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Literatur Ein Dichter unterwegs...

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Re: Ein Dichter unterwegs ... in Raum und Zeit
geschrieben von longtime
als Antwort auf longtime vom 30.03.2009, 08:54:41
Werner Bergengruen hat kritische oder kulturelle wichtige Aufzeichnungen zeit seines Lebens verfasst, die nicht alle zur sofortigen Veröffentlichung bestimmt waren:


W.B.:
Die Ausbreitung des Versicherungswesens war die Folge eines gestörten Verhältnisses zum Schicksal und seinem Herrn; das mußte nun in diesem Sinne weiterwirken.
Es ist kein Zufall, daß das Versicherungswesen sich erst in der ausgehenden Barockzeit mit ihren positivistischen Auflösungen hat entfalten können. Nun trat die Prämienzahlung an Stelle des Gebets, die Police an die des Gottvertrauens und der Ergebung in den Willen Gottes.

Volkstümlich drückt sich dieser Prozeß in einem Schnadahüpfel aus:

»O heiliger Florian,
du damischer Hans!
Mir brauchen dich nimmer,
mir habn d'Assekuranz!«


Das Schicksal war relativiert; es mußte mit such reden und es mußte mit sich handeln lassen. Schließlich mußte der Mensch fähig sein, es zu überlisten. Den Versicherungen folgten die Rückversicherungen. Im Grunde setzte dies alles ein schlafendes oder doch zeitweilig spazierengehendes Schicksal voraus. Das Risiko, diese eigentliche Grundlage alles Lebens, schob man kunstvoll vor sich her, die Auffindung immer neuer schicksalsfreier Räume schien zu gelingen. Auf die Länge konnte das nicht gut gehen; das Fatum ist nicht domestizierbar. Es ist gut, wenn dazwischen, wie wir es mehrfach erlebten, alle Sicherungen als trüglich entlarvt werden und der Mensch in gänzlicher Nacktheit auf sich selber zurückgeworfen wird.

(Aufzeichnung aus dem Jahr 1943)


*
Schnadahüpfl oder Gstanzl sind eine bayerisch-österreicherische, lustige Lied- und Tanzform, meist als Spottgesang.
Sie bestehen vorwiegend im Drei-Viertel-Takt und sind verwandt mit den Schlumperliedla oder Trutzgsangl, bestehend wie die Volksliedstrophe aus einem Vierzeiler.

TIPP:
Zum Nachlesen über die Vierzeilenform:

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Re: Ein Dichter unterwegs ... in Raum und Zeit
geschrieben von longtime
als Antwort auf longtime vom 04.04.2009, 13:15:05
Werner Bergengruen:
Aufzeichnung aus dem Jahre 1959:


Zeitungen berichten, der Pariser Magistrat habe eine, wie man heute sagt, Großaktion gegen die Clochards beschlossen. Sie sollen, als ein Schandfleck unseres Jahrhunderts, ganz und gar verschwinden. Die Polizei wird sie aufgreifen und abschleppen.
Ein Gremium sachverständiger Männer wird nach sorgfältiger Prüfung darüber befinden, welcher sozialen Glückseligkeitseinrichumg der einzelne Clochard zugeführt werden soll, dem Altersheim, dem Zwangserziehungsheim, dem Gefängnis oder der Irrenanstalt.
Vorher wird man sie baden, scheren, rasieren.

Wenn es schon Menschenrechte geben soll, gehört zu ihnen nicht die Freiheit des Individuums, sich gegen oder für die Lebensform der Clochards zu entscheiden?


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Re: Ein Dichter unterwegs ... in Raum und Zeit
geschrieben von longtime
als Antwort auf longtime vom 06.04.2009, 12:59:59
Ich setze noch – nach einem Kurzurlaub - die Texte aus Werner Bergengruens Werk fort.

