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Literatur Ein Dichter unterwegs...

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Ein Dichter unterwegs ... in Raum und Zeit
geschrieben von longtime
Wer hat Lust zu einem Autorenporträt:
Des Dichters Themen und Texte, seine Reisen, sein Nachruhm...


Ich wollte hiermit wieder einmal einen literarischen Thread eröffnen, wie es uns zu vielen Themen oder Autoren seit vielen Jahren gelungen ist:
Viele Autoren-Beiträge und eigene Leseerfahrungen...

Dieser Autor ist hier im ST schon häufiger erwähnt, auch mit einem Ausschnitt aus diesem hier benutzten Buch; aktuell ist es für mich aber wegen der Vorbereitungen zu drei großen Ausstellungen zum Komplex: "2000 Jahre Arminius-Varus-Mythen“.


Das Kapitelchen heißt original "Römerkastell und Lausebusch":

Ein mittelalterlicher Autor nennt Westfalen »non vinifera, sed virifera“ - nicht Wein, wohl aber Männer hervorbringend«. Aus dem männererzeugenden Westfalen will ich über das breitbelagerte niederrheinische Gebiet das Weinland des Rheines erreichen. Ich folge der Lippe, der unter den Flüssen Westfalens die Römerstraßen und Römerbefestigungen eine eigene Bedeutsamkeit gegeben haben. Hier etwa lag die Grenze, die das Imperium Romanum von der nur zeitweilig beherrschten, dann wieder verlorengegeben germanischen Kernwelt trennte.
Bei Haltern an der Lippe haben Ausgrabungen ein römisches Heerlager und Uferkastell freigelegt, das Museum des stillen, nicht anmutlosen Landstädtchens bewahrt wunderbare Dinge: neben militärischen Ausrüstungsstücken und altersschwarzen Weizenkörnern allerlei schmuckreiche Gegenstände des Tagesgebrauchs, Fibeln, Pinzetten, schönfarbige Glasreste, Lampen und Salbölfläschchen, Tintenfässer für Bataillonsschreiber, Spiegelchen, vor denen Portepeefähnriche dem Durchbruch des ersten Barthaars entgegengefiebert haben mögen; bezaubernde, glattgeschliffene Spielsteine, schwarze und weiße, die man augenblicks zur Hand nähme, wären sie nicht klüglich hinter Glas gestellt. Es erstaunt einen immer wieder, wenn man sich durch solchen Augenschein überzeugen darf, in wie hohem Maße vormarschierende Kolonisationsheere die sichere Kultur ihrer Heimat in noch ungesichertes Neuland tragen. Das ist nicht römisch allein: Allen wahrhaft großen Armeen ist es eigentümlich, daß mit ihren Feldzeichen eine noch nach Jahrhunderten ablesbare Quintessenz ihres Landes in die Ferne gelangt. Im Halterner Museum fesselt mich das Fragment eines Steindenkmals mit einer griechischen Ehreninschrift auf Publius Quintilius Varus. Der Fund wurde in Pergamon getan und gelangte als Geschenk nach Haltern. Er stammt aus der Zeit, da Varus Quästor in der Provinz Asia war.
Damals mag er sich an jene knechtliche Unterwürfigkeit gewöhnt haben, die er, Vertreter eines ewig in der Geschichte wiederkehrenden Kolonialdespotentums, auch von den freiheitsgewohnten germanischen Stämmen meinte fordern zu sollen. Die Inschrift besagt, das Volk habe ihn geehrt. Aber das Volk um Lippe und Weser war von anderem Gemüt.

Man hat in dem Kastell des Annaberges bei Haltern das vielumstrittene Aliso erkennen wollen, die wichtigste Römerfestung Germaniens, die auch in der Gegend von Hamm, in Eisen bei Paderborn, ja sogar bei Wetzlar am Zusammenfluß von Lahn und Dill gesucht wird. Es ist begreiflich, daß die Wetzlarer Philologen mehr der letzten, die Paderborner Gymnasiallehrer der vorletzten Deutung zuneigen; das Umgekehrte fordern, hieße die menschliche Natur mißkennen.

