Forum Kunst und Literatur Literatur Fortlaufend: Parodien zu bekannten Gedichten

Literatur Fortlaufend: Parodien zu bekannten Gedichten

longtime
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Fortlaufende Motive: Atomare Bedrohungen
geschrieben von longtime
Ein Gedicht! Klassische Lyrik
Von "Zeit der Leser"-Redaktion 24. März 2011 um 14:57 Uhr
11. März 2011

Ortwin Beisbart, Stegaurach/ Oberfranken:

Nach Theodor Fontanes »Die Brück’ am Tay (28. Dezember 1879)«

»Wann treffen wir drei wieder zusamm’?«
»Um die neunte Stund’, am östlichen Damm.«
»Beim Block Nummer eins.« –»Ich breche die Wand.«
»Ich ’s Dach.« – »Ich komme von Norden her.«
»Und ich von Süden.« – »Und ich vom Meer.«
»Hei, das gibt einen wilden Tanz,
Und keiner der Meiler bleibt dann noch ganz.«
Und die Kühlung, die doch so sicher hät?«
»Von dem Tsunami wird sie zerschellt!«
»Zerstört!«
»Tand, Tand,
Ist das Gebilde von Menschenhand.«
(…)

»Wann treffen wir drei wieder zusamm’?«
»Um Mitternacht, am Bergeskamm.«
»Hoch über der Insel, mit wilder Flamm’.«
»Ich komme.« – »Ich mit.« – »Ich nenn euch die Zahl.«
»Und ich die Namen.« – »Und ich die Qual.«
»Hei!
Zerborstene Blöcke, die Strahlung ist frei.«
»Tand, Tand, Ist das Gebilde von Menschenhand.«

**

Die ZEIT veröffentlicht seit einiger Zeit Parodien oder Variationen auf bekannte Gedichte, geschreiben von Lesern.

Wer dort nachlesen will:
s. Linktipp!

longtime
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Re: Fortlaufende Motive: Atomare Bedrohungen
geschrieben von longtime
als Antwort auf longtime vom 24.03.2011, 16:54:33
Arnold Wohler:
Atomkernspiegelungen

I.

Endlich schwenkt man um ...

Die Wasserwerfer
werden nun doch auf die Atomkraftwerke
selbst gerichtet

bevor sie in die Luft fliegen

während die durchnäßten Demonstranten
sich noch ihre brennenden Augen reiben
wird nun wahr

was sie nie
für möglich hielten


II.

So unfassbar
ist das Ausmaß dieser Katastrophe

das nun in alle Köpfe einbricht

Selbst die Kurse in New York
geraten ins Wanken

das Leben stürzt
ins Bodenlose
und erwacht


III.

Erbarmungslos freundlich
kommentieren Fernsehmoderatoren
die Bilder

die nie mehr aus den Köpfen gehen

wie fallende
oder wie Raketen aufsteigende
Aktienkurse

die alle
auf Japan gerichtet sind


IV.

Und noch immer
geraten Atomkraftwerksgegner
unter Ideologieverdacht

weil sie ständig abstrahlen
und nicht beherrschbar sind
wie Atomkraftwerke


V.

Manchmal
fällt ein Gedicht
in die verstrahlten Neuronen
hinein

um sie neu zu verknüpfen

zu einem Traum
zu einer Hoffnung

vielleicht sogar
zu einer neuen Liebe ...

inmitten der Katastrophe


VI.

Für die nächsten Jahrzehnte aber
werden die Netzwerke
verstrahlt sein

die Atomkraftwerke am Laufen hielten

selbst vor den nächsten Wahlen
wird diese Strahlung nicht Haltmachen
und den gesamten pazifischen Ozean neu
beleben

mit Jungwählern

bis in die Antarktis hinein wird man ihre Gesänge vernehmen können ...

(Von Arnold Wohler; 21.03.2011 um 19:33 Uhr)

Original-Veröffentlichung, s. Linktipp:

Re: Fortlaufend: Parodien zu bekannten Gedichten
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf longtime vom 24.03.2011, 16:54:33
longtime,

genau das ist mir vor einigen Tagen immer wieder durch den Kopf gegangen.

Und dann habe ich es gelesen und auf meine private melifranzen Seite gesetzt.

Damit auch jeder, der diese Ballade nicht kennt verstehen kann, erlaube ich mir, das hier einzusetzen.


Diese Ballade wurde als Mahnung für die Fortschrittsgläubigkeit des Menschen verstanden.


Es ist mir ein Bedürfnis bei dem jetzigen grauenhaften Geschehen diese Zeilen und Klarsichtigkeit eines großen Dichters hier einzusetzen.

