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Literatur Den Himmel mit Händen fassen

madrilena
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Den Himmel mit Händen fassen
geschrieben von madrilena
Ich möchte jetzt noch meinen allerersten Roman hier einstellen und fange mit den verschiedenen Kritiken an. Ich bin sehr dankbar, dass es ein Forum gibt, wo es möglich ist, all seine Bücher vorzustellen. Dieses erste Buch habe ich nach meinem ersten Israel-Aufenthalt geschrieben, vielleicht spürt man, wie sehr mich Vergangenheit, aber auch Gegenwart berührt hat. Danke für Eure Geduld.
Lieben Gruß Hilde Möller

Rheinzeitung
Stefanie Rüggeberger
"Den Himmel mit Händen fassen" hält nicht am Klischee des jungen Liebespärchens fest, sondern stellt zwei gereifte Persönlichkeiten jenseits der 60 in den Mittelpunkt" RezensionRezensionRezension


Kreishaus Bad Ems in der Reihe:
Gegen das Vergessen.
"Das Werden von Schuld erkennen"
"Tiefgründig geht es um einen existentiellen Einschnitt im Leben der Protagonistin, ihr Bemühen, die Vergangenheit völlig draußen zu lassen, gleichwohl zu ergründen, woher dieses fast unverständliche Gefühl einer Bindung an Judentum und Israel kam"


Aar-Bote
Buch Hiob: "Zum Trauergesang wurde mein Harfenspiel und mein Singen zum Weinen" – diesem Weinen auf die Spur kommen, um vielleicht neben der Schuldfrage den Weg zur Versöhnung zu erkennen – in all dem sah Hilde Möller eine Möglichkeit, den inneren Himmel zu berühren.


Nastätten
Rolf Nölle
"Hilde Möller schreibt sehr empfindsam, geht ins Detail, vermittelt Nähe. So heißt es am Schluss ihres Romans: "Die Toten leben weiter im Andenken und in der Liebe und ihre Seelen weilen im großen Irgendwo."

Und hier das erste Kapitel meines Lesungstextes, den ich in Berlin las, von
"den Himmel mit Händen fassen"


Leise drang die Melodie in meinen Traum. Wie immer tauchte ich rasch und unmittelbar aus tiefem Schlaf auf. Auch heute oder vielleicht… gerade heute, obgleich der Wecker sehr zeitig geläutet hat. 4 Uhr, Freitag, der 24. Februar.
In zwei Monaten werde ich 60, schoss es mir durch den Kopf, als ich wie jeden Morgen noch vor dem Duschen und Anziehen barfuß in die Küche lief, um die Kaffeemaschine anzustellen. Im Flur standen Koffer und Reisetasche. Ich musste mich beeilen, für den Flug nach Israel sollte ich drei Stunden vor Abflug der Maschine am Flughafen sein.
Als ich den Wagen aus der Garage lenkte und durch die einsam dunklen Straßen des kleinen Dorfes fuhr, fing ich an zu singen, ich spürte nicht die Kälte des Wintermorgens, nur dieses beschwingte Gefühl der Vorfreude auf meine Reise, das mir fast den Atem benahm.
Ich dachte daran, wie es früher gewesen war. Nie gab es eigene Reisen. Ich begleitete höchstens Ulrich bei einer seiner Geschäftsfahrten. Und dann noch die Urlaube mit unseren beiden Kindern Rebecca und David. Heute lebte Rebecca in Madrid als Lehrerin an der deutschen Schule, David war Entwicklungshelfer auf den Philippinen.
Und Ulrich? Vor acht Jahren die Scheidung.
Nach der Scheidung war ich in meinen Beruf als Fotografin zurückgekehrt. Ich stürzte mich damals voller Begeisterung in die Erfahrung dieses neuen Lebens und… dachte voll Trauer an die verlorenen Träume meiner Vergangenheit.
Kurz nach Weihnachten war Mutter gestorben. Seltsam war der Brief von Kristina, den ich Wochen danach erhielt. Sie lebte die letzten Jahre mit Mutter zusammen. Im Nachlass hatte sie einen dicken, fest verschlossenen Umschlag gefunden. Er war… an mich adressiert. Im Umschlag fand ich ein Schulheft, mehrfach mit einem Band umwickelt. Immer wieder hatte ich dieses Päckchen in die Hand genommen. Hatte es hin und her gedreht. Weggelegt und wieder hervorgeholt. Und… mich doch nicht getraut, das Band zu lösen. Wovor hatte ich Angst? Was wollte Mutter von mir? Drängende Fragen und dennoch öffnete ich das Heft nicht. Vielleicht wollte ich mich im Augenblick nicht mit anderen Erfahrungen und Erinnerungen belasten.
Dann hatte ich das dünne Buch doch ganz unten in den Koffer gelegt...
Nichts hielt mich hier. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich ungebunden. Ich habe Zeit, und ich habe einen Traum. Ich will Israel kennen lernen.
Als ich durch die kalte Februarnacht zum Flughafen fuhr, fragte ich mich wieder einmal, wie schon so oft zuvor, woher dieses fast unverständliche Gefühl einer Bindung an Judentum und Israel kam. War es der dumpfe Hass des Vaters auf alles Jüdische, gegen den sich schon das Kind auflehnte? Oder… war es die Mauer des Schweigens, an der alle Fragen abprallten, die ich erst Jahre nach dem Krieg stellte? Fragen nach Judenverfolgung, Konzentrationslagern und der Verantwortung dafür?
Und doch war es gerade dieses Schweigen der Eltern, das mein Interesse wach hielt.
Erst las ich die Geschichten aus dem Alten Testament, das Schicksal Abrahams, der seinen Sohn Isaac opfern sollte. Moses einsam auf dem Berg Nebo, von dem aus er das Gelobte Land sehen konnte, ohne es betreten zu dürfen.
Oder die Geschichten über die Arche Noah. Alles viel spannender für meine Kinderphantasie, als die Gleichnisse und Bibeltexte unseres Religionsunterrichts.


Als ich älter wurde, folgten die Dichter und Schriftsteller, deren Bücher auf großen Scheiterhaufen 1933 vom Pöbel verbrannt worden waren. Hatte Franz Werfel schon Jahre zuvor mit seiner Novelle die wirren Entschuldigungen und Ausflüchte der Nachkriegszeit vorweggenommen, als er ihr den Titel gab. „Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig?“
Bis ich wieder zum Alten Testament zurückkehrte, zum Buch Hiob: „Zum Trauergesang wurde mein Harfenspiel, mein Flötenspiel zum Klagelied und mein Singen zum Weinen.“
Diesem Weinen auf die Spur kommen, um endlich nicht mehr nach verschwiegener Schuld fragen zu müssen?