Ich habe inzwischen von seiner Tochter, Frau Dr. Hackelsberger, (mit Brief vom 24. März 2009) die Abdruckgenehmigung im ST für Zitate erteilt bekommen; und werde, wenn es sich ergibt, Kurzinterpretationen anfügen.


"Schuld und Hoffnung sind die beiden grundlegenden Agentien der Epik. Jede epische Gestalt steht unter einem dieser beiden Zeichen, viele unter beiden, und dies ist der eigentlich menschliche Zustand. Der absolut Schuldlose, der absolut Hoffnungslose (aber auch der Hoffnungsfreie) ist nur als statische Kontrastfigur denkbar. Jeder verstrickt sich in Schuld, jeder lebt von der Hoffnung, etwas zu erlangen, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, das sich ihm meist unter dem fragwürdigen Bilde des Glückes darstellt. Von Schuld und Hoffnung der Menschen wollen wir erzählen hören, und es ist gleich, unter welchen Verkleidungen und Bemäntelungen sie auftreten. (1956)
(nachgedruckt in W.B.: "Texte zum Nachdenken". 1988)

*
Agens, Agenzien (pl.): ein - für uns Heutige - seltenes philosophisches Wort, für jeden „Lateiner“ leicht abzuleiten: Handlungsmomente; grundlegende, treibende Kräfte des Lebens und der dichterischen Handlungskonstruktionen.

*

Ernst Bloch hat zuletzt (1954) das Wort Agentien als allgemein philosophischen Begriff gebraucht:

„Wie alle Wahrheit eine Wahrheit wozu ist und es keine um ihrer selbst willen gibt, außer als Selbsttäuschung oder als Spintisiererei, so gibt es keinen vollen Beweis einer Wahrheit aus ihr selbst als einer bloß theoretisch bleibenden; mit anderen Worten: es gibt keinen theoretisch-immanent möglichen vollen Beweis -.
Nur ein partialer ist rein theoretisch vollziehbar, so am meisten noch in der Mathematik; aber auch hier erweist er sich nur als ein partialer spezifischer Art, indem er nämlich über bloße innere ‚Stimmigkeit’, logisch-konsequente ‚Richtigkeit’ nicht hinauskommt. Richtigkeit aber ist noch nicht Wahrheit, das heißt: Abbildung der Wirklichkeit sowie Macht, in die Wirklichkeit nach Maßgabe ihrer erkannten Agentien und Gesetzmäßigkeiten einzugreifen.
Mit anderen Worten: Wahrheit ist kein Theorie-Verhältnis allein, sondern ein Theorie-Praxis-Verhältnis durchaus -. Derart bekundet These 2: Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme, ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage.“

(Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Band 1. Berlin: Aufbau-Verl. 1954, S. 291)


Theoretisch kann man daraus keinen Unterschied zwischen Bloch und Bergengruen ableiten…, derweil - über die politischen Grundüberzeugungen hätten sich beide bestimmt gestritten, wenn sie sich je begegnet wären...

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Re: Ein Dichter unterwegs ... in Raum und Zeit
geschrieben von longtime
als Antwort auf longtime vom 19.04.2009, 17:03:09
Bergengruen kann natürlich auch erlebnisnaher, sinnen-konkreter, prallvoll des Lebens dichten, auch für Menschen, die den letzten Gedanken nicht ausweichen:

W.B.:
"Ich verstehe es, daß Friedhöfe pietätvoll in Ordnung gehalten werden müssen, so wie man in Deutschland alle« in Ordnung hält, fürchterlich in Ordnung! Aber mit Liebe denke ich an verwilderte russische oder polnische Dorffriedhöfe, deren Gräber von Gestrüpp überwuchert und kaum mehr kenntlich sind. Die morschen Holzkreuze, manche unter ihnen weit übermannshoch, stehen schief, der nächste Sturm reißt sie nieder, viele liegen schon am Boden, niemand richtet sie auf. Alles zerfällt, alles sinkt zurück in die Natur, und auch die Gräber erheben keinen Anspruch auf Dauer. Kaum eine Inschrift ist noch lesbar.
Nackt ist der Mensch auf die Erde gekommen, nackt und namenlos geht er wieder in sie ein. Es ist genug, daß jeder Name im Gedächtnis Gottes aufgehoben ist. "
(Eine Aufzeichnung von Bergengruen aus dem Jahre 1959)