Die Brück' am Tay von Theodor Fontane


Meli


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longtime
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Re: Fortlaufend: Parodien zu bekannten Gedichten
geschrieben von longtime
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 24.03.2011, 17:24:36
Ja, Meli! -

Man muss nicht verzweifeln, aber man kann nachfrgen, warum so viele humanistische Ideen und geistige Begrifflichkeiten, wie sie das ausgewählt Lateinische und die ganze deutsche Literaturwissenschaft, die mit ausgewählten literarischen Beispielen den Deutschunterricht (nicht erst in den Prüfungsaufgaben des Abiturs) versorgen will, dass in jeder Generation dieselben oder ähnliche Fehler, insbesondere in den technischen, physikalischen Arbeitsgebieten, mit hypertrophen, irrwitzigen Anwenundungen und Wahnsinnsleistungen begangen werden.

Man konnte seit Hiroshima - und auf das deutsche Staatsgebiet und Arbeitsfeld sehr früh beurteilen, dass Atomanwendungen (in Bomben oder AKWs) ins menschlich Aberwitzige, ins Nichtbeherrschbare, ins Nicht-Kontrollierbare entgleiten (... ohne erst auf die Merkel-Pause zu warten, die schön und schein-gelehrt im Jahre 2011 als Moratorium ausgegeben wurde).

Viele klassische Gedichte, von Fontane auch die Ballade "John Maynard", zeigen, dass menschliche, rasante Konstruktionen Entartungen aufweisen, die teils durch Opfer, teils durch unsinnige Fehlentwicklungen ihr Ende finden.

Schon vor ungefähr zwanzig Jahren wurden Gudrun Pausewangs Geschichten über atomar Entgleisungen im Fall-out-Gebiet Deutschland in den Schulen gelesen... - und häufig von Eltern und/oder Journalisten bekämpft.
*

Das wichtigste Werk der Frau Pausewang über ein atomares Unglück(aus dem Jahre 1983)

*

Zur Erinnerung ein kleines Beispiel von "iustitia" (das bin ich; bevor miriam mich wieder "verpfeifen" kann, hier aus dem ST:

Kurzbericht über G. Pausewangs Schewenborn-Jugend-Roman:


Zum Original-Beitrag:

Die Journalistin Suanne Gaschke hat im ZEIT-Archiv ihren Schmäh-Artikel (aus dem Jahr 2004) verschwinden lassen; erhalten blieben aber drei kluge Leserbrief-Beiträge:

longtime
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Re: Fortlaufend: Parodien zu bekannten Gedichten
geschrieben von longtime
als Antwort auf longtime vom 28.03.2011, 12:30:23
Zurück zum Thema:

Veränderunge klassicher Texte durch Atom- und Kernkraft-Thematik verursachte Variationen oder -Parodien:

enigma
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Re: Fortlaufend: Parodien zu bekannten Gedichten
geschrieben von enigma
als Antwort auf longtime vom 28.03.2011, 15:23:01
Hallo Longtime,

nun habe ich die Gedichte auch gelesen, einige davon haben mir sehr gefallen.

Bei der Thematik und im Zusammenhang mit Fukushima ist mir ein Gedicht eingefallen, das auch eine Katastrophe beschreibt.
Dieses Gedicht habe ich mir noch einmal herausgesucht und wieder festgestellt, dass es inhaltlich eigentlich genau die Naturkatastrophe beschreibt, die jetzt in Japan stattgefunden hat, allerdings ohne die “strahlende” und wahrscheinlich langfristige Hypothek eines zerstörten AKWs; die gab es zum Zeitpunkt des Erscheinens des Gedichts noch nicht.

Dieses Gedicht habe ich nicht parodiert (das hätte ich mir auch nicht zugetraut), sondern lediglich den Text etwas verändert.

Ich stelle es - verändert - hier ein und bin eigentlich überzeugt davon, dass es jemanden gibt, der das Gedicht kennt und mir etwas zu dem Original erklären kann, denn dieses Original hat mich etwas ratlos hinterlassen.

Da wird einmal eine schlimme Katastrophe beschrieben, wie sich auch schon im Namen ausdrückt, andererseits wirken aber insbesondere zwei Zeilen so ironisch oder sogar zynisch??, dass ich mir die Absicht des Verfassers nicht erklären kann, es sei denn, er hat das gesamte Gedicht als Metapher für eine ganz andere Situation geschrieben?

Aber nun mein (etwas verfremdeter) Text:

Den Bürgern fliegen Trümmer um die Ohren,
die Erde bebt ,ihr Ächzen klingt fast wie Geschrei.
Die Menschen liegen in den Resten ihrer Häuser -
und von den Küsten kommt die Riesenflut.
Nun ist sie da, die wilden Fluten stürmen
an Land, um alles zu zerdrücken.
Sehr viele Menschen haben Haus und Hof verloren
und Autos fliegen durch die Luft und von den Brücken.