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Re: Den Himmel mit Händen fassen
geschrieben von madrilena
als Antwort auf madrilena vom 17.06.2013, 08:38:55
Hier ein wenig mehr Lesestoff. Vielleicht weckt er Euer Interesse.
LG madrilena

"den Himmel mit Händen fassen"
Auf dem Frankfurter Flughafen wurde ich nach der deutschen Passkontrolle in einen von Israelis kontrollierten Seitenbau geführt. Überall Soldaten mit Maschinengewehren. Junge Frauen und Männer bei den Kontrollen. Ein Kreuzfeuer von Fragen prasselte auf die Reisenden nieder.
„Grund Ihrer Reise?“
Fast hätte ich erwidert. „Sehnsucht nach Israel.“
„Wohin reisen Sie in Israel?“
Ich habe kein bestimmtes Ziel, ich fange bei Tel Aviv an und höre bei Eilat auf, hätte ich antworten mögen.
„Haben Sie Freunde in Israel?“
Nein, noch nicht! Aber hoffentlich kann ich in einem Monat anders antworten.
„Wer hat Sie an den Flughafen gebracht?“
Niemand, es ist ganz allein meine Reise.
„Haben Sie Ihre Koffer selbst gepackt?“
Aber natürlich. Und ich war sehr bemüht, die Vergangenheit völlig draußen zu lassen. Völlig…? Mir fiel das Heft meiner Mutter ein, aber das war jetzt nicht wichtig.
Geduldig beantwortete ich die Fragen, wenn auch nicht mit den Worten, die mir durch den Kopf gingen.
Und versuchte aufkommende Panik im hässlich-kahlen Warteraum zu unterdrücken, der wiederum streng von bewaffneten Soldaten bewacht war. Auch das schien Israel zu sein. Vielleicht… war es gut, dass ich schon zu Anfang der Fahrt die Wirklichkeit kennen lernte.

Ich suchte mir meinen Fensterplatz im Nichtraucherteil des Flugzeugs. Hoffentlich bekam ich keine aufdringliche Nachbarschaft. Der Flieger war nicht voll besetzt, und der Herr, der sich in meine Reihe zwängte, konnte den Platz zwischen uns freilassen. Er sah gut aus mit seinem weißen Haar und dem weißen gepflegten Vollbart.
‚Warum er wohl nach Israel fliegt‘, dachte ich flüchtig, aber im Grunde interessierte es mich wenig. Ich vergrub mich in meinen Sitz. Ertrug den erstickenden Moment, als die Maschine steil an Höhe gewann und mich tief gegen die Rückenlehne presste.
Wir überflogen Frankfurt und stießen in den von Großstadtlichtern erhellten Himmel.
„Waren Sie schon einmal in Israel?“ Die Stimme schreckte mich aus meinen Wachträumen auf. Nun hatte er doch die Grenze des leeren Sitzes zwischen uns überschritten.
Na gut, small talk, damit verging die Zeit schneller.
„Nein, ich fliege zum ersten Mal dorthin.“ Unwillkürlich fühlte ich mich an die Befragung auf dem Flughafen erinnert.
„Entschuldigen Sie, dass ich Sie anspreche. Darf ich mich vorstellen? Jonas Ben-Yadin. Der Flug vergeht schneller, wenn wir uns ein wenig unterhalten.“ Seine Stimme war angenehm dunkel und warm.
„Ich bin Sophie Wenger.“ Ein bisschen knapp, diese Vorstellung, aber mehr erschien mir unnötig. Allerdings freute ich mich, dass sein Name jüdisch klang. Möglicherweise konnte er mir über Israel erzählen. Ich entschloss mich, das Gespräch nicht gleich wieder versanden zu lassen.
“Und Sie, wohnen Sie in Israel“?, fragte ich halbwegs interessiert.
„Nein, in London. Aber einmal im Jahr mache ich hier einen langen Urlaub.“
Daher also der leichte englische Akzent in seiner Sprache!
Er schien zu überlegen, bevor er langsam weiter sprach. „Leben ist in diesem Land sehr schwer. Ich bin einer der Juden in der Diaspora. Vielleicht… weil ich Schriftsteller bin. Israel ist so fordernd und unmittelbar, dass ich da nicht schreiben kann. Aber“, seine Stimme wurde fast weich, „zurückkehren muss ich immer wieder zu diesem ausgetrockneten Flecken Erde.“
Das konnte ich verstehen. Das waren Empfindungen, die ich – zwar noch nicht aus der Begegnung mit Israel – wohl aber aus den langen Jahren meiner Sehnsucht kannte. Sehnsucht, geweckt durch die Auflehnung gegen den Vater. Durch den Wunsch, keine Kompromisse mehr zu schließen. Wissen zu wollen.
Leise antwortete ich: “Ich glaube, es ist viel mehr als nur ein ausgetrockneter Flecken Erde. Ich kenne Ihr Land nicht, aber...“ ach was, das ging ihn doch gar nichts an. Ich hatte plötzlich das Empfinden, als ginge diese Unterhaltung über small talk hinaus, deshalb beendete ich den Satz ein wenig lapidar, „das wird sich ja jetzt ändern.“
Er schaute mich erstaunt an. Sein Gesichtsausdruck verriet seine Verwunderung über meinen plötzlichen Rückzieher. Achselzuckend entnahm er aus einer Umhängetasche ein Buch. Ich konnte mit einem raschen Blick den Titel erkennen. „Wann, wenn nicht jetzt?“
Wir wechselten auf dem restlichen Flug noch ein paar Höflichkeitsfloskeln. Aber die zaghafte Vertrautheit, die ich bei seinen wenigen Worten über Israel und ihn selbst empfunden hatte, war verflogen.
Als wir uns am Flughafen Ben Gurion in Tel Aviv verabschiedeten, war ich erleichtert, aus der Nähe dieses Mannes wegzukommen, der mich, mir selbst verwunderlich, stark beeindruckt hatte.
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Re: Den Himmel mit Händen fassen
geschrieben von madrilena
als Antwort auf madrilena vom 18.06.2013, 13:28:27
Guten Morgen allerseits - bei meinen Lesungen stelle ich den einzelnen Szenenwechseln eine ganz kurze Zusammenfassung der dazwischenliegenden Kapitel vor, damit der Fluss der Geschichte nicht verloren geht. Also auch hier.
Ich wünsche einen schönen Tag
LG madrilena

(Sophie begegnet Jonas doch wieder und zwar am Strand von Tel Aviv und als er von ihren Plänen hörte, allein nach Jerusalem zu fahren, war er so entsetzt, dass er ihr den Vorschlag machte, diese Fahrt mit ihm zusammen im Auto zu machen. Nach anfänglichem Zögern nimmt Sophie den Vorschlag von Jonas an. Wir treffen jetzt beide wieder in Tiberias. Auf dieser Fahrt nach Tiberias erzählt Sophie Jonas von dem mysteriösen Brief ihrer Mutter)

