Forum Kunst und Literatur Literatur Ich hab mein Herz hineingeschrieben - Briefe

Literatur Ich hab mein Herz hineingeschrieben - Briefe

Re: Ich hab mein Herz hineingeschrieben - Briefe
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 22.07.2017, 07:59:19
22. April 1917
"Nun ist die Ausstellung eröffnet. Von drei bis fünf war Vorbesichtigung. Zehn Minuten vor drei klebte ich noch in wahnsinniger Eile Zettel auf die Bilder. Dann floh ich. Schon sind einige Stimmen gekommen von denen, die dort waren.
Die Ausstellung muss etwas bedeuten, denn alle diese Blätter sind Extrakt meines Lebens. Nie hab ich eine Arbeit kalt gemacht (es seien denn einige bedeutungslose Nebensachen, die ich hier auch nicht zeige), sondern immer gewissermaßen mit meinem Blut. Das müssen die, die sie sehen, spüren."

aus:
Käthe Kollwitz: Aus meinem Leben
"Ein Testament des Herzens"
Herder-Spekrum


Clematis
Maxi41
Maxi41
Mitglied

Re: Ich hab mein Herz hineingeschrieben - Briefe
geschrieben von Maxi41
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 23.07.2017, 09:14:04
"Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden"

Die Tagebuchaufzeichnungen von Käthe Kollwitz aus den Jahren 1917/18 machen deutlich, wie sich ihre kritische Einstellung zum Krieg immer mehr verdichtet bis zum offenen Kampf dagegen.
Als im Oktober 1918 Richard Dehmel zum Kampf bis zum letzten Mann, auch Alten und Jungen, aufruft, wendet sie sich in einem offenen Brief im "Vorwärts" leidenschaftlich gegen den Dichter und beruft sich am Schluß auf das Goethe-Wort, welches aus dem "Lehrbrief" im 7. Buch von "Wilhelm Meisters Lehrjahre" stammt: "Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden",

Diesen Satz bezeichnet sie in ihren letzten Lebensjahren als "Testament", ebenso die Forderung "Nie wieder Krieg" - kein sehnsüchtiger Wunsch, sondern Gebot, Forderung.
RE: Ich hab mein Herz hineingeschrieben - Briefe
geschrieben von ehemaliges Mitglied



Rilke heiter in Venedig

...aber sei einer aktiv bei diesem anhaltenden Scirocco -, ich muss nur die Butter auf meinem Frühstückstisch betrachten, die sich auflöst, gar nicht davon zu reden, dass selbst widerständigere Gegenstände (wie z. B. der provisorische Siegellack, den ich verwende) im bloßen Daliegen auf dem Tisch biegsam werden und eine Form der Hingebung und genouflexion annehmen, verzehrt von dem inneren Glimmen, das in allen Dingen unterhalten wird.
Dies ist auch der Grund, warum ich selbst keinen Brief aufbrachte so lange -, man hat das Gefühl, die Tinte verdirbt während sie trocknet, - wunderbar, dass das aufpasserische Schicksal mich in solchem Moment nicht in einen Fruchthändler in Venedig verwandelt, Liebe, das wäre ein Beruf für mich, alle diese Pfirsiche und Aprikosen zu überwachen, dass sie auf den Mittag zu frisch bleiben, und die überfüllten Feigen, die schon ganz erschöpft ankommen: diese Sorge. Was thut man nur, um im Bewußtsein dieser hinfälligen Früchte eine Täuschung der Kühle zu unterhalten, liest man ihnen lappländische Märchen vor?

Der Italiäner, verliebt in alles was "Erfindung" ist, lässt seine Ventilatoren schnurren, als wären es Volksredner, an die rasend angetriebenen Räder sind in manchen Läden Papierstreifen befestigt, die wagerecht über die Früchte hinflattern, zur Fliegenvertreibung, - ja im Hintergrund einer solchen schwarz verfinsterten boutique schien ein ganzes System von Luftwendern und -Bewegern im Gang zu sein: ein wahrer Wind raste aus den unerkennbaren Hinterhalten herüber, die grünen Blätter unter den Fruchtlasten wurden umgeschlagen und die Haare der Verkäuferin stürmten, wie bei einer Goya'schen Hexe, vor sie hin und fast aus dem Laden hinaus.
Wunderbar aber ist das kühle durchsichtige Schwarz in der Tiefe dieser niedrigen Verkaufsräume, die, selbst wenn sie an der schattigsten engen Calle liegen, immer noch ein Mehr von Verdunkelung in sich fassen, so dass die Früchte wie auf alten  Bildern nicht allein farbig, sondern auch leuchtend wirken, wirklich wie Gestirne dieses Baumes, farbige Monde und Mondviertel, die alles je empfangene Sonnenlicht in einer eigentümlichen Sammlung und Stärke ausgeben. Kleine schlanke Caröttchen, die sich über so viel Kühle wunderten, sah ich in dieser Umgebung ein Rosa annehmen, das von manet'scher Delikatesse war, dieser Korb mit blassen Würzelchen war wie ein Chef d'oeuvre französisch-spanischer Malerei, mit ein bischen neapolitsnischem Einschlag. Und nun denken Sie sich in solchem klaren Schwarz das Leben einer Katze oder das plötzliche Aufschauen eines venezianischen Mädchens, einer Käuferin, die nun ihrerseits, eine Möndin der Monde, den Glanz der gewählten Früchte in der Blässe des Gesichts und im Spiegel der Augen weitergibt.


