele aufgeregte Menschen im TV und entwickeln ein trügerisches Gefühl der Informiertheit. Wir sehen aber nur Menschen dort, wo Demos stattfinden, also in den Städten, vor allem Kairo. Ägypten ist das bevölkerungsstärkste arabische Land mit über 80 Mio Menschen, mit einem Bevölkerungszuwachs von jährlich 1 Million. Alle arabischen Staaten haben einen Anteil an jungen Menschen von etwa 30% und mehr. Regiert werden sie von alten Männern die zwischen den Weltkriegen geboren wurden. Die Revolte begann als Aufstand junger frustrierter, verzweifelter Menschen in Tunesien. Steigende Lebensmittelpreise, Perspektivlosigkeit eines ausgebildeten arbeitslosen jungen Mannes, dessen Waren – illegal auf der Straße verkauft, - von den Behörden beschlagnahmt wurden, führte zum Selbstmord dieses jungen Mannes in einer tunesischen Stadt Mitte Dezember. Dies war das Fanal, das ähnliche Vorgänge in Algerien auslöste. Die Hungerrevolte griff wie ein Feuer ums sich, begünstigt durch soziale Netzwerke wie Facebook etc, Mobiltelefon und Satelliten-TV. Die modernen Medien können Entwicklungen beschleunigen, keine Frage, das taten aber Telegraph und Telefon auch schon. In Algerien kam es zu Streiks und Demos. In Jordanien und Syrien müssen die Regierungen reagieren, im Sudan formiert sich Widerstand. Jemen …etc.


Freiheit, Menschenrechte, Demokratie sind sehr schöne Worte. Aber hungrige Menschen wollen essen, sie wollen einen Beruf ausüben, wenn sie ausgebildet sind. Das sind die eigentlichen Probleme. Gerade die jungen Leute aus den unteren Mittelschichten gehen deshalb auf die Straße. Das allein erzeugt allein aber keine Nahrung. Von über 80 Mio Ägyptern leben die meisten auf dem Land. Der größte Teil des Landes ist Wüste. Bewässerung allein erbringt Ernten. Ägypten ist ein Geschenk des Nils. Das galt schon 5000 Jahren. Die vielen Millionen von Fellachen auf dem Land zeigt das Fernsehen nicht. Sie können auch nicht mit Facebook umgehen, sind auch nicht so gut mit Mobiltelefonen ausgestattet. Demokratie ist zwar wunderbar, aber mit Hunger eben nicht vereinbar. Nicht vergessen werden darf bei einem Vergleich der gelungenen Demokratisierung der Nachkriegszeit in West-Dtld., dass die rasche, sehr gute Versorgung mit Nahrung und den Gütern des täglichen Bedarfs durch gelungene Wirtschaftsreformen, Währungsreform, ERP den Deutschen das Gefühl gab, es gehe aufwärts. Das hat die Demokratisierung mit ermöglicht, sie legitimiert. Demokratie aber ist eigentlich aber mehr als nur ein warmes Nest, ein tolles Auto, Haus etc. Im Falle Ägypten frage ich mich, wie das Ernährungsproblem gelöst werden soll. Werden die USA weiterhin 2 Mrd USD jährlich ins Land pumpen, für die Ausrüstung der Armee aber auch für Lebensmitteleinfuhren. Wie sieht das Kräfteparallelogramm der ägyptischen Gesellschaft aus? Welche Gruppierungen werden künftig eine Rolle spielen? Mubarak war General. Welche Rolle wird die Armee spielen. Sie hält still. Wohl auf Geheiß der USA, denn ihre Waffen bezieht sie von dort. Auf den Bildern sah ich M1-Abram-Panzer, alte M48, alte US-Schützenpanzer, F-86 Jets.