Den Himmel mit Händen fassen

Szenenwechsel
Am nächsten Morgen stand ich schon vor sechs Uhr auf dem kleinen Balkon meines Zimmers. Den Sonnenaufgang, den Jonas so bildhaft beschrieben hatte, wollte ich nicht versäumen. Ich wunderte mich wieder einmal, dass ich solche Worte, wie er sie gestern für den Sonnenaufgang über dem See Genezareth benutzt hatte, nicht übertrieben fand. Gefühlsäußerungen waren mir in den letzten Jahren so fremd geworden.
Ein leichter Wind hatte sich erhoben, der auf der Oberfläche des Wassers kleine, verspielte Wellen aufbaute. Langsam stieg der Sonnenball über dem Horizont auf. Färbte den Himmel in Rot und Blau, die Ränder kleiner Wolken leuchteten golden. Die Luft flimmerte in Farben und vergaß ihre nüchterne Lebensnotwendigkeit. Erste Sonnenstrahlen glitten zögernd über den See.
Das Wasser schien zu brennen und aus der Morgendämmerung stiegen die Hügel Tiberias zu beiden Seiten des Hotels empor. Die Hochhäuser konnte ich von meinem Balkon aus nicht sehen. Tiberias wurde für mich zu dieser Stunde zu dem Fischerdorf von vor zweitausend Jahren. Malerisch an diesem biblischen See gelegen.
Lange blieb ich auf dem Balkon stehen. In den Anblick der aufsteigenden Sonne versunken. Gefangen vom Wechselspiel der Farben. Ein leichter Dunst über der Landschaft verstärkte die verträumte Unwirklichkeit der morgendlichen Stimmung.
Endlich wandte ich mich ins Zimmer zurück und holte den Brief meiner Mutter aus der Schublade meines Nachttisches, wo ich ihn gestern sorgsam aufbewahrt hatte. Langsam öffnete ich den Umschlag und löste das Band, das um das Heft geschlungen war. Auf einem kleinen weißen Schild stand "für Sophie".
Es war die steile Handschrift meiner Mutter. Ein Schatten wehte mich an, und ich meinte, ihren vertrauten Geruch zu atmen. Nun war sie schon monatelang tot und ich saß heute auf einem Balkon in Israel und hielt eine Botschaft von ihr in Händen...
Entschlossen öffnete ich das Heft. Auf der ersten Seite stand nur ein Datum, Mai 1990 und wieder "für Sophie".
Warum hatte sie gerade damals an mich geschrieben? Und warum hatte sie mir das Heft nicht persönlich übergeben? Wie viel Geheimnistuerei. Fast ärgerte ich mich. Aber dann siegte die Neugier. Und ich fing zögernd an zu lesen.

"Liebe Sophie, wenn Du diese Zeilen liest, werde ich bereits tot sein. Ich bat Kristina, Dir das Päckchen erst nach meinem Tod zu schicken. Warum? Vielleicht habe ich Angst davor, Rechenschaft ablegen, Fragen beantworten zu müssen. Vielleicht habe ich überhaupt Angst davor, mit Dir zu sprechen. Nähe zu meinen Kindern war mir nie gegeben. Heute tun mir diese Worte nicht mehr weh. Ich habe gelernt, mich zu akzeptieren. Vor allem weiß ich, dass ich nichts mehr ändern kann. Aber es gibt Dinge, die möchte ich regeln, solange es nicht zu spät ist. Noch fühle ich mich, Gott sei Dank, im Vollbesitz meiner geistigen und körperlichen Kräfte. Klingt das zu juristisch? Soll es wohl auch, damit Du eines Tages, wenn Du diese Zeilen lesen wirst, weißt, alles, was ich Dir hier mitteile, ist mir auch heute noch in allen Einzelheiten gegenwärtig. Ich erinnere mich daran, als sei es vor kurzem gewesen. Du weißt, alte Menschen erinnern sich eher an etwas lang Vergangenes als an das Telefongespräch von gestern. Ich bitte Dich, mir jedes Wort zu glauben. Du wirst mich vielleicht von einer Seite kennen lernen, die Du nie bei mir vermutet hast. Ich bitte Dich nicht um Verzeihung, noch nicht einmal um Dein Verständnis. Ich möchte nur ein wenig von Deiner Zeit. Denn was ich jetzt niederschreibe, habe ich noch nie jemandem gesagt, es betrifft nur Dich und mich."

Ein Klopfen an der Tür unterbrach mein Lesen.
Warum war ich nur so beunruhigt über diese paar Worte von Mutter? Das war nicht die energische Frau, die ich gekannt und nach deren Liebe ich mich so gesehnt hatte.
Dieser Brief sollte entschlossen und überzeugt klingen. Für mich war er eher ein Hilferuf.
Wieder klopfte es leise an die Tür. "Sophie, sind Sie schon auf? Ich möchte einen Morgenspaziergang machen. Gehen Sie mit?“
Jonas Stimme drang in meine Gedanken. Verwirrt kehrte ich in die Gegenwart zurück.
"Ja, ja… ich bin schon fertig, ich komme gleich."
Ich legte den Umschlag wieder zuunterst in die Schublade. Ich verstand jetzt mein wochenlanges Zögern. Meine Mutter sollte nicht in dieses Heute eindringen. Wo war denn das leichte, fliegende Gefühl der Freiheit geblieben
Rasch öffnete ich die Tür.
Jonas sah mich bestürzt an. "Was ist denn mit Ihnen los? Schlecht geschlafen? Alpträume?"
"Nein, nein", wehrte ich fast heftig ab. "Es ist nichts. Ein Morgenspaziergang ist gerade richtig."
So schnell ließ er sich nicht abweisen: "Sie haben den Umschlag Ihrer Mutter geöffnet?"
"Ja"
"Wollen Sie darüber sprechen?"
"Nicht jetzt, Jonas. Lassen Sie uns gehen.“
Wie selbstverständlich hakte er sich jetzt bei mir ein. Wir gingen die Hashomer Straße hinunter und kamen über die Wingate Straße wieder auf den Weg zum Hotel. Kein Mensch begegnete uns. Eine sanfte Ruhe lag über dem Viertel. Wir redeten nicht viel. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.
Doch unversehens wurde mir bewusst, dss ich mich auf eine Nähe einließ, die mich erschreckte. Wann hatte mir zum letzten Mal körperliche Berührung so gut getan?
Eine seltsame Sehnsucht war in mir. Fremd und heiß. Ein flüsterndes Begehren. Mein Körper erinnerte sich. Geruch nach Haut und Schweiß. Berührung. Ob… Jonas das gleiche empfand?
Abrupt machte ich mich von ihm los.
Zärtlich seine Stimme. "Keine Angst haben, Sophie. Wenn wir uns deshalb getroffen haben, geschieht es doch, ob Sie sich wehren oder nicht."
Mir wurde schwindlig. Eigentlich hatte ich geglaubt, mit fast 60 Jahren sind solche Gefühle doch nicht mehr erlebbar
"Jonas, ich bin fast sechzig! Habe ich Ihnen das noch nicht gesagt?"
"Eine sehr lebendige Sechzigjährige", entgegnete er lachend. "Machen Sie einen Unterschied zwischen Mann und Frau? Ich bin immerhin acht Jahre älter als Sie."
"Nein, das nicht." Ich antwortete sehr bestimmt. Zögerte dann doch. Wie viel Persönliches vertrug unsere Begegnung schon?
Leise bekannte ich: „Älterwerden ist für mich nicht problematisch Außerdem fühlte ich mich eigentlich immer jung.“
Er unterbrach mich. "Ja und! Fühlen Sie sich jetzt etwa alt?"
"Nein!" Ich zauderte. Wusste nicht, wie ich ihm meine Gedanken erklären sollte. Erst fünf Tage kannte ich ihn! Einfach unfassbar. Ich hatte in dieser kurzen Zeit eine innere Lebendigkeit wieder entdeckt, die ich verloren geglaubt hatte.
Entschlossen gab ich mir einen Ruck:
"Nein, das ist es doch, was mich manchmal so wundert! Ich fühle mich so jung. Seit die Kinder aus dem Haus sind, denk’ ich sogar manchmal, ein neues Leben hätte begonnen. Natürlich hatte ich mit den Kindern auch ein Leben. Aber… es gehörte mir nur zum Teil."
Ich strich mir die Haare aus der Stirn. "Verstehen Sie? Neben der Liebe immer auch Verpflichtung und Forderung. Das engt ein.“
Ich hielt ein wenig atemlos inne, bevor ich weiter sprach. "Und heute stelle ich mir manchmal vor, ich brauchte nur die Arme auszubreiten, und könnte davonfliegen. Schwerelos. Ungebunden. Getragen von der Luft und meinen Wünschen. Aber dann… schau ich zufällig in den Spiegel und falle unbarmherzig auf die Erde zurück," ich lachte, "denn aus dem Glas schaut mich eine alte, nein, keinen Einwand, zumindest eine ältere Frau an und lächelt ziemlich spöttisch über mich. Und das ist noch nicht alles."
Wir gingen schweigend weiter, bis ich mich ihm wieder zuwandte. „Jonas, ich spreche so viel von mir, aber Sie sind sehr still geworden.“
Er war seltsam ernst, als er antwortete. "Wissen Sie überhaupt, wie viel Sie mir geben? Seit meine Frau tot ist, habe ich nie mehr mit irgend jemandem so geredet. Und nun kommen Sie und sprechen. Haben Vertrauen zu mir! Unfassbar!“
Vertrauen? Warum fiel mir plötzlich der Brief ein? Ich wusste einfach, dass nach dem Lesen dieser Nachricht meiner Mutter mein Leben nicht mehr das gleiche sein würde. Ich konnte mir nicht erklären, woher ich diese Sicherheit nahm.