Rainer Maria Rilke
aus einem Brief an Nanny Wunderly-Volkart
1. 7. 1820

Clematis

 

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Sirona
Sirona
Mitglied

RE: Ich hab mein Herz hineingeschrieben - Briefe
geschrieben von Sirona
Stefan Zweig an Richard Beer-Hofmann
The Wyndham Hotel, New York 11. Juli 1940
 
Mein lieber verehrter Richard Beer-Hofmann,
 
wie haben wir um Sie gebangt, und wie glücklich war ich, Sie hier geborgen zu wissen, freilich, ich weiß es, in jeder Stunde der Gütigen gedenkend, die sonst Sie überallhin mit ihrer Sorge begleitet. Aber selig die Toten in dieser Zeit – ich bin so tief erschüttert, weil ich mehr Europäer als Österreicher war und der Sieg, der zeitweilige, der Gewalt mich für immer heimatlos macht.

Ich bin mit meiner kleinen Klugheit so wie von Österreich rechtzeitig von England fort, alles hinter mir lassend, was Besitz war, und sogar das halbfertige Manuscript eines Buches, an dem ich seit Jahren arbeite, und irre jetzt mit einem Transitvisum, hier eingelassen und fortgetrieben, nach Südamerica zu Vorlesereisen, die ich nicht mag. Werde ich je zurückkehren können? Werde ich es dürfen, werde ich es wollen? Aber ich frage schon nicht mehr, ich lasse mich treiben, nur von einem Gedanken beseelt, nicht diesen braunen Burschen in die Hände zu fallen – dies die einzige Furcht, die ich im Leben noch habe, die andern sind verlernt.
 
Ich hatte mich schon ganz zurückgezogen, auf Umgang verzichtend und nur jenes Umgangs mit Büchern und meinem Garten froh, nun heißt es weiter ahasverisch wandern, und als einzige Arbeit erzähle ich mir (und später andern) mein Leben, das eines Europäers und Juden in dieser Zeit.
 
Ich hoffe, wenn man mir es erlaubt, auf der Rückreise in America wieder etwas zu bleiben, Sie im Spätherbst zu sehen in alter Liebe, Treue und Verbundenheit!

Ihr Stefan Zweig



 
Sirona
Sirona
Mitglied

RE: Ich hab mein Herz hineingeschrieben - Briefe
geschrieben von Sirona
Mit seinem ersten erhaltenen Brief schreibt der 16-jährige Beethoven am 15. September 1787 Joseph Wilhelm von Schaden in Augsburg, von dem er Geld für die Rückreise von Wien nach Bonn geliehen hat. 
Hochedelgeborner insbesonders werter Freund! 