Im Haltener Stausee erfrischt mich unter zahllosen anderen ein Bad am heißen Tage. Das nächste soll im Rhein geschehen, in der großen Einsamkeit der mächtigen Stromfläche.
Zwischen dem münsterschen und dem niederrheinischen Tiefland empfangt mich noch einmal eine bescheidene Hügelgegend; doch hält sich der westfälische, der münsterländische Landschaftscharakter ohne viel Änderung bis an den Strom. Von Kämpen, Wallhecken, Hofeseichen sind die bäuerlichen Anwesen umgeben. Diese Wallhecken, die eins der westfälischen Landesmerkmale sind, umschließen nicht den bäuerlichen Gesamtbesitz, sondern seinen Mittelpunkt, den Hof Sie vertreten Mauerstelle und empfangen eine gewisse Pflege; wogegen die holsteinischen Knicks wildwachsende Flureinfriedigungen darstellen, Wiesen- und Ackergrenzen.
Vor Ratzeburg heißt ein Buchengehölz »der Lausebusch«, denn hier pflegten von altersher die Handwerksburschen vor dem Betreten der Stadt Toilette zu machen.
Im waldarmen Lande vor Wesel spähe ich vergebens nach einer grünen Stadtvorhalle ähnlicher Art. Endlich beschließe ich, den Schatten einer Obstbaumgruppe als meinen Lausebusch gelten zu lassen. Ich raste in seiner Kühle und mache mich auf meine Weise stadtfähig, indem ich endlich den Hemdkragen schließe und zu Ehren des Weseler Gasthofspersonals eine Krawatte umbinde.

*
(1933 erfolgte die Tour durch Deutschland; 1934 erschien das Buch. - Zitiert wird hier aus einem schönen Nachdruck des Jahres 2004, den die Tochter des Autors herausgab. S. 93f.)
*
»Non vinifera, sed virifera“:
Dieses Lateinzitat hat jemand ungeniert heldisch so übersetzt: „Westfalen ist kein Weinland, sondern ein Reckenland…“

*

Im TIPP die Rekonstruktion der griech. Inschrift des verloren gegangenen Steinsockels: "Das Volk (von Pergamon) ehrt Publius Quin(c)tilius Varus". -
Aus: K. Tuchelt: 1979, Frühe Denkmäler Roms in Kleinasien. (Bearbeitung: LWL/Esch)
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Re: Ein Dichter unterwegs ... in Raum und Zeit
geschrieben von longtime
als Antwort auf longtime vom 24.03.2009, 09:59:13
So hat Die Ruhr über die Vorbreitungen in einem der drei Museum, im Römermususm in Halten berichtet - und über den einzigen archäologischen VARUS-Nachweis, der aber im Krieg verloren gegangen ist...

... und über

Werner Bergengruen, von dem der Reisebericht aus dem Jahre 1933 stammt und von dem ich noch weitere Texte bieten werden, die bisher nicht im ST stehen.

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Re: Ein Dichter unterwegs ... in Raum und Zeit
geschrieben von yankee
als Antwort auf longtime vom 24.03.2009, 10:54:33
Mit Bergengrün habe ich mich noch nicht befasst, weil ich ihn immer als sehr religiös verherrlichend und somit weltfremd eingeschätzt hatte. Sicher ist das nur eine oberflächliche Meinung, deshalb finde ich dieses Thema sehr interessant. Bin gespannt was hierzu an Informationen noch kommt. Auf jeden Fall würde ich Bergengrün schon zu den vergessenen Dichtern zählen. Warum das so ist, ist mir allerdings nicht ganz klar, denn schliesslich gab es ja viele andere, die ebenfalls ein sehr extrem verherrlichendes religiöses Weltbild hatten und dies in ihren Werken zum Ausdruck brachten.
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Re: Ein Dichter unterwegs ... in Raum und Zeit
geschrieben von longtime
als Antwort auf yankee vom 24.03.2009, 11:50:07
Bevor es mit Bergengruen - der nicht nur religiös, sondern auch antinazistisch und naturlyrisch und ein Weltbürger war... - weiter geht:

TIPP: über die Ausstellungen zum Thema 2000 Jahre Schlacht im Teuroburger Wald

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Re: Ein Dichter unterwegs ... in Raum und Zeit
geschrieben von longtime
als Antwort auf longtime vom 24.03.2009, 18:13:23
Also, zurück zu Werner Bergengruen:

Ich habe bei seiner Tochter, Frau Dr. N. Luise Hackelsberger, um Erlaubnis angefragt, Kurztexte hier im ST zu einem Porträt zusammenzustellen.

