Forum Kunst und Literatur Literatur Gevatter Tod, Bruder Hein, Freund Hein - ist jeglicher T o d männlich?

Literatur Gevatter Tod, Bruder Hein, Freund Hein - ist jeglicher T o d männlich?

longtime
longtime
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Re: Gevatter Tod - Kurzgeschichte vn Bergengruen: "Der grüne Kasten"
geschrieben von longtime
als Antwort auf longtime vom 05.09.2011, 16:36:29
@ enigma:

Danke für die Antwort und das Interesse. Ich werde das BLOG über Reif-Werdungen als Abitur- oder Matur-Prüfungen anzeigen!

Hier (wieder ein bisschen später als "morgen".

Bergengruen: Der grüne Kasten
(Fortsetzung)


Riesige graue Menschenmassen hasteten durch die Straßen, Wagenzüge, Reiter, Geschütze. Mit Offizieren überfüllte Autos suchten sich einen Weg zu bahnen, oft vergebens trotz aller Rücksichtslosigkeit. Betrunkene Soldaten schleppten Waren aus den Läden. Die Häuser schlossen sich. Das Volk verschwand von den Straßen, die sich immer mehr mit den Scharen der Soldaten füllten.
Und der Taube, dem sich das Geschehen um ihn nicht so deutlich mitzuteilen vermochte wie den anderen, fühlte sich plötzlich vom Strudel erfasst, verschlagen, abgeschnitten von allem Vertrauten. Eine jähe Bestürzung sprang ihn an, eine ratlose Furcht vor dem Unbekannten und Unbegreiflichen, das um ihn geschah.
In dieser Not fiel ihm der grüne Kasten ein. Er war Trost, Ebenmaß und Harmonie in dieser toll gewordenen Welt. So schnell ihn die schwächlichen Beine schleppten, eilte Chaim der Straßenkreuzung zu, an welcher der Alte zu stehen pflegte. Dort herrschte der gleiche Wirrwarr. Soldaten, Soldaten, Soldaten. Einige stießen und drängten sich auf dem Bürgersteig, kniend, suchend, aufhebend. Und als Chaim näher kam, sah er im Rinnstein zertrümmert den grünen Kasten liegen, in dessen verstreuten Inhalt sich gierige Fäuste teilten.
Einen Augenblick stand der Narr wie versteinert. Dann bückte er sich, um die Bruchstücke zu retten. Heißer, nach Schnaps riechender Atem quoll ihm entgegen. Ein vollbärtiger, weißblonder Soldat mit rotem Gesicht, der seine Mütze im Gedränge verloren hatte, brüllte ihn an.
Der Taube spürte die Feindseligkeit in Gesichtsausdruck und Gebärde.
»Belieben Sie doch, Herr, mich in Ruhe zu lassen«, flehte er, und als sei damit alles erklärt, fügte er hinzu: »Das ... das ist doch der grüne Kasten!«
Man stieß ihn zurück, schlug ihm den Streichholzkorb aus der Hand und die Mütze vom Kopfe. Grinsend warf ihn einer dem andern wie ein Bündel zu. Schläge, Stöße, Fußtritte trafen ihn, bis er endlich blutend einen Ausweg aus dem Gedränge gewann und nach Hause flüchtete.
Chaim Pruzanski kauerte, noch an allen Gliedern zitternd, in seines Oheims Stube und starrte durch das zerschlagene Fenster in den Hof, der sich allmählich mit Dämmerung füllte. Im Hause sah es böse aus. Die Möbel waren zertrümmert, Schränke und Kästen umgestürzt, alles Brauchbare weggeschleppt. Wäschestücke, Lumpen, zerbrochene Teller und Schüsseln lagen in wirrem Durcheinander auf dem Fußboden. Von einem der trunkenen Plünderer vergessen, stand in einer Ecke ein Gewehr.
Aaron Zitron war nirgends zu finden. Die Nachbarn zuckten die Achseln.
Die ganze Nacht hockte der Narr zwischen den Trümmern. Die Welt war zerfetzt, es gab nichts mehr, das sein Leben stützen und schmücken konnte. Zitron ließ sich nicht blicken, der grüne Kasten war zerschlagen.
Endlich kam ihm der Gedanke, dass er etwas tun müsse, dass er nicht ewig hier in der wüsten Stube kauern könne. Zum ersten Male sah er Entscheidung und Entschluß von sich gefordert.
Er fand die einzige Zuflucht. Gegen Mittag verließ er langsam das Haus, um in die Weichsel zu gehen.
Die Straßen wimmelten noch immer von Menschenmassen in grauen Uniformen. Aber statt der flachen Tellermützen oder der hohen Lammfellkappen trugen sie graue Helme mit Spitzen. Chaim achtete nicht auf sie, sondern setzte unbeirrt seinen Weg fort.
Fast war es das alte Lächeln voll Ruhe und Heiterkeit, das auf seinem blassen Gesicht lag.
An einer Straßenkreuzung staute sich Bettelvolk um einen Wagen mit Schornstein und großem, hochgeklapptem Deckel. Ein Soldat schüttete geringschätzig den Leuten übrig gebliebenes Essen aus einer großen Kelle in die bereitgehaltenen Näpfe und Eimer. Chaim blieb stehen, wie ein Tier überfiel ihn der Hunger. Im Schmutz der Straße sah er eine leere Konservenbüchse, hob sie auf und drängte sich an den Küchenwagen. Der Soldat blickte ihn an, grinste und füllte ihm die Dose. Chaim schlang das dampfende Gemenge hinunter. Dann kehrte er entschlossen um und ging wieder dem Hause seines Oheims zu.
Allein der erste eigene Entschluss, der sich seiner Dumpfheit entrungen hatte, der Gedanke des Sterbens, geboren aus Hilflosigkeit und Verzweiflung, war gedacht und hatte Leben gewonnen. War aus ihm hinausgetreten und wirkte.
Die Granaten, welche die Geschütze der weichenden Russen über die Weichsel warfen, haben in Warschau wenig Schaden angerichtet. Eine von ihnen aber erfüllte das Schicksal des Chaim Pruzanski.

