Literatur Hans Keilson

longtime
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Hans Keilson
geschrieben von longtime
Hans Keilson:
Sprachwurzellos

Um die geheimnisse
des konjunktivs
- die zeit der bunten bälle -
mühte ich mich
vergebens
an den grachten
die neuen freunde grüßend
und sie nennen mich mijnherr
.

*

Der deutsche, jüdische Autor fand geheime Aufnahme in den Niederlanden zur Nazizeit; er lebte dort nach 45 lange als Arzt und Psychiater.

Heute schreibt der 99-Jährige an seinen Memoiren.

TIPP: Der DLF brachte am Sontag diese Erinnerung:

*

Ich werde hier auf einige Bücher, Texte und Themen von Keilson aufmerksam machen.
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longtime
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Re: Hans Keilson
geschrieben von longtime
als Antwort auf longtime vom 11.02.2009, 08:25:23
Wer sich über Hans Keilson informieren will:

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longtime
enigma
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Re: Hans Keilson
geschrieben von enigma
als Antwort auf longtime vom 11.02.2009, 08:31:33
Ja Longtime,

das ist ein ganz besonderer Mann, der im letzten Jahr im Alter von noch 98 Jahren den Welt-Literaturpreis erhalten hat. Aber für mich ist das, was er in seiner Arbeit als Psychotherapeut vor allem mit traumatisierten jüdischen Waisenkindern geleistet hat, ganz besonders zu würdigen.

Eine weitere Seite über Keilson gibt es
hier:

Auf dieser Seite gefällt mir sehr gut der Hinweis auf das Gedicht von Hans Sahl, das so beginnt:

„Wir sind die Letzten.
Fragt uns aus.
Wir sind zuständig.
Wir tragen den Zettelkasten
Mit den Steckbriefen unserer Freunde
wie einen Bauchladen vor uns her.“ (...)

Für Interessenten ist der ganze Text zu finden
hier:

Übrigens wird immer wieder berichtet, dass Keilson sich zu Beginn in den Niederlanden u.a. auch als Musiker über Wasser gehalten hat.
Nicht besonders wichtig, aber vielleicht doch interessant zu erfahren ist, dass er die Instrumente Trompete, Geige und Harmonika beherrschte, mit denen er dann in Cafés und Varietes Geld verdiente, zunächst in Deutschland und später in den Niederlanden.
Oskar Loerke soll ihn wegen seiner Vielseitigkeit bewundert haben.

Das und noch mehr kann man in einem informativen Artikel von Roland Kaufhold erfahren, in dem auch das “Amsterdamer Lied” abgedruckt ist, ein Gedicht, das der Exilant Keilson 1937 verfasst hat und das mir sehr gefällt, weil es für mein Empfinden trotz aller geschilderten Probleme auch Witz beinhaltet.

Es beginnt so:

"Zu Amsterdam im vierten Stock
mit einer Laus im Haar,
da lebten wir, mein Schatz und ich,
dreiviertel und ein Jahr. (...)

Und hier kann man den Artikel finden - Linktipp!

Gruß
--
enigma

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longtime
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Re: Über Hans Keilson
geschrieben von longtime
als Antwort auf enigma vom 11.02.2009, 11:14:03
Keilson: Deutscher, Jude und Arzt:
*

Hans Keilson in einem autobiografischen Vortrag:

"Sieben Sterne..."