Frau L. H. ist Leiterin des Bergengruen-Archivs, das sie für ihren Vater und sein Werk in

D 67433 Neustadt
Konrad-Adenauer-Str. 24

eingerichtet hat.

S. TIPP:

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Re: Ein Dichter unterwegs ... in Raum und Zeit
geschrieben von yankee
als Antwort auf longtime vom 25.03.2009, 08:43:55
Ergänzend zu dem link möchte ich noch einen link vom Verlag "junge Freiheit" hinzufügen, welcher mir ein etwas aufschlussreicheres Bild von Bergengrün vermittelt. Ich musste jetzt schon feststellen, daß ich nicht nur eine falsche Meinung sondern eigentlich keine Ahnung von dem Menschen Werner Bergengrün hatte. Dies zeigt mir wieder, wie unbedacht und vorschnell das Schubladendenken zuschlägt. Finde es toll, daß dieser Mann hier mal vorgestellt wird.
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yankee

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Re: Ein Dichter unterwegs ... in Raum und Zeit
geschrieben von longtime
als Antwort auf yankee vom 25.03.2009, 10:50:12
Danke, yankee!

Da Werner Bergengruen schon oft Thema im ST war, habe ich alle Einstragungen nachgeschlagen.

Im TIPP sind alle W.-B.Texte und Diskussionen dazu zu finden:


Aus einer sehr schönen Dichter-Briefmarken-Galerie:

Bundespost 1992:
Werner Bergengruen
(Nach einer Zeichung von Hanny Fries)



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Re: Ein Dichter unterwegs ... in Raum und Zeit
geschrieben von longtime
als Antwort auf longtime vom 25.03.2009, 14:02:28
Mit dem "Kobold"
hier hat Werner Bergengruen ein nicht nur niedliches, allgemein verständliches Kindergedicht verfasst...

Mit einigen komischen, kindertümlichen „Mängeln“: keine Reimgestaltung in der 1. Strophe, zusammengefügte Wörter, damit’s versmäßig passt; ein enig urtümlich-holprige Wortbildungen wie Versprecher, konstruierte Wortbedeutungen; also mit disparaten Stilebenen, die doppelbödig sind, weil sie die Kindersprache verlassen und bei der Erwachsenenwortwahl Anleihe nehmen..

Nur in einer Anthologie mit Kindergedichten habe ich den Text gefunden; auch ohne Angabe der Entstehungszeit.

Rückblick:
Es gab es in Balladen und Märchen der Klassik, Romantik und des Biedermeier solche Gespenster-, Kobold- oder Wichtelgeschichten als Loblied auf Hausgeister (Goethe, Kopisch, Mörike…); später haben Dichter diese erzieherischen Droh- und Lobesmechanismen als psychologische Gestaltung für die elterliche Ehrlichkeit und soziale Realität genutzt; z. B. W. Borchert, J. Ringelnatz – alles ohne Drohkulissen...
Hier bei Werner Bergengreun ist seine Sorge für seine Kinder und für sich als Poet mit den naturgegebenen Inspirationen beim Ausblick am Fenster am wichtigsten.

Werner Bergengruen:
Der Kobold

Das Haus hab ich erbaut
Vom Keller bis zum Dach.
Wer hat den Kobold eingesetzt,
Der unter der Treppe wohnt?

Er trinkt von meinem Wein,
Er nagt am Schinkenbein.
Er steckt sich Zucker in den Sack,
Er schmaust von meinem Rauchtabak,
Macht allen Vorrat klein.

Was tut er zum Vergelt?
Er geigt um Mitternacht.
Er gibt auf meine Kinder acht,
Daß keins die Treppe fällt!

Was tut er noch zum Dank?
Er putzt das Mondhorn blank.
Damit es silberrein
In meine Fenster schein.