(…) ich muß Ihnen bekennen: daß, seitdem ich von Augsburg hinweg bin, meine Freude und mit ihr meine Gesundheit begann aufzuhören; je näher ich meiner Vaterstadt kam, je mehr Briefe erhielte ich von meinem Vater, geschwinder zu reisen als gewöhnlich, da meine Mutter nicht in günstigen Gesundheitsumständen wär; ich eilte also, so sehr ich vermochte, da ich doch selbst unpäßlich wurde: das Verlangen meine kranke Mutter noch einmal sehen zu können, setzte alle Hindernisse bei mir hinweg, und half mir die größte Beschwernisse überwinden. Ich traf meine Mutter noch an, aber in den elendesten Gesundheitsumständen; sie hatte die Schwindsucht und starb endlich ungefähr vor sieben Wochen, nach vielen überstandenen Schmerzen und Leiden. Sie war mir eine so gute liebenswürdige Mutter, meine beste Freundin; o! wer war glücklicher als ich, da ich noch den süßen Namen Mutter aussprechen konnte, und er wurde gehört, und wem kann ich ihn jetzt sagen? den stummen ihr ähnlichen Bildern, die mir meine Einbildungskraft zusammensetzt? So lange ich hier bin, habe ich noch wenige vergnügte Stunden genossen; die ganze Zeit hindurch bin ich mit der Engbrüstigkeit behaftet gewesen, und ich muß fürchten, daß gar eine Schwindsucht daraus entstehet; dazu kömmt noch Melankolie, welche für mich ein fast ebenso großes Übel, als meine Krankheit selbst ist. denken Sie sich jetzt in meine Lage, und ich hoffe Vergebung, für mein langes Stillschweigen, von Ihnen zu erhalten. die außerordentliche Güte und Freundschaft, die Sie hatten mir in Augsburg drei Karolin zu leihen, muß ich Sie bitten, noch einige Nachsicht mit mir zu haben; meine Reise hat mich viel gekostet, und ich habe hier keinen Ersatz, auch den geringsten zu hoffen; das Schicksal hier in Bonn ist mir nicht günstig. 
Sie werden verzeihen, daß ich Sie so lange mit meinem Geplauder aufgehalten, alles war nötig zu meiner Entschuldigung.
Ich bitte Sie mir Ihre verehrungswürdige Freundschaft weiter nicht zu versagen, der ich nichts so sehr wünsche, als mich Ihrer Freundschaft nur in etwas würdig zu machen. 

Ich bin mit aller Hochachtung 
Ihr gehorsamster Diener und Freund 
L. v. Beethoven. 
kurf.-kölnischer Hoforganist


(Emerich Kastner, Julius Kapp (Hg.) Ludwig van Beethovens sämtliche Briefe. Leipzig 1923)
 
Quelle:
https://www.br-klassik.de/themen/beethoven/beethoven-brief-1-joseph-wilhelm-von-schaden-100.html
Sirona
Sirona
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RE: Ich hab mein Herz hineingeschrieben - Briefe
geschrieben von Sirona

Gräfin Josephine Brunsvik an Beethoven
 
...... "der nähere Umgang mit Ihnen lieber Beethoven, diese Wintermonate hindurch ließ Eindrücke in meinem Gemüthe zurück die keine Zeit - keine Gegenstände tilgen werden - Ob sie froh oder trauernd sind? - mögen Sie sich selbst sagen - Auch - was Sie - in dieser Hinsicht durch Beherrschung - oder freye Überlassung ihrer Gefühle - dabey vermindern oder vermehren konnten -
Meine ohnedieß, für Sie enthousiastische Seele-  noch ehe als ich Sie persönlich kannte - erhielt durch Ihre Zuneigung Nahrung. Ein Gefühl das tief in meiner Seele liegt und keines Ausdrucks fähig ist, machte mich Sie lieben; noch ehe ich Sie kannte machte ihre Musick mich für Sie enthousiastisch - Die Güte ihres Characters, ihre Zuneigung vermehrte es - Dieser Vorzug den Sie mir gewährten. das Vergnügen Ihres Umgangs, hätte der schönste Schmuck meines Lebens seyn können liebten Sie mich minder sinnlich - Daß ich diese sinnliche Liebe, nicht befriedigen kann - zürnen Sie auf mich - Ich müßte heilige Bande verletzen, gäbe ich Ihrem Verlangen Gehör - Glauben Sie - daß ich, durch Erfüllung meiner Pflichten, am meisten leide - und daß gewiß, edle Beweggründe meine Handlungen leiteten -"
 
Zwischen Josephine und Beethoven entwickelte sich eine tiefe Liebe. Er hegte offensichtlich die Absicht Josephine einen Heiratsantrag zu machen, dem sie aufgrund ihres Standes nicht nachgeben konnte, da sie im Falle einer Heirat mit Beethoven – einem Bürgerlichen – die Vormundschaft ihrer Kinder verloren hätte. Diese „Heiligen Pflichten“ (mütterliche Sorge für ihre Kinder) verhinderten eine eheliche Verbindung der Beiden.
 Heutige Forschungen sprechen dafür, dass Beethovens Brief „An die unsterbliche Geliebte“ Josephine galt, da die Anreden „Mein Engel, mein Alles, Mein Ich“ mit früheren, neuerdings entdeckten 13 Briefen an Josephine identisch sind. Keine andere Frau, mit denen Beethoven in brieflichem Kontakt stand, hat er mit diesen Worten angeredet.