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Re: Den Himmel mit Händen fassen
geschrieben von madrilena
als Antwort auf madrilena vom 19.06.2013, 09:33:18
Das ist die folgende Szene meines Lesestoffes zum Buch
Den Himmel mit Händen fassen


Szenenwechsel
Hier wieder ein kurzer Kommentar zum nicht gelesenen Inhalt, damit man folgen kann.
Die Mutter hatte in vorherigen Teilen des Briefes von ihrem Mann, dem gegenseitigen Kennenlernen, der Heirat und ihrer großen Enttäuschung in dieser Ehe geschrieben. Jetzt geht der Brief folgendermaßen weiter.

Ich fing einige Monate nach Kristinas Geburt wieder mit meinem Tennisspiel an.
Eines Tages wurde meine Tennispartnerin und beste Freundin Johanna von einem jungen Mann begleitet. Später stellte es sich heraus, dass er gebürtiger Wiener war. Yoshua, so hieß Johannas Bekannter, war auf Besuch in Stuttgart. Wir verliebten uns sofort und mit einer ungeahnten Heftigkeit ineinander. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ich überhaupt solcher Gefühle fähig wäre. Erst jetzt wusste ich, wie Liebe sein konnte, und was ich bei Wilhelm nie empfunden hatte. Vor mir tat sich eine mir völlig unbekannte Welt auf und verschloss sich sogleich wieder. Denn neben mir trippelte meine zweijährige Tochter, am Ende der Tennisstunde wartete mein Mann auf mich, und hier stand Yoshua. Ich weiß, dass ich immer der Meinung gewesen war, Gefühle können einem nicht "geschehen", mit gutem Willen sei jede Situation zu meistern. Ach, Sophie, wie sehr irrte ich, und wie verzweifelt wehrte ich mich gegen diesen Ansturm. Es war, als würden Ursache und Wirkung ineinander stürzen. Als gäbe es keinen Anfang. Oder besser gesagt, vor dem Anfang bereits das Ende. Wir hatten kaum miteinander gesprochen. Wenn sich unsere Hände aus Versehen berührten, traf es uns wie ein Schlag. Ich muss es so schreiben, mag es auch übertrieben klingen. Kannst Du Dir vorstellen, welches Durcheinander in die Welt der unmündigen und irgendwie auch lebensfernen jungen Frau einbrach? Und wie schnell sie erwachsen wurde? Denn ich wehrte mich nicht lange. Wir trafen uns jeden Tag. Meine Freundin hatte sofort unsere Situation erkannt und ermöglichte mir die Treffen, da sie Wilhelm aus tiefstem Herzen ablehnte. Wilhelm war völlig unwissend. Es wäre ihm gar nicht in den Sinn gekommen, dass ein anderer Mann seine Friederike lieben könnte. Und noch viel weniger, dass ich solche Gefühle überhaupt erwidern konnte.

Ich hatte mit leiser Stimme gelesen. Jetzt ließ ich fassungslos das Heft sinken! „Meine Mutter! Eine Liebesgeschichte? Aber warum schreibt sie mir das alles? Das war ihr Leben. Sie braucht mir doch keine Rechenschaft abzulegen. Es geht mich nichts an, und… ich will es auch gar nicht wissen.“ Ich wandte mich an Jonas, fragte beinahe hilflos „ Verstehen Sie das, Jonas?"
Er hatte sehr aufmerksam zugehört. Jetzt legte er den Arm um meine Schultern, als wollte er mich halten.
"Ich weiß nichts von Ihrer Mutter. Sie sollten weiter lesen, weil die Antwort auf Ihre Fragen nur in diesem Brief liegen kann.“
madrilena
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Re: Den Himmel mit Händen fassen
geschrieben von madrilena
als Antwort auf madrilena vom 20.06.2013, 13:11:02
(kurze Zusammenfassung für den Fluss des Lesetextes: Sophie und Jonas fahren von Tiberias aus gemeinsam nach Jerusalem. Sie haben mittlerweile zum „Du“ gefunden,)

Den Himmel mit Händen fassen

Titel aus dem Gedicht von Selma Meerbaum-Eisinger

...Ich möchte leben.
Schau, das Leben ist so bunt.
Es sind so viele schöne Bälle drin.
Und viele Lippen warten, lachen, glühn
und tuen ihre Freude kund.
Sieh nur die Straße, wie sie steigt:
so breit und hell, als warte sie auf mich.
Und ferne, irgendwo, da schluchzt und geigt
die Sehnsucht, die sich zieht durch mich und dich.
Der Wind rauscht rufend durch den Wald,
er sagt mir, daß das Leben singt.
Die Luft ist leise, zart und kalt,
die ferne Pappel winkt und winkt.
Ich möchte leben.
Ich möchte lachen und Lasten heben
und möchte kämpfen und lieben und hassen
und möchte den Himmel mit Händen fassen