*
(Aus: Die schönsten deutschen Kindergedichte. Gesammelt von Herbert Heckmann und Michael Krüger. © Verlag Die Arche. Zürich 1958)


TIPP: zum Kobold - über den sprachlichen Begriff, die kulturelle und literarische Tradition findet bei Wiki:

Über die Popularität von Bergengruen-Gedichten hat sich hier jemand Gedanken gemacht:

Über Bergengruen-Gedichte
*
Das Gedicht wurde auch schon 2007 im ST eingestellt:
http://www.seniorentreff.de/diskussion/threads4/thread1481.php


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Re: Ein Dichter unterwegs ... in Raum und Zeit
geschrieben von longtime
als Antwort auf longtime vom 26.03.2009, 18:24:59
http://fabi.cf-dev.de/burgfreunde/images/vegesack.jpg[/img]

[i]Siegfried v. Vegesack



Werner Max Oskar Paul Bergengruen (* 16. September 1892 in Riga, Livland; † 4. September 1964 in Baden-Baden) war ein deutschbaltischer Schriftsteller.

Er hatte aus diesem Kulturkreis einige Freunde, besonders die Dichter Sigismund von Radecki und Siegfried von Vegesack.


SIEGFRIED VON VEGESACK hat in Baden-Baden am 4.9.64 die Abschiedsrede für den Toten gehalten.


SIEGFRIED VON VEGESACK:
Dank an Bergengruen



Mein Lieberchen!


Wir hatten uns auf diese Anrede geeinigt, da wir beide uns mit unserem Vornamen nicht befreunden konnten. Du schriebst mir: „Offenbar ist Dir Dein Vorname ebenso unbehaglich, wie mir der meine. Schon die Silbenhäufung Wer - ner - Ber... ist abscheulich. Du stammst von Richard Wagner ab, ich von Scheffel und seinem Trompeter ... !"

Mein Lieberchen, sei unbesorgt: es soll keiner der üblichen ,Nachrufe' werden, aber ein paar Worte des Dankes mußt Du mir schon erlauben , des Dankes für eine Freundschaft, die über die Hälfte meines Lebens ungetrübt und immer neu belebt gedauert hat.

Ja, es sind jetzt genau vierzig Jahre her, als mit dem ‘Baltischen Dichterbrevier', das Du 1924 herausgabst, unsere Freundschaft begann. Dann haustest Du einen Sommer bei uns auf dem Turm , dann ich bei Dir in Zehlendorf , und wo sind wir nicht alles seitdem zusammen gewesen, in Solln bei München, Zürich, Baden-Baden, Darmstadt zuletzt noch in diesem Frühjahr in Köln.

Und jedes Beisammensein war immer so, als wären wir überhaupt nicht getrennt gewesen. Was war es, was uns beide so fest verband und zusammenhielt?

Nun, zunächst wohl die gemeinsame Heimat. Obgleich Du sie schon als Kind verlassen hast, hat sie doch Dein Wesen und Dein Schaffen geprägt, und ich kenne kein schöneres und tieferes Wort darüber, als Dein ,Bekenntnis zur Höhle'. Doch Du bist keineswegs in der baltischen Höhle steckengeblieben. Nach zwei Seiten hast Du sie durchbrochen: nach Osten, ins eigentliche Rußland, und nach Süden Italien.
Und Du bekennst: drei Städte hättest Du vor allem geliebt: Riga, Kijew und Rom. Dein Übertritt zur Katholischen Kirche war nicht eine Einengung ins Konfessionelle, Dogmatische, sondern ganz im Gegenteil eine Vertiefung und Erweiterung in die antike Welt: Ich bekenne mich dazu, ein christlicher Heide zu sein!' Um diesen Glauben, diese Glaubensfähigkeit hab' ich Dich, mein Lieber, oft beneidet. Und wenn ich Deinen Glauben auch nicht teilen kann, so hat er auch mir über manche dunkle Stunde hinweggeholfen. Und dafür danke ich Dir.

Und noch für etwas möchte ich Dir, mein Lieber, danken, für etwas, was heute unter uns armen Tintenkulis sehr rar geworden ist: Ich meine den tiefgründigen und hintergründigen Humor, der Dein Schaffen auf eine so unnachahmliche Weise kennzeichnet und Deinem Wesen jenen Zauber gab, dem sich wohl niemand entziehen konnte, der das Glück hatte, Dir zu begegnen!

Und was hast Du mir sonst nicht alles in überreichem Maße geschenkt frei von unserer Berufskrankheit von Neid und Mißgunst , hat Dein gutes Wort in schlimmen Stunden, die keinem von uns erspart bleiben, mich, immer wieder aufgerichtet.