Sirona
 
 


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Sirona
Sirona
Mitglied

RE: Ich hab mein Herz hineingeschrieben - Briefe
geschrieben von Sirona

Hölderlin an die Mutter
(Denkendorf, kurz vor Weihnachten 1785)
 
Liebste Mamma!
Wann diesmal mein Brief etwas verworrener ist als sonst, müssen Sie eben denken, mein Kopf sei auch von Weihnachtsgeschäften eingenommen, wie der Ihrige – doch differieren sie ein wenig: meine sind - ohne das heutige Laxier - Planung auf die Rede, die ich am Johannistage bei der Vesper halte, tausend Entwürfe zu Gedichten, die ich in denen Cessationen (vier Wochen, wo man bloß für sich schafft) machen will, und machen muss (auch lateinische), ganze Pakete von Briefen, die ich, obschon das N. Jahr wenig dazu beiträgt, schreiben muß.

Was die Besuche in den Weihnachten betrifft, so bin ich eher so frei, Sie hierher einzuladen, weil mich das Geschäft am Johannistage, wie gesagt, nicht leicht abkommen läßt.
Die lieben Geschwisterige werden sich wieder recht freuen, aber, im Vertrauen gesagt, mir ists halb und halb bange, wie sie von mir beschenkt werden sollen. Ich überlasse es Ihnen, liebste Mamma, wanns ja so ein wenig unter uns beim alten bleiben soll, so ziehen Sies mir ab, und schenkens ihnen in meinem Namen.
Der lieben Frau Großmamma mein Kompliment, und ich wolle ihr auch ein  Weihnachtsgeschenk machen – ich wolle dem lieben Gott mit rechter Christtags-Freude danken, dass er Sie mir auch dieses beinahe vollendete Jahr wieder so gesund erhalten habe. Ohnerachtet meines Laxiers bin ich doch im übrigen recht wohl.
Bei mir ists zwar nicht zu spät, wie bei Ihnen, doch weiß ich eben nichts mehr zu schreiben, als dass ich bin
 
                            meiner liebsten Mamma gehorsamster Sohn Hölderlin
RE: Ich hab mein Herz hineingeschrieben - Briefe
geschrieben von ehemaliges Mitglied

Liebe Sirona,
will Dir mal wieder DANKE sagen für Deine Treue und Liebe,
die Du hier zeigst.
Die Briefe der Künstler snd für mich Offenbarungen der tiefsten Seele
eines Menschen, die nur in solchen Mitteilungen nachempfunden werden
können,

Clemens Brentano an Rudolf Clemens Rochs


Wens interessiert zur Erinnerung:
Clemens Brentano und Bettina von Arnim sind Enkel der
wunderbaren, interessanten Sophie von La Roche.

Clematis
 

RE: Ich hab mein Herz hineingeschrieben - Briefe
geschrieben von ehemaliges Mitglied

Rainer Maria Rilke
an
Clara Rilke
19. Dezember 1906
Du weißt, ..., was mir in meiner frühen Kindheit Weihnachten war; selbst noch dann, als die Militärschule mir ein wunderloses, hartes, unbegreiflich boshaftes Leben so glaubhaft vortäuschte, dass mir keine andere neben jener unverschuldeten Wirklichkeit möglich schien; selbst dann noch war Weihnachten wirklich und war das, was mit einer Erfüllung herankam, die über alle Wünsche hinausging, und wenn es über die äußersten letzten nie noch gewünschten hinaus war, dann begann es erst recht, dann faltete es, das bisher gegangen war, Flügel aus und flog, flog, bis es nicht mehr zu sehen war und man nur noch die Richtung wusste, in dem großen fließenden Licht.