*

Dichterisch kann das so prägnant gefasst sein bei ihm als Poet:

Leben eines Mannes

Gestern fuhr ich Fische fangen,
heut bin ich zum Wein gegangen,
- Morgen bin ich tot –
Grüne, goldgeschuppte Fische,
rote Pfützen auf dem Tische,
rings um weißes Brot.

Gestern ist es Mai gewesen,
heute wolln wir Verse lesen,
morgen wolln wir Schweine stechen,

Würste machen, Äpfel brechen,
pfundweis alle Bettler stopfen
und auf pralle Bäuche klopfen,
- Morgen bin ich tot -

Rosen setzen, Ulmen pflanzen,
schlittenfahren, fastnachtstanzen,
Netze flicken, Lauten rühren,
Häuser bauen, Kriege führen,
Frauen nehmen, Kinder zeugen,
übermorgen Knie beugen,
übermorgen Knechte löhnen,
übermorgen Gott versöhnen

- Morgen bin ich tot.

(1930)

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Re: Ein Dichter unterwegs ... in Raum und Zeit
geschrieben von longtime
als Antwort auf longtime vom 20.04.2009, 21:00:15
Kunstbetrachtungen von Werner Bergengruen:

"Das Gute neigt zur Uniformität, das Böse ist immer individuell. Für die Kunst ist das Böse das Ergiebigere, vielleicht ist es ihr einziger Vorwurf. In einer sittlich vollkommenen Welt wäre keine Kunst möglich, wie ja auch im Garten Eden keine möglich gewesen ist. Adam vor dem Fall brachte es ja nicht einmal zu artikuliertem Lobgesang." (1946)


"Das Geheimnis jeder Menschendarstellung in der Dichtung ist der Eingang alles Individuellen in das Typische und die Faßlichmachung alles Typischen im Individuellen.
Hier liegt einer der großen Irrtümer der Moderne: Das Individuelle ist das Mittel oder die Vorstufe. Nicht das Individuelle ist am Typischen, sondern das Typische am Individuellen sichtbar zu machen. Das Individuelle ist von Haus aus gleichgültig, denn es ist zufällig. Es hat seine Ehre nur davon, daß es das Typische aufleuchten läßt. Ja, es vollendet sich überhaupt erst im Typischen. Hat es das geleistet, so falle es in die Anonymität zurück." (1947)

*

Die in diesem Zitaten sichtbare werdende Ablehnung der sogenannten "modernen Dichtung" hat natürlich mehrere Gründe, die W.B. von seiner Bildung, seiner politisch-konservativen, religiös affirmativen Grundausstattung her sich nicht erschlossen hat.

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Re: Ein Dichter unterwegs ... in Raum und Zeit
geschrieben von longtime
als Antwort auf longtime vom 22.04.2009, 10:06:54
Werner Bergengruen:

„Die Mythologie nimmt an, Leda habe (und zwar als einzige Frau!) mit Sicherheit zwischen einem Schwan und einem Gänserich unterscheiden können. Erwiesen aber ist es nicht.“(1947)

Religionsgeschichtlich und anthropologisch-medizinisch habe ich eine ganz andere Auffassung über die von Heldensängern erfundenen Mythen über Frauen, die von Göttern oder Halbgöttern ausgesucht wurden, um sie kräftig und gewalttätig einschüchternd als männliches Vieh zu überfallen, mit ihnen zu kopulieren – und Hinterlassenschaft mit diesen Frauen zu zeugen.
Umgekehrt: Göttlichen Frauen hat mann mythologisch und patriarchalisch das Recht nie zugestehen, sich auf Erden nach attraktiven Männern umzusehen, um sie und sich in der Begattung zu erfreuen.
Dass wir heute wissen, dass es keine Tierart gibt, die sich für eine artübergreifende Fortpflanzung mit Menschen eignet, macht uns den Herrschafts- und Religionswahn der Griechen als sexuelle Phantasien und Missbrauchsgeschichten gegenüber Knaben und Frauen begreifbarer.