SZENENWECHSEL

Früh am nächsten Morgen verließen wir Tiberias. Wir fuhren am Jordanfluß entlang, der sich in winzigen Kurven und Kehren durch die Landschaft schlängelte.
Jonas hatte meine Hand ergriffen. "Es sind die fünfzehn schönsten Kilometer vom Jordan. Danach ist er von Stacheldraht umgeben. Nur das Militär hat noch Zutritt zu seinen Ufern."
"Habt ihr denn keinen Frieden mit Jordanien?"
"Ach, Sophie, was ist denn schon Friede in diesem Land? Wir fahren gleich durch ein Gebiet voller Kriegsruinen. Zerschossener Häuser. Ausgebrannter Panzer und ehemaliger Kriegsschauplätze. Du kannst noch nicht einmal die Straße verlassen, weil überall Minen vergraben sind. Reste der letzten Kriege. Welch ein Land, wo Panzer Denkmäler sind. Und dabei kann ich mein Land sogar verstehen. Jahrtausendelang haben sie sich wie die Lämmer zur Schlachtbank führen lassen, als hätten sie keine andere Wahl gehabt. Aber heute… heute hat Israel eine Wahl. Selbst wenn sie bedeutet, dass seine Menschen wie in einem Militärlager leben. So lange sie bis an die Zähne bewaffnet sind, fühlen sie sich sicher vor Verfolgung und Mord.“
Ich konnte ihn so gut verstehen. "Es muss furchtbar sein, erwählt zu sein. Immer zwischen Tod und Untergang zu leben. Das erwählte Volk! Ich frag mich wirklich, woher du deinen Glauben hast. Gott ist doch ungerecht zu seinem Volk, falls es das jüdische Volk ist."
"Ungerecht? Ich staune immer wieder, für was Gott alles verantwortlich gemacht wird. Er hat uns doch unseren Geist mitgegeben. Und du bist nicht die einzige, die so was fragt, vor allem seit Auschwitz.“
Wir schwiegen. Jeder in sich selbst vertieft.
Als wir weiterfuhren, tauchten unerwartet in dieser Landschaft die Türme eines Klosters auf. Es schien an der gegenüberliegenden Felswand zu kleben. Weiß leuchteten seine Mauern. Blau die Kuppeln. Unerreichbar für jeden Eindringling. Ein steiler Abgrund trennte die Mauern von ihrer Umwelt. Mir entfuhr ein Ausruf der Überraschung. Auf diesen Anblick war ich nicht gefasst. Wir hielten an... stiegen aus. Totenstille lag über der Ungeheuerlichkeit der Wüste. Nur manchmal das Poltern eines Steines, der sich unter unseren Sohlen löste und in die Tiefe stürzte. Wieder fasste ich nach Jonas. Meine Ergriffenheit konnte ich nur durch Berührung ertragen.
"Das St. Georgskloster," erklärte er. "Über tausend Jahre war es zerstört. Komm, wir setzen uns hierhin. Wir haben ja noch viel Zeit. Bis Jerusalem ist es nicht mehr weit.“
‚Eine seltsame Behauptung’, dachte ich, denn in der leeren Weite deutete nichts auf die Nähe einer Stadt hin.
Vorsichtig suchten wir uns einen festen Halt und setzten uns auf den weißen Kalksteinboden.
Schweigend ließen wir die Zeit verstreichen.
Es war mir, als strömten meine Gedanken ohne Worte. Meine Gefühle ohne Höhen und Tiefen. Ein schwebender Zustand der völligen Losgelöstheit. Plötzlich erschallte vom Turm des Klosters wie aus unirdischer Ferne der dünne Ton einer Glocke zu uns herüber.
"Findest du es seltsam, dass ich mir vorstellen kann, in einer solchen Einsamkeit zu leben?" Ich hatte geflüstert. Als sollten meine Worte nicht das Schweigen der Wüste brechen.
Und dachte: ‘Jeder hat eine Landschaft, die zu ihm passt. Für mich ist es die Wüste. Ob Jonas das verstehen kann?
Auch seine Stimme war sehr leise, als er jetzt antwortete.
"Mein Gott, Sophie, du bist so erfüllt von Lebenserwartung. Du hast vor Tagen von einem zweiten Leben gesprochen. Glaubst du, du könntest es hier verwirklichen? In dieser Endlosigkeit aus Stein, Hitze und Leere?"
"Ich weiß es nicht. Ich stelle es mir als endgültige Selbstfindung vor. Wobei das eigene Ich gar keine Rolle mehr spielt. Wo nichts Äußerliches mehr wichtig ist.“
Er nickte. Antwortete aber nicht.
Ich versuchte, Klarheit in meine Gedanken zu bringen. Ich wollte ihm unbedingt sagen, was ich empfand. Warum die Einsamkeit mich mit seltsamer Verführung anzog.
Doch dann wischte ich alle Grübeleien beiseite und wandte mich Jonas zu.
"Vielleicht hast du Recht…. Wollen wir hier das letzte Kapitel des Briefes lesen? Möglicherweise kann ich dann verstehen, warum ich so lange angelogen worden bin.“
Fast stolz blickte er mich an. "Du hast Mut, das finde ich toll. Ich wollte dich nicht danach fragen. Aber ich glaube, es ist ein guter Augenblick, um auch noch das Ende zu lesen.“
Ich nahm das Heft aus der Tasche. Ich hatte mir angewöhnt, es ständig bei mir zu tragen. Ich empfand es wie ein Testament, das Testament meiner Mutter für mich. Wie hatte sie am Anfang geschrieben: „es betrifft nur dich und mich“. Verwirrt schaute ich Jonas an.
"Mir ist fast andächtig zumute. So als würde die Tote bei uns sein. Darf ich noch etwas sagen, was mir gerade eingefallen ist, ohne dass du lachst?"
"Mut und Unsicherheit, bei dir liegen beide sehr nah beieinander. Ein bisschen kennst du mich doch schon, ich lache nicht über etwas, das dir wichtig ist.“
"Danke. Ich habe das Gefühl, als könnte meine Mutter keine Ruhe finden, bis ich diesen Brief zu Ende gelesen habe. Ich denke manchmal an sie wie an einen Menschen in Ketten, verstehst du? Die Hände und Füße sind gefesselt, und es ist mir", nun zögerte ich doch, bevor ich ganz leise hinzufügte "es ist, als würde sie mich anflehen, ihr endlich Frieden zu geben."
Ich begann zu lesen, und es war, als hallte meine Stimme von den weißen, heißen Felswänden wider, durcheilte das Tal der Todesschatten und stieg in die dicken Klostermauern hinab.
madrilena
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Re: Den Himmel mit Händen fassen
geschrieben von madrilena
als Antwort auf madrilena vom 21.06.2013, 09:06:34
Selma Meerbaum-Eisinger schrieb dieses Gedicht kurz bevor sie in Auschwitz umgebracht wurde.
"Ich möchte leben.
Ich möchte lachen und Lasten heben
und möchte kämpfen und lieben und hassen
und möchte den Himmel mit Händen fassen"

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madrilena
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Re: Den Himmel mit Händen fassen
geschrieben von madrilena
als Antwort auf madrilena vom 21.06.2013, 10:34:22
Einer der Briefe, die die Mutter an Sophie geschrieben hat.