Aus Deiner ‘Heilen Welt', dem schönsten, reichsten und tiefsten Gedichtband, den ich kenne, hab' ich immer wieder Mut und Kraft geschöpft, wenn ich am Verzweifeln war. Auch dafür - und dafür vor allem - dank ich Dir, mein Lieberchen!

Zu meinem 75.Geburtstag schriebst Du mir u. a.:
Wenn wir zusammen Hundertfünfzig zählten,
Das wär' mal ein Effekt! Doch soll's nicht sein,
Da wir verschieden das Geburtsjahr wählten,
so hol' ich nie Dich ein!...

Jetzt - in einem Jahr hätten wir die "Hundertfünfzig" geschafft - hast Du mich überholt.
Du bist mir vorangeeilt - und es ist nun an mir, Dir zu folgen dorthin, wo das Geheimnis verbleibt'.

Und so laß mich schließen mit Deinen Versen, aus der "Heilen Welt":

Frage und Antwort

Der die Welt erfuhr,
faltig und ergraut,
Narb auf Narbenspur
auf gefurchter Haut,

den die Not gehetzt,
den der Dämon trieb
sage, was zuletzt
dir verblieb.

Was aus Schmerzen kam,
war Vorübergang.
Und mein Ohr vernahm
nichts als Lobgesang.



[i]Testament

Kein Schauder darf euch fassen,
wenn ihr den Spaten hebt
und, was ich nachgelassen,
der feuchten Erde gebt.
Schon einmal hab ich Zeiten
in dunklem Schoß verbracht,
in feuchten Fruchtbarkeiten
der mütterlichen Nacht.
Grabt ein! Grabt ein!
Ich werde getrost verwesen.
Meine Mutter, die Erde,
wird mein genesen.

*


(Der Text folgt dem Abdruck der Rede in „Baltische Briefe“. Ausgabe August/Sept. 1964. Nr. 8/9. S. 190/191).



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Re: Ein Dichter unterwegs ... in Raum und Zeit
geschrieben von longtime
als Antwort auf longtime vom 27.03.2009, 09:53:31
Werner Bergengruen:
Zwieselchen schreibt an den Osterhasen

Das Zwieselchen hatte unter seinen Sachen ein kleines Heft mit sehr schönen Bildern, auf denen lauter feine Damen in Pelzmänteln zu sehen waren. Es war einmal mit der Post gekommen, und die Eltern hatten gesagt, sie bräuchten es nicht, das Zwieselchen könne es haben. Es war auch etwas mit ganz dicken und großen Buchstaben darauf gedruckt, das anfing: »Wir raten Ihnen zur Vorsicht beim Ankauf von Pelzwaren.«
Dieses Heft fand die Else besonders schön, und darum hatte sie dem Zwieselchen auch oft das Gedruckte vorgelesen. Mit diesem Heft ging das Zwieselchen jetzt zur Else in die Küche und sagte: »Else, bitte, lies es mir noch einmal vor!« »Jetzt habe ich keine Zeit, Zwieselchen«, antwortete die Else, »ich muß das Frühstücksgeschirr abwaschen.« »Nur den Anfang, Else, das dauert doch nicht lange.«

Da las die Else: »Wir raten Ihnen zur Vorsicht beim An ... «
»Nur bis daher, Else!« rief das Zwieselchen. »Jetzt zeige mir bloß noch, wo ‘Vorsicht’ gedruckt steht.«
Die Else zeigte auf die Stelle, und das Zwieselchen machte sich rasch mit dem Fingernagel einen Strich hin.

„Warum mußt du denn das wissen ?“ fragte die Else. Aber darauf gab das Zvieselchen keine Antwort, es sagte bloß: »Danke schön!« und lief weg.

Aus dem Papierkorb neben Mutters Schreibtisch holte es sich einen Briefbogen, der auf der einen Seite noch leer war, so daß man darauf einen Brief schreiben konnte, einen Brief an den Osterhasen. jetzt schreit ihr alle: »Aber das Zwieselchen kann doch noch gar nicht schreiben!« Da habt ihr freilich recht, aber den Brief an den Osterhasen hat es doch fertiggekriegt, hört nur zu.