(Aus: W.B.: Baltische Erzählungen. © nymphenburger verlag. München 2000. S. 124 - 130)

*
Die Herausgeberin N. Luise Hackelsberger, Bergengruens Tochter, gibt als Entstehungszeit dieser bis 2000 nicht veröffentlichten Geschichte im Nachwort "um 1918" an. Sie schreibt dort näherhin: "Die früheste der Erzählungen 'Der grüne Kasten', in der Zeit des Ersten Weltkriegs geschrieben, wird hier erstmals veröffentlicht. In prägnanter und zupackender Sprache erscheint uns Heutigen das Geschehen so aktuell wie zur Zeit der Entstehung."

[i]Nachtrag (auch wenn es teils wiederholt ist):

Schon im Jahre 2003 gab es eine Diskussion hier im ST zu dieser Geschichte. Da sie vom Copyright-Verlag noch nicht im Internet zugänglich gemacht ist, ergreife ich hier die Gelegenheit. Ich habe schon 2010 vom Büro der Bergengruen-Rechte-Verwaltung die Erlaubnis erhalten, Bergengruen-Texte in diesem Senioren-Treff anzubieten, auf ihre Quelle hinzuweisen und dem Büro Mitteilung zu machen, über die Veröffentlichung und über die Diskussion.
Ich habe dem Büro geschrieben; aber noch keine neuerliche Antwort erhalten.


enigma
enigma
Mitglied

Re: Gevatter Tod - Kurzgeschichte vn Bergengruen: "Der grüne Kasten"
geschrieben von enigma
als Antwort auf longtime vom 10.09.2011, 19:46:43
Danke Longtime,

so ähnlich habe ich mir das Ende der Geschichte auch vorgestellt, aber das war ja auch Deinen Ankündigungen zu entnehmen.

Ich habe etwas über Frau Hackelsberger nachgelesen.
Sie ist ja auch schon inzwischen eine alte Dame, eine Pädagogin, aber auch Autorin und Verlegerin, die sich ja auch u.a. in der Senioren-Arbeit dadurch engagiert hat, dass sie Mitinitiatorin der Senioren-Volkshochschule war und eine Schreibwerkstatt für Senioren geleitet hat.

Da wird sie sich möglicherweise sogar freuen, wenn in unserem Seniorenforum noch über die Werke ihres Vaters gesprochen wird, denn hier geht es ja nur um das Interesse an den Bergengruen-Texten und nicht um materielle Interessen irgendwelcher Art.

Sie hat ja offenbar nicht nur die Werke ihres Vaters, sondern auch die von Reinhold Schneider und wahrscheinlich auch noch von vielen anderen Autoren verlegt.

So ist es doch schön, wenn man (ich) immer noch etwas dazu lernen kann.

Gruß von Enigma

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