Auch am Leda-Mythos kann man die wachsenden, menschlichen Erkenntnismöglichkeiten in de Biologie und in der Herrschaftsgeschichte studieren. S. TIPP:


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Re: Ein Dichter unterwegs ... in Raum und Zeit
geschrieben von longtime
als Antwort auf longtime vom 23.04.2009, 17:39:19
Werner Bergengruen:
Auf ein Grab


Der hier begraben liegt, hat nicht viel Geld erworben
und außer dieser hier nie eine Liegenschaft
Er ist wie jedermann geboren und gestorben,
und niemand rühmte ihn um Tat- und Geisteskraft.

Da er nichts hinterließ, ist er wohl längst
vergessen. Du, Fremder, bleibe stehn und merk auf diese
Schrift. Dann sag mir, ob sein Lob nicht manches übertrifft,
das in der Leute Mund und ihrem Ohr gesessen.

Daß jedes Jahr geblüht, war seine größte Lust!
Da schritt er ohne Hut gemächlich über Land.
Und wenn zur Winterszeit! er erstmals heizen mußt,
dann hat er wie den Schlaf den Ofen Freund genannt.

Er teilte brüderlich sein Brot mit Hund und Meise
und wer es sonst begehrt. Hat niemanden verdammt,
hat niemanden gehaßt als nur das Steueramt,
sprach nie vom Börsenkurs und selten über Preise.

Versichert war er nicht und nicht im Sportvereine.
Er ging zu keiner Wahl, er diente keinem Herrn,
sang nicht im Kirchenchor.
Zeitungen hielt er keine.
Doch daß ich’s nicht vergeß: er hatte Rettich gern.

Er rauchte Caporal. Ist wenig nur gereist.
Dafür hats ihn gefreut, in jungem Gras zu ruhn.
Dann war er noch bemüht, gar niemand wehzutun,
und lobte Gottes Treu und Zuger Kirschengeist.

Du, Wanderer, bitt für ihn. Und bleibe eingedenk,
daß Gott dein Kämmrer ist, dein Truchseß und dein Schenk. (1947)

(Aus: W.B.: Texte zum Nachdenken. Von der Richtigkeit der Welt. 1988. S. 118f. - Abdruckgenehmigung für den ST erteilt durch Fr. Dr. Hackelsberger mit Brief vom 24.03.2009)

*

Das dekorativ gemeinte Wort „Caporal“ ist abgeleitet von dem franz. „caporal“, das sich wiederum auf das lateinische Wort "caput" (Kopf, Haupt) zurückführen läßt. – Es bedeutet hier „Gauloises Caporal“, eine Zigarette ohne Filter.

**
W.B. war zeitlebends ein religiös geprägter Dichter. -

Ein anderes Temperament als Humorist verrät dieser Autor zum selben Thema:

Wilhelm Busch (1832-1908):
Wirklich, er war unentbehrlich!

Wirklich, er war unentbehrlich!
Überall, wo was geschah
Zu dem Wohle der Gemeinde,
Er war tätig, er war da.

Schützenfest, Kasinobälle,
Pferderennen, Preisgericht,
Liedertafel, Spritzenprobe,
Ohne ihn, da ging es nicht.

Ohne ihn war nichts zu machen,
Keine Stunde hatt' er frei.
Gestern, als sie ihn begruben,
War er richtig auch dabei.

*

TIPP:
Ein Beitrag zur Bedeutung Bergengruens:

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