(Meine) Geschichte zur Sprache gebracht

Als Sechzehnjähriger erfuhr ich auf dem Gymnasium den Zusammenstoß dieses doppelten Ansatzpunktes, zuerst auf dem Gebiet der Literatur. Ich meine: die Verzahnung der jüdischen Geschichte mit der deutschen, oder umgekehrt, wenn Sie wollen. Ein Prozeß, der für beide Partner schließlich den Gang in eine Katastrophe bedeutete. Für den einen: die Vernichtung der europäischen Juden, für die Auschwitz steht, für den anderen: die nationale deutsche Katastrophe, zu der auch Auschwitz gehört.
Deutschunterricht, Freienwalde anno 1925/26. Jeder Schüler sollte einen Beitrag zu einem selbstgewählten Thema zur Diskussion stellen. Ich trug, mit Einverständnis des betreffenden Lehrers, eines frischgebackenen Assessors, sein Name war Geisler, Die Weber von Heinrich Heine vor. Als ich mich wieder auf meinen Platz begeben hatte, entstand eine Todesstille. Auf die Aufforderung des Lehrers zur Diskussion erhob sich der Klassensprecher und sagte: "Die Klasse lehnt es ab, über dieses Gedicht zu diskutieren, es beschmutzt das eigene Nest', und setzte sich wieder. Geisler erstarrte. Daß die Schulleitung und ältere, erfahrene Lehrer nicht willens oder fähig waren, ihrem jüngeren Kollegen bei der Lösung des Konflikts zu helfen, kennzeichnet die historische Lage jener Zeit. Und das war für mich das entscheidende Moment: die Unfähigkeit oder der Unwille der Lehrerschaft um die Beschaffenheit und Tragweite der Situation in einer soziologischen Analyse nicht weiter ausufern zu lassen , sich mit diesem Konflikt zu befassen. Vielleicht hielten sie Heine auch für einen Nestbeschmutzer. Sowas tut man nicht im eigenen Land. Dafür ging man, bis vor kurzem, lieber in die Kolonien oder in die Nachbarländer. Kurz danach verließ Geisler die Schule. Ich blieb bis zu meinem Abitur zwei Jahre im sogenannten Klassenverschiß: Niemand sprach mehr mit mir.

Dieses Ereignis traf mich im Kern meines Selbstverständnisses. Um die gleiche Zeit, 1926, errang ich bei einem Schülerwettbewerb des Börsenvereins des deutschen Buchhandels zum Thema "Kannst du ein Buch empfehlen?" mit einem Aufsatz über Demian von Hermann Hesse den dritten Preis. Für das Preisgeld kaufte ich drei Bücher: einen Novellenband von Stefan Zweig; Eros im Zuchthaus von Karl Plättner, einem Kumpan von Max Hölz, um meine sexuelle Neugier zu befriedigen; und die kleine ledergebundene Dünndruckausgabe der Vorlesungen von Sigmund Freud, die ich über die Zeiten gerettet habe. Dies letztere Buch erwies sich alsbald als das einzig wirksame Antidoton.
Diese ganze tragikomische, paradoxe Periode hat für mich bis auf den heutigen Tag nichts an Eindringlichkeit und Signalfunktion verloren. Die Erfahrung gehört zur "ersten traumatischen Sequenz" meines Lebens, über das ich zu berichten habe. Ich möchte Sie hierbei darauf aufmerksam machen, daß ich mit dem Ausdruck "erste traumatische Sequenz" eine Formulierung aus meiner späteren wissenschaftlichen Arbeit gebrauche. Da ich bereits angekündigt hatte, daß ich auf zwei ungesattelten Pferden, dem der Wissenschaft und dem der Literatur, reite, wird es Sie nicht weiter verwundern, wenn ich in der Manege des öfteren von einem Pferd auf das andere springe. Ich hoffe, mir dabei nicht das Genick zu brechen.
(...)

Zwei Seiten später fährt Keilson fort:

In den Niederlanden schrieb ich dann auf einmal eruptiv Gedichte in deutscher Sprache, obwohl ich das Holländische bereits bherrscht, Judengedichte, die die literarische katholische Zeitschrift bis 1939 publizierte. Darunter das 'Bildnis eines Feindes', das so begann: "In deinem Angesicht bin ich die Falte / eingekerbt, um deinen Mund, / wenn er spricht: Du Judenhund."
Und einige Zeilen weiter, ich zögere, es auszusprechen, die prophetische Zeile: "Deine Hände würgen, deine Enkel werden es bereuen". Das Gedicht, Konfrontation und Spiegelung zugleich, war der erste, unvollkommene Versuch, der Erscheinung des Feindes, wie ich ihn damals erlebte, in der Sprache Leben zu verleihen und mir ein Zeitgeschehen mit einer neuen Thematik einsichtiger zu gestalten. Es ist auch die Keimzelle meines Romans Der Tod des Widersachers, der vielleicht wahnwitzige Versuch, die tödliche Auseinandersetzung mit dem Widersacher unter einer anderen Perspektive auszuloten, vielleicht auch zu heilen. Ich habe Hitler in der Wilhelmstraße ganz aus der Nähe gesehen, als er Anfang 1933, aus der Reichskanzlei kommend, wie ein Sieger neben seinem Fahrer im Wagen stand. Er fuhr zu den Arbeitern in Siemensstadt. "Die Siegestrompeten erschallen zu früh", schrieb Ernst Wiechert damals. Ich habe die Szene in der Wilhelmstraße im Tod des Widersachers dargestellt.