Gruß von Enigma

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Re: Fortlaufend: Parodien zu bekannten Gedichten
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf enigma vom 28.03.2011, 17:46:55
Hallo Enigma,
das Gedicht ist mir auch ziemlich schnell nach der Katastrophe in den Sinn gekommen.
Es ist natürlich "Weltende" von Jakob von Hoddis.

Hier ein Link mit dem Originaltext:
enigma
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Re: Fortlaufend: Parodien zu bekannten Gedichten
geschrieben von enigma
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 28.03.2011, 17:51:58
Danke Marina,

ja, das ist es natürlich.
Bei dem von Dir eingestellten Text ist ja wohl eine Interpretation dabei. Die werde ich mir erst einmal zu Gemüte führen.

Gruß an Dich, Enigma
Re: Fortlaufend: Parodien zu bekannten Gedichten
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf enigma vom 28.03.2011, 17:55:04
Ich auch, Enigma.
Ich wollte noch etwas an Longtime schreiben:
Vielen Dank für deine Texte. "Die Kinder von Schewenborn" habe ich nicht gelesen, aber
"Die Wolke" von Gudrun Pausewang habe ich vor langer Zeit gelesen und konnte es fast nicht ertragen. Ich war damals beinahe wütend, dass so ein Buch Kindern zugemutet wird, weil es so schrecklich ist. Und ich bin mir auch heute noch nicht sicher, ob das die richtige Methode der Warnung ist. Denn bei sensiblen Kindern kann so ein Buch Alpträume verursachen, ich hatte sie danach, obwohl ich kein Kind mehr war. Gleichzeitig können Kinder aber auch gar keinen Einfluss nehmen, wenn sie von solch einem Buch erschüttert sind. Das finde ich nach wie vor ein großes Problem. Für Erwachsene wären solche Bücher allerdings mehr als angemessen, denn die haben mehr Macht, Veränderungen herbeizuführen. Und bekanntlich wird vor allem durch Erschütterungen der Wunsch nach Veränderungen ausgelöst, nicht durch trockene Berichte. Das sieht man ja auch zur Zeit gerade wieder.

Gruß an euch beide.
longtime
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Re: Fortlaufend: Parodien zu bekannten Gedichten
geschrieben von longtime
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 28.03.2011, 18:05:10
Danke für die ergänzenden Beiträge!!

*

Ich habe doch noch den Reportage-Text von der Susanne Gaschke in der ZEIT von 2004 gefunden, als sie freundliche Tage bei der Autorin Gudrun Pausewang in Schlitz/Hessen verbracht hatte ... - und mit einem entsetzlichen Text aufwartete:

Pausewang: "Lehrerin der Angst":

So ging man d a m a l s - und lange vor Fukushima, was die „Glücksinsel" heißt - mit ernstzunehmenden, verantwortlichen Leuten und Texten und Filmen um (ja, das Schewenborn-Buch wurde auch erstaunlich ernsthaft und verantwortungsvoll verfilmt).

*

Auch bei Wikipedia.org zeigt sich - nach vielen Änderungen der Textseite zu Buch und dem unerwähnten Film - dass man eine miese Besprechung von einem alten Text der "Bundeszentrale für politische Bildung" übernahm.

Festzuhalten ist, dass in Deutschland das AKW-GAU-Thema seit 3 Jahrzehnten in der Linken, ach, besser, auf der GRÜNEN Seite, nicht vergass -, so dass sogar schon die christ-demokratisch-flotte "Merkel-Pause" mit einem Meinungsumschwung aufwarten wollte, um zwei wichtige Landtagswahlen überstehen zu können.


Dass jetzt Japan - mit den vielen anderen, noch immer aktiven und wohl nie abzuschaltenden Kernreaktoren im vermeintlichen Billig-Geschäft ist... - und viele, wohl mehr als 500.000 gequälte Evakuierungsopfer nicht mal mit der nötigsten Wärme versorgt werden können, ist schlimmer als jeglicher Witz.

Ach:
Und wir im Land der "German Angst" hätten eine von der CDU/FDP ausgerufene "Merkel-Pause" verdient, um einen unbelasteten, hoffnungsstarken Frühling - hoffentlich eben über drei Monate hinaus - zu genießen?

*

Nur der Uralt-Pressack "KOHL und Unkohl" und z.B. der BILD-Fachmann für blöde Briefe sind da anderer Meinung?

BILD-Fach-Mann Wagner schreibt an "Liebe German Angst":





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