Aus einer Zeitung vom Papierkorb schnitt es sich mit der Schere aus Mutters Nähkasten ein Bild vom Osterhasen heraus, klebte es mit Syndetikon auf den Briefbogen. Dann holte es sich sein Struwwelpeterbuch, das leider schon ganz auseinandergefallen und zerissen war, sooft hatte das Zwieselchen es schon besehen. Dort, wo die Geschichte vom wilden Jäger und dem Hasen war, dort war es besonders zerissen, darum war es nicht weiter schade, daß das Zwieselchen ein Bild vom Jägersmann herausschnitt, und das wurde neben das Hasenbild geklebt. Dann schnitt das Zvieselchen die ersten Worte aus dem Pelzheft heraus, bis zu dem Strich mit dem Fingernagel, und klebte sie darunter, und nun war der Brief fertig. Rundherum sah man die Kleckse von dem Syndetikon, und das Zwieselchen konnte kaum die Finger von dem Papier losmachen, so klebrig waren sie geworden. Da war also erstens ein Osterhasenbild und zweitens ein Jägerbild, und darunter stand »Wir raten Ihnen zur Vorsicht«. Gewiß würde der Osterhase verstehen, was das bedeutete: nämlich, daß er sich vor dem Jäger in acht nehmen sollte.

Das Zwieselchen ging zum Vater und bat um einen Briefumschlag.

»Wozu denn?« fragte der Vater. Das Zwieselchen wurde rot und sagte: »Das ist ein Ostergeheimnis«, und da lachte der Vater und gab ihm einen Briefumschlag. In den Umschlag kam der Brief, und auf den Umschlag malte das Zwieselchen drei Kreuze, damit der Osterhase den Brief auch recht schnell bekommen sollte.
Aber in den Briefkasten wollte es den Brief nicht stecken, denn es war ja Sonntag, da wurde der Kasten nur einmal geleert, dann kamen die Briefe noch auf die Post, da konnte es wer weiß wie lange dauern. Nein, der Brief mußte zum Hasennest gebracht werden, aber das Zwieselchen wußte nicht, wie es hinkommen sollte, denn allein durfte es nicht so weit fort in den Wald, und im Kindergarten waren Ferien, und die Eltern und die Else konnte es nicht bitten, mit ihm. hinzugeben, weil es doch ein Geheimnis bleiben sollte, und außerdem hatten die keine Zeit, denn der Vater saß in seinem Schreibzimmer, und die Mutter wirtschaftete mit der Else in der Küche umher.
Aber da sah das Zwieselchen eben aus dem Fenster, und wen sah es?
Den Onkel Sebastian, der gerade von der Straße aus die Gartentür aufklinkte!
Das Zwieselchen brüllte: »Hurra!« und rannte ihm entgegen und schrie: »Onkel Sebastian! Onkel Sebastian! Ach bitte, bitte, du mußt gleich ein bißchen mit mir spazierengehen!«
»Donnerwetter!«, sagte der Onkel Sebastian lachend. »Das ist ja eine sonderbare Begrüßung, wenn man sich ein halbes Jahr nicht gesehen hat! Darf ich nicht wenigstens erst ins Haus und deinen Eltern guten Tag sagen?« »Ach, der Vater schreibt, und die Mutter ist in der Küche, und wir sind ja auch sehr schnell wieder zurück, ach, bitte, bitte, Onkel Sebastian!«
Der Onkel wunderte sich allerdings sehr, aber er war ein herzensguter Mann, und darum werdet ihr euch nicht wundern, daß er mit dem Zwieselchen spazierenging. Das Zwieselchen war nur rasch ins Haus gelaufen und hatte den Brief geholt.
»Aber nicht fragen, Onkel Sebastian, was ich mit dem Brief will, das ist nämlich ein Ostergeheimnis «
Also fragte der Onkel Sebastian nicht, und als sie bei den Eichen im Walde waren, da mußte er einen Augenblick warten, das Zwieselchen rannte mit seinem Brief weg und kam ohne den Brief wieder.

Der Osterhase war gerade nicht zu Hause gewesen, und Eier waren in dem Nest auch nicht gelegen, aber nun lag der Brief darin, und wenn der Hase zurückkam, dann mußte er ihn finden und würde sich vor dem Jäger in acht nehmen.

Aus dem Buch: „Die lustige Geschichtenkiste“. Herausgegeben von Erich Kästner.

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© Luise Hackelsberger. Werner Bergengruen Archiv Neustadt.
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http://www.ostern.fk8.de/geschichten/geschichten36.htm
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