Steigende Nahrungsmittelpreise haben die Lebenshaltung für die unteren Mittelschichten verteuert. Es handelt sich aber bei den aufregenden Vorgängen auch um eine demographische Revolution, die längst zu erwarten war. Vom Iran bis nach Marokko lebt eine Bevölkerung mit einem vergleichsweise sehr hohen Anteil an jungen Leuten. Diese Jugend sind Revolutionäre im Wartestand, eine ansteckende Situatio. Zu Zeiten von Karl Marx im 19. Jhd. waren die Revolutionäre in lokale Gruppen aufgespalten, das ist heute anders. Die Kommunikation klappt besser. Kennzeichnend für die Psychologie von Jugendrevolutionen ist eine rasche Fanatisierung, der Hang zur Selbstzerstörung und Brutalität. Junge Leute wollen im allgemeinen nicht nur Demokratie, sondern Anerkennung und Bestätigung ihrer Würde. Demokratie kann diese Tendenz verstärken. Politische Würde (der Ruf nach Freiheit) umfasst aber auch ethnische und nationale Selbstbestimmung, eine Besinnung auf die Religion, auf soziale Rechte und Menschenrechte. Hier liegt viel Sprengstoff bereit.

Die kommenden Ereignisse werden es zeigen.

c.
miriam
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Mitglied

Re: Geschichtliche Entwicklungen: vom Totalitarismus direkt zur parlamentarischen Demokratie?
geschrieben von miriam
als Antwort auf carlos1 vom 02.02.2011, 19:49:03
Jetzt beginnt mir die Diskussion hier richtig Spaß zu machen!
Warum? Weil du Carlos, bei mir sogar philosophische Züge entdeckst!

Ist es aber nicht so, dass für jede vermeintliche Massenbewegung eine gesellschaftliche Umwelt erstmals entstehen muss?
Und schon klingt dieser Satz nach Philosophie – obwohl es nur die simple Frage ist, nach dem Weg den die anfängliche Demokratie durchlaufen muss, bis sich eine parlamentarische Demokratie am Ende des Prozesses bildet.
(Übrigens ist der Ausdruck gesellschaftliche Umwelt – in Zusammenhang mit Massenbewegungen, bei György Lukacs geklaut!)

Wenn also mein Ruf durch diesem Klau schon ruiniert ist, erlaube ich mir weitere Fragen zu stellen.

Wieso verlässt Mubarak noch nicht das Land, bzw. seine Position?
Kann es vielleicht auch sein, dass die absolute Macht der Pharaonen noch heute in ihrem Anspruch nachwirkt?
Kann es sein, dass er, der heutige greise Herrscher, nicht weiß, dass hinter der goldenen Fassade - sich die Geschichte eines Inzestes verbirgt?

Nach über 3300 Jahren seit dem Tod Tutanchamuns, hat man vor knapp einem Jahr entdeckt, dass seine Eltern Geschwister waren: sein Vater war der Pharao Echnaton, seine Mutter war dessen Schwester.
Hoffentlich muss ich jetzt nicht gleich hinzufügen, dass meine obigen Bemerkungen als Witz gemeint waren.

Wie es auch nun direkt weiter gehen wird: die Zeit der absoluten Herrscher in den Arabischen Ländern ist vorbei, in Ägypten wird von der breiten Masse eine Demokratisierung gewünscht – mir persönlich bereiten aber die Moslembrüder nach wie vor Sorgen.
Denn das Gleichgewicht ist denkbar instabil.

Miriam
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Mitglied

Re: Geschichtliche Entwicklungen: vom Totalitarismus direkt zur parlamentarischen Demokratie?
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf miriam vom 03.02.2011, 13:37:26
Was mich an diesem Fragekomplex immer fasziniert, wie Leute, die anfangs doch guten Willen waren in erster Linie für ihr Land und ihre Leute zu wirken, so schnell korrumpiert werden.

Es ist ja möglich, dass sie ohne ihre bruten und absolutistischen Charakterzüge nie in diese Position gekommen wären. Aber ich denke es gibt doch in der Geschichte einige Beispiele, die die meine Betrachtung bestätigt. Oder wissen wir einfach zu wenig von diesen machtgierigen diktatorischen Menschen? Daran ließen sich noch viele Überlegungen anschließen. Warum glauben immer wieder Menschen den Versprechungen dieser Verführer,etc..... Wahrscheinlich off topic und nicht das, was bisher hier von Interesse war, aber für mich ein grundlegendes Problem, wenn es um das Ringen zwischen einer mühsamen Demokratie und der so schillernden und mit raschen Erfolgen überzeugenden Regierung eines (oder einiger)starken Mannes geht.

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