Du wirst jetzt mit einigem Recht fragen, warum ich mich nicht scheiden ließ? Religiöse Gründe waren es gewiss nicht. Der Gedanke an Scheidung war mir schlicht unvorstellbar. Ich hatte ein Kind. Ich hatte einen Mann, der mich liebte. Welche Scheidungsgründe hatte ich denn?
Und dann kam noch etwas dazu, was für mich völlig unwichtig war, nicht aber für unsere Zeit. Das war die Angst. Yoshua war Jude. Noch gab es keinen offenen Antisemitismus. Aber es gab die unheimliche Drohung, die man empfand, aber nicht in Worte fassen konnte. Hitler hatte im Januar 33 die Macht als Reichskanzler ergriffen. Wer hatte denn schon sein Buch "Mein Kampf" gelesen? Und dabei stand darin sein ganzes entsetzliches Programm. Am 22. März, hörst Du Sophie, nur knapp drei Monate nach seiner Wahl wurde das KZ Dachau errichtet. Und im April kam bereits ein Gesetz heraus, das jüdische Beamte aus dem Öffentlichen Dienst entfernte. Aber was kümmerte es mich, welchem Glauben Yoshua angehörte? Doch ich spürte diese Zeit der äußeren Unsicherheit, sie ließ mich zittern. Andererseits zählte für mich nur, dass Yoshua mein Geliebter war. Vielleicht sollte ich das dennoch nicht meiner Tochter schreiben. Aber, liebes Kind, ich bin jenseits von jeder Scham. Das war mein Leben, und heute stehe ich dazu.
Siehst Du, und jetzt ist es mir doch wichtig, dass Du mich verstehst. Am Anfang schrieb ich Dir, ich wollte nur Deine Zeit. Ich weiß Kind, das war wieder einmal Selbstbetrug. Denn selbstverständlich möchte ich Dein Verständnis. Gerade von Dir ist es mir so wertvoll.

Nach ein paar Minuten ließ ich erschüttert das Heft sinken.
"Jonas, das erscheint mir alles wie ein grausiges Gespenst, das plötzlich hinter Vorhängen auftaucht, die vor der Vergangenheit zugezogen waren."
Jonas antwortete nicht. Er hatte den Kopf in beide Hände gestützt, als lauschte er der Stimme der Toten, die aus diesen Zeilen sprach. Lange saßen wir so, bis Jonas vorsichtig fragte: "Willst du weiter lesen? Wir haben noch Zeit. Deine erste Begegnung mit Jerusalem soll im Abendlicht sein."
"Gut!" Mühsam kehrte ich in die Gegenwart zurück. "Es sind nur noch ein paar Seiten.
Meine Stimme zitterte, als ich wieder anfing zu lesen:

Und dann geschah doch das Unfassbare. Ich glaube, es gibt Geschehnisse in unserem Leben, die wir nie überwinden können. Sie begleiten uns, zuerst stündlich und täglich und dann sind sie irgendwann schattenhaft Teil unseres Selbst geworden.
Es war im Januar 1942, morgens gegen zehn Uhr. Es schellte, vor der Tür die SS . In seinem Zimmer heulte dein Bruder Christoph. Im Radio spielten sie einen Walzer von Johann Strauss.“

Ich las mit monotoner Stimme weiter und weiter, als wollte ich mich so gegen die Ungeheuerlichkeiten, die Mutter mir hier mitteilte schützen:

Die Männer verhöhnten Yoshua, der noch immer ruhig auf seinem Stuhl saß. Sie rissen ihn hoch, stießen ihn vor sich her. Er rollte die Treppe hinunter. Und dann hörte ich doch noch einmal seine Stimme. Es war ein grauenhafter Schrei. Seine ganze Verzweiflung, seine Auflehnung lagen in diesem einen Schrei.
Irgendwann nach dem Krieg konnte ich herausbringen, dass Yoshua erst nach Dachau und danach in Auschwitz umgebracht worden war.“


(Das Ende des Briefes stelle ich jetzt nicht hier rein, um Ihnen, falls Sie sich für "den Himmel mit Händen fassen" interessieren, nicht die Spannung zu nehmen. Beim nächsten Abschnitt lese ich einfach den Rest des Kapitels. Also bis später.)
madrilena
madrilena
Mitglied

Re: Den Himmel mit Händen fassen
geschrieben von madrilena
als Antwort auf madrilena vom 22.06.2013, 08:42:19
Nach der Lektüre des Briefes der Mutter geht das Kapitel folgendermaßen weiter.