(Aus: H.K.: "Sieben Sterne...". [Mit dem Untertitel:] (Meine) Geschichte zur Sprache gebracht.
In: Marianne Luzinger-Bohleber und Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hrsg.): "Gedenk und vergiß - im Abschaum der Geschichte". Trauma und Erinnern. Hans Keilson zu Ehren. Tübingen 2001: edition diskord.. S. 217 - 229)

**

Das vollständige Gedicht lautet:

Bildnis eines Feindes

In deinem Angesicht bin ich die Falte
eingekerbt um deinen Mund,
wenn er spricht: du Judenhund.
Und du spuckst durch deiner Vorderzähne schwarze Spalte.
In deiner Stimme, wenn sie brüllt, bin ich das Zittern,
Ängste vor Weltenungewittern,
die vom Grund wegreißen und zerstreuen.
Deine Hände würgen. Deine Enkel werden es bereuen.
Im Schnitt der Augen, wie deine Haare fallen,
erkenn ich mich, seh ich die Krallen
des Unheils wieder, das ich überwand.
Du Tor, du hast dich nicht erkannt.
Vom Menschen bist du nur ein Scherben
und malst mich groß als wütenden Moloch,
um dich dahinter rasend zu verbergen.
Was bleibt dir eigenes noch?
Denn deine Stirn ist stets zu klein, um je zu fassen:
ein Tropfen Liebe würzt das Hassen.
(1937 verfasst)

*
(Aus: H.K.: Sprachwurzellos. Gedichte. Gießen 1986. S. 7)

*

Lesehinweis auf Keilsons bekannteste Novelle:

Hans Keilson:
Komödie in Moll

... Für den illegalen Flüchtling, der von einem Ehepaar, die in Holland mit dem Widerstand sympathiesieren, auf dem Dachboden versteckt wird, muss ein Arzt gerufen werden:

Kapitel VII:
(...)
„Eines Tages trat plötzlich Fieber auf. Wieder Aspirin, in größeren Dosen. Als am nächsten Morgen die Temperatur bis über 39 gestiegen war, entschlossen sie (das Ehepaar Wim und Marie) sich, ihren Arzt zu holen.
Dr. Nelis, ein noch jüngerer und energischer Doktor, unverheiratet, verstand sogleich, um was für einen Fall es sich handelte, noch bevor Wim ihn tiefer ins Vertrauen gezogen hatte. Er hatte im Augenblick mehrere solcher Art in seiner Praxis.
‚Herr Doktor und dann noch eins...’“

*
Und dann ergibt sich das Hauptproblem für die Anti-Nazis: Was macht man mit einem versteckten, jüdischen Flüchtling, der stirbt?
Wo kann man ihn beerdigen (lassen)?

Das ist der spannende Inhalt der Novelle:
H. K: Komödie in Moll. 1988. Fischer-TB 5297. S. 49.

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longtime
marianne
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Re: Hans Keilson
geschrieben von marianne
als Antwort auf longtime vom 11.02.2009, 08:25:23
Danke, Longtime,

danke, Enigma....

(wenn wir euch nicht hätten hier in diesem manchmal auftretenden Wirrwarr!! )

Marianne
enigma
enigma
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Re: Hans Keilson
geschrieben von enigma
als Antwort auf marianne vom 12.02.2009, 10:42:35
Danke auch, Marianne,

aber ich gehe nur meiner Neigung nach, mich über Literatur und Film (oder Musik) auszutauschen. Wenn ich dann durch andere Beiträge neue Erkenntnisse gewinnen kann, umso erfreulicher.

@Longtime

Die "Komödie in Moll" will ich unbedingt lesen. Das Taschenbuch von 1988 gibt es zwar nicht mehr, aber offenbar eine Neuauflage.

Gruß Enigma

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