Jonas saß wie erstarrt. Dann spürte ich seine Arme. Er umschlang mich, wiegte mich wie ein kleines Kind.
Viel später erst sagte er: „Arme Sophie, musstest du das alles erfahren? Warum hat deine Mutter nicht für immer geschwiegen.“
Er zögerte, überlegte. „Nein, das wäre schlimmer gewesen… Du musstest erfahren, was wirklich geschah.“
Seine Worte erreichten mich nicht wirklich. Sie umgaben mich wie hörbare Stille. Erst langsam wurde ich mir wieder meiner Umgebung und der Wärme von Jonas’ Nähe bewusst. Die Zeit war für mich stehen geblieben. Ich spürte die Leere der Wüste. Ihre Kargheit war für mich zu einem Ort der Wahrheit geworden. Es gab keinen Fluchtpunkt in ihr, an dem ich mich festhalten konnte. Ich musste mich meinen eigenen Gedanken und Gefühlen stellen. Und… fühlte mich entsetzlich verloren.
Nach einer Weile war es Jonas’ Stimme, die diese Verlorenheit durchdrang.
"Der Tod von Yoshua steht für so viele Tode.
Seine Stimme klang jetzt beinahe prophetisch. "Auschwitz wird - wie die Stätten des frühen Judentums - für alle Zeit mit dem jüdischen Volk in Verbindung gebracht werden.
Yoshua ist ein Teil dieses Leides, und um das nicht allein ertragen zu müssen, bist du nach Israel gekommen. Ich glaube, wenn du das, was in diesem Brief gesagt wird, annehmen kannst, wirst du dankbar sein."
"Dankbar?" Abrupt hatte ich mich von ihm gelöst. "Für was denn? Für das Leid? Für den Verrat? Für die Ermordung Yoshuas?
"Sophie, erinnerst du dich, du hast einmal gesagt, du seist als Suchende gekommen. Ich glaube, alles musste so geschehen, wie es geschehen ist. Vorbestimmung ist doch nicht unbedingt nur positiv.“
Ich schaute auf das nahe und doch so ferne Kloster St. Georg. Blickte über die hellen Wüstenhänge. Verlor mich einen Augenblick in der Endlosigkeit des Himmels, bevor ich mich Jonas zuwandte.
"Ich kann dir nicht folgen. Begreifst du denn nicht, es geht um Verrat und Mord. Ich habe das Urbild des Nazis kennen gelernt. Und die haben nicht nur die Juden, Russen oder Polen zu Untermenschen erklärt und ausgelöscht. Was haben sie denn mit meinem eigenen Land gemacht? Sie haben in nur zwölf Jahren Deutschland in diesen Abgrund der Unmenschlichkeit gerissen. Das erschüttert mich. Es macht mich aber auch grenzenlos wütend. Ich muss mich heute dafür entschuldigen, eine Deutsche zu sein! Hier, in deinem Land, habe ich mich nicht gewagt, deutsch zu sprechen! Das ist ein furchtbares Empfinden. Und immer wieder die bohrende Frage. Wie konnte das geschehen?“
Er schaute mich grübelnd an. „Es muss ein schreckliches Erbe sein, unschuldig verantwortlich gemacht zu werden für eine Vergangenheit, die einen immer wieder einholt. Vielleicht ist es für mich wirklich schwer, zu begreifen. Mein Volk war immer das verfolgte. Es ist irgendwie leichter, sich damit zu identifizieren.“
madrilena
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Re: Den Himmel mit Händen fassen
geschrieben von madrilena
als Antwort auf madrilena vom 22.06.2013, 15:10:12
Einen schönen Restsonntag wünsche ich. Vielleicht bleibt ein wenig Lesezeit.
LG madrilena

Schweigend legten wir den Weg nach Jerusalem zurück. Die Straße stieg immer weiter an. Zu beiden Seiten Wüste. Stein und flimmernde Luft. Vor uns die ersten Anzeichen einer Stadt. Neben der Straße Steinhäuser, Schrebergärten und ein Kirchturm, mit einer schiefergedeckten Kuppel.
Und dann waren wir auf einer breiten Autobahnanfahrt mit hektischem Verkehr und Benzingestank.
"Ich fahre noch nicht zum Hotel“, unterbrach Jonas das Schweigen, "sondern zuerst zum Ölberg. Ich möchte dir Jerusalem so zeigen, dass du es nie mehr vergessen wirst.“
Ich konnte nur nicken, fühlte mich zweigeteilt. Noch war ich in der Wüste vor dem St. Georgskloster. Konnte mich nicht vom Brief der Mutter lösen. Duckte mich innerlich unter den Eröffnungen, denen ich mich so plötzlich ausgeliefert fühlte.
Andererseits war ich hier und hatte mit allem gerechnet, nur nicht mit diesem Großstadtgewirr. Obgleich ich nicht genau wusste, was ich erwartet hatte..... Die Großartigkeit von El Kuds - der Heiligen?.... Die Andersartigkeit von Yerushalayim, der Stadt der Juden... oder Jerusalem, die Stätte der Christen mit Grabeskirche und Via Dolorosa?...
Ich hatte mir vorgestellt, dass das Einmalige, was Jerusalem in der ganzen Welt bedeutet, diese Stadt so geprägt habe, dass sie einfach nicht alltäglich wirken könnte. Wie wirklichkeitsfern waren meine Vorstellungen gewesen.
Und dann lag Jerusalem vor uns, und es war alles so, wie ich es mir erträumt hatte. Die Abendsonne tauchte die Stadt in ein Licht, das verklärte und gleichzeitig allem eine helle Deutlichkeit gab. Am Abhang des Ölbergs breitete sich der große jüdische Friedhof mit seinen blendend weißen Grabsteinen aus. Und auf diesen Gräbern lagen unzählige kleine Steine. Keine Blume. Kein Kranz. Keine Kerze. Nur die hellfarbigen Kiesel.
"Wir Juden legen keine Blumen auf unsere Gräber, sondern Steine." Jonas war hinter mich getreten, nachdem er mich einige Minuten allein gelassen hatte, damit ich den ersten Eindruck von dieser Stadt ungestört in mich aufnehmen konnte.
Gedankenverloren schaute ich den Menschen zu, die zwischen den Gräbern eine Trauerfeier abhielten. Schwarz gekleidete Gestalten mit breitkrempigen Hüten zwischen grell-weißen Gräbern. Ich zitterte.
‘Yoshua hat kein Grab und für die vielen Millionen in den Lagern umgebrachten Juden gab es höchstens das Massengrab oder die Kalkgruben’, wollte ich sagen....
Aber,… ich schwieg.
Würde es mir je wieder möglich sein, mit meinem neuen Wissen so weiter zu leben wie bisher? Ich spürte, wie ich zu versinken drohte in dem Unfassbaren, das in mein Leben getreten war.
Ich war Jonas dankbar, das er jetzt im Ton eines Reiseführers meinte:
"Siehst du dort das Kidrontal? Der Tradition nach erschallen Posaunen, wenn der Tag der Auferstehung der Toten anbricht. In diesem Tal soll dann das Jüngste Gericht stattfinden."
Jonas deutete jetzt mit weiter Geste auf eine weiße Kirche. "Und dort? Der schwarzweiße Kirchenbau mit dem seltsamen Dach ist die Dominus flevit Kirche. Sie ist auf dem Felsen erbaut, auf dem Jesus über das Schicksal der Stadt geweint hat. Und gleich in der Nähe die ‘Todesangstkirche’."
Fragend schaute ich ihn an. "Warum Todesangstkirche?"...
Und dachte, ob Yoshua auch Todesangst gefühlt hat - damals? Wie lange sein Sterben gedauert haben mag? Auf was fiel sein letzter Blick? Vielleicht... auf eine kleine Blume, verirrt und einzeln in schwarzer Erde? Was war das letzte, was sein Ohr vernahm? Ein Schrei, ein Gebet, ein Befehl? Oder... war es der Wind?
Längst hatte ich meine Frage vergessen, als Jonas antwortete. "Du erinnerst dich an die Worte von Jesus. Vater nicht wie ich will - DEIN Wille geschehe! Nach einer Nacht der Auflehnung gegen den Tod soll er diesen Satz hier gesprochen haben."
Ich seufzte. "Das ist für mich der schwerste Satz im ganzen Vater Unser. Wenn ich ihn wirklich annehmen könnte, müsste ich ergeben in mein Schicksal sein. Das bin ich aber nicht."
Und leise für mich fragte ich, ob Yoshua wohl sein Schicksal angenommen hatte? Worte, wie ‘DEIN Wille geschehe’ oder ‘vergib Ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun’, waren mir schon von jeher schwer verständlich. Dazu gehörte eine Größe, die ich mir nicht zutraute. Oder... war es gar nicht Größe, sondern Glaube? Gottvertrauen?
Ich wandte mich Jonas zu: "Ob Yoshua zu solchen Gedanken fähig war? Seine Mörder wussten doch ganz genau, was sie taten. Es gibt keine unschuldigen Täter......"
Er legte sanft den Arm um meine Schultern. "Sophie, Du bist so unvorhergesehen in eine quälende Vergangenheit gestoßen worden. Erinnerst du dich an den See Genezareth und die Worte meines Freundes? Er meinte einmal. 'Gott ist unser Vater, doch bei so vielen Kindern kann er sich nicht gleichzeitig um alle kümmern.... Aber wenn du kommst und sagst, Vater, ich habe ein Problem, da wird ER sagen, entschuldige, dass ich mich nicht um dich gekümmert habe. Jetzt habe ich alle Zeit der Welt nur für dich, lass uns sprechen'."
Ich beherrschte mich nur mühsam. "Wir haben schon einmal davon gesprochen, aber ich frage wieder, wo war denn dieser Gott damals in Auschwitz? Was wurde seinen Kindern angetan! – und… er griff nicht ein. Da ist es leichter für mich, das zu glauben, was deine Rabbiner sagen, Gott ist nicht denkbar, er ist nicht erreichbar."
madrilena
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Re: Den Himmel mit Händen fassen
geschrieben von madrilena
als Antwort auf madrilena vom 23.06.2013, 18:04:26
Den Himmel mit Händen fassen


ISBN 3-934136-30-3

Wie immer ein kleiner Hinweis: (Sophie und Jonas waren jetzt in ihrem Hotel in Mea Shearim angekommen.)

Szenenwechsel
Ich wachte mitten in der Nacht von einem sonderbaren Geräusch auf. Es war dunkel im Zimmer. Aber… jemand hatte doch geweint. Tastend suchte ich nach der Nachttischlampe und spürte dabei, dass mein Kissen feucht war. Erstaunt strich ich mir über die Augen. Mein Gesicht war nass. Erschreckt setzte ich mich im Bett auf.
Der Traum!
Ich hatte ihn schon so oft in meinem Leben geträumt. Nur immer ein bisschen anders. Als würde von unsichtbarer Hand ein Puzzle zusammengesetzt. Ich musste mich erinnern. Musste unbedingt wissen, wie er diesmal gewesen war.
Am Anfang war eine Straße. Leer, kein Mensch weit und breit. Kein Laut zu hören. Graues Licht in der engen Gasse. Häuser bis zum Giebel rot geklinkert. Alle Fensterläden verschlossen. Die Türen fest verriegelt. Und ich inmitten dieser steinernen Einsamkeit.
Allein… Verlassen. Aber… verlassen von wem?
Im Traum irrte ich verzweifelt herum. Versuchte die Türen zu öffnen. Rief Namen – welche Namen? Ich weiß es nicht.
So viele Gefühle in diesem Traum. Angst. Verlust. Einsamkeit. Der Wunsch zu fliehen. Ein Wissen. Aber um was?
Ich hämmerte gegen die schweren Türen. Hohl der Klang in den Häusern. Ein leeres Echo aus leeren Räumen.
Und immer wachte ich weinend, manchmal sogar schreiend auf.
Was bedeuteten die leeren Häuser? Die verschlossenen Fensterläden? Die verriegelten Türen?
Heute war der Traum anders, beängstigender.
Wieder war ich durch die Straßen gelaufen. Hatte laut gerufen. Der graue Himmel hing tief zwischen den toten Häusern. Die Straße ein holpriges Kopfsteinpflaster. Die Häuser hatten keine Gärten. Es gab überhaupt nichts Lebendiges. Keinen Baum. Keine Blume. Keinen Strauch. Nur Stein. Als hätte sich das Grauen zu Stein verwandelt.
Als ich wieder gegen eine Tür schlug, verzagt, weil alles so hoffnungslos war, gab diese Tür plötzlich nach.
Erschrocken wich ich zurück, aber… die Neugier siegte. Ich drang in das Haus ein. Dumpfer Geruch hing in der Dunkelheit. Ich öffnete die mir zunächst liegende Tür. Stolperte über Gegenstände, die auf dem Boden verstreut lagen, zum Fenster und rüttelte an dem Laden, der nicht nachgeben wollte. Endlich löste sich der rostige Riegel. Weit stieß ich die Fensterläden auf.
Die Fenster hatten kein Glas…
Ich drehte mich ins Zimmer zurück.
Die Gegenstände, über die ich gestolpert war, waren umgestürzte Stühle. Verwelkte Blumen. Scherben. Ein zerbrochener Bilderrahmen. Der Raum nur spärlich möbliert. In der Ecke des Zimmers ein Kinderstuhl.
Was bedeutet dieser Traum?
Ich schlug die Hände vors Gesicht. Das gelbe Licht der Nachttischlampe blendete. Und plötzlich fing ich wieder an, krampfhaft zu weinen. Bilder drängten sich auf. Es nutzte nichts, die Augen zu schließen. Es waren keine äußeren Eindrücke. Keine Fotografien, die ich mit einer Handbewegung hätte wegwischen können.
In dem hohen Kinderstühlchen im Traum saß ein kleines Mädchen. Die blonden Haare waren zu zwei Zöpfen geflochten, die am Ende mit einer roten Schleife gehalten wurden. ‘Nie habe ich die Farbe Rot gemocht.’
Das Mädchen war außergewöhnlich hübsch. Ein zartes Gesicht. Volle rote Lippen. Eine winzige Nase. „Sophie, du hast gar keine Nase, das ist eine kleine Steckdose!“ Wer hatte das nur immer gesagt? Zwei riesengroße dunkle Augen. Und diese Augen - angefüllt mit Tränen - schauten mich mit so viel stummer Angst an, dass dieses stumm schon wieder ein Schrei war. Ein stummer Schrei von solcher Intensität, dass ich mich nicht von der Stelle rühren konnte.
Plötzlich entdeckte ich, dass das Kind nicht allein im Zimmer war. Neben ihr standen und saßen schemenhaft Gestalten. Ein Mann. Eine Frau. Vor denen das Kind ganz offensichtlich versuchte zu fliehen. Aber… es war noch so klein. Es konnte sich nicht allein aus dem Stuhl befreien. Nur seine großen Augen schrien.
Da war ich aus dem Zimmer gerannt. Aus dem Haus.
Die Straße entlang. Laut weinend.

Ich saß auf dem Bettrand und zitterte am ganzen Körper. Lieber Gott, was sollte dieser Traum nur bedeuten? Wer war der Mann? Wer die Frau und wer war das Mädchen? Was für eine Botschaft wurde mir aus meinem Unterbewusstsein übermittelt?
Und… warum hatte sich dieser Traum immer und immer wiederholt. Allerdings bis heute ohne das Kind. Warum war es jetzt, nach dem Brief der Mutter aufgetaucht?
Aus welchen Tiefen?

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