Und alles das hatte noch immer, immer noch Macht über mich. Und in jedem dieser Jahre, wenn ich für uns oder für Ruth ein Weihnachten aufbaute, so verachtete ich ein wenig mein Gebautes, weil es so weit hinter jenem Wunder zurückblieb, von dem ich wusste, dass es in meiner Phantasie nicht willkürlich und hemmungslos gewachsen war: so groß, so unbeschreiblich war es schon immer gewesen.
Und nun saß ich am zwölften lange und dachte; dachte an die ganze tiefe Gnadenzeit, die damals durch unsere Herzen ging. Fühlte den Vorabend wieder im Wohnzimmer; den Morgen, den frühen erst, bei der Kerze, in dem das Neue anstieg, wie eine Überschwemmung Angst verbreitend und Schrecken; dann den späteren Morgen im Winterlicht mit seiner völlig neuen Ordnung, mit seiner Ungeduld, seiner bis ans Äußerste angespannten Erwartung, die an den kleinen, momentanen und greifbaren Erfüllungen zu immer stärkerer Spannung wuchs; dann dieser ganze steile Vormittag, als ob man einen Berg rasch, viel zu rasch hinanmüsste, und endlich in all dem Ungewissen, nicht Vorstellbaren, nicht Möglichen: etwas Wirkliches, eine Wirklichkeit, die in unerhörter Weise mit dem Wunderbaren verbunden, von ihm kaum zu unterscheiden war und doch wirklich. Und danach endlich, allmählich sich ausbreitend, eine Erleichterung, die erst wie jene Erleichterung aufgenommen wurde, die kommt, wenn ein Schmerz aussetzt, und doch eine ganz andere, andauernde war, wie sich später zeigte. Und nun plötzlich ein Leben, auf dem man stehen konnte; nun trug es einen und wusste von einem, während es trug. Was wäre ich ohne die Stille, die damals in mir entstand; was ohne dieses ganze Erlebnis, in dem Wirklichkeit und Wunder dasselbe geworden waren; was ohne diese Wochen der Hingabe, bei der ich zum erstenmal nicht verlor; was ohne diese schlichten Dienste, die eine Bereitschaft in mir aufweckten, von der ich nicht wusste; was ohne diese Nachtwachen: wenn die Nacht, die Winternacht, mir kalt auf den Augen lag, die ich schloss, einen fernen Stern draußen durch das Rankenwerk der Weinlaube mit hereinziehend in dieses Schließen; wenn einfach Stille war, Stille von jener größten Stille, die ich noch nicht kannte, während vor diesem Hintergrund die kleinsten der unbegreiflich neuen Geräusche sich mit klarer Deutlichkeit abzeichneten.

Kaum je hat einer, der nicht arbeitete, mit so viel Recht und Eifer, mit so inständigem Stillhalten gewacht, wie ich damals, da, wie ich jetzt weiß, an mir gearbeitet wurde. Wie eine Pflanze, die ein Baum werden soll, ward ich damals aus dem kleinen Gefäß herausgenommen, vorsichtig, während Erde abfloss und etwas Licht zu meinen Wurzeln kam, und wurde endgültig eingesetzt an meine Stelle, dort, wo ich stehen bleiben sollte bis in mein Alter, in die große, ganze, wirkliche Erde.
Und als ich dann am zwölften weiterdachte, und dachte, dass dann Weihnachten kam, da fiel mir nur dieses Weihnachten ein, die Diele nur, die so groß und helldunkel war bis an den hellen, großen Baum heran, zu dem Du eine Weile herantratest, schnell, mit einer Unsicherheit, die wieder ganz mädchenhaft war, mädchenhafter als alles, das kleine Köpfchen an
Dein schönes Gesicht haltend und mit ihm in den Glanz hinein, den Ihr beide nicht sehen konntet, jedes von seinem eigenen Leben erfüllt und von dem des anderen.

Da erst merkte ich, dass mir dieses Weihnachten noch da war und nicht wie eines, das einmal war und vergangen ist, sondern wie ein immerwährendes, ewiges Weihnachtsfest, zu dem das innere Gesicht sich hinwenden kann, sooft es seiner bedarf. Auf einmal war Freude und Seligkeit und Erwartung der anderen klein geworden dahinter; als wären das mehr meines treuen guten Vaters Weihnachten gewesen, seines besorgten, fürsorgenden Herzens eigenstes Fest. Dieses aber war meines: in seinem Helldunkel, seiner Stille und Unwiederholbarkeit ...
Aus diesem allem entstand mir auch die Fähigkeit, diese Weihnachten einmal allein und doch nicht bange oder traurig zu sein. Nun schreibe ich nicht weiter, sondern denke nur noch, und Ihr werdet es fühlen ...

(Brief aus Capri an Clara Rilke vom 19.12.1906)
... und Anfang glänzt / an allen Bruchstelln unseres Misslingens

Clematis

 



 
Sirona
Sirona
Mitglied

RE: Ich hab mein Herz hineingeschrieben - Briefe
geschrieben von Sirona
Theodor Fontane an Friedrich Witte

Berlin d. 3. Januar 1851
... Die Festtage über laborierten wir beide, Emilie und ich, an der Grippe. Der Weihnachtsabend war. gemütlich, aber doch – dürftig; keiner hatte Geld, um dem andern mehr als ein Paar Handschuh und dergleichen zu schenken.
Ich mußte daran denken, daß an demselben Abend meine Gedichte in wenigstens fünfzig bis hundert Prachtexemplaren auf verschiedenen Festtischen prangten; und doch, unter dem Weihnachtsbaum des Verfassers sah es derweil ärmlich genug aus. Zum Glück stört mich so was wenig. Ich weiß, daß das Leben sein bißchen Honig wo anders saugt – und nur die Aussicht auf direkte Hungerleider verdirbt mir in den letzten Tagen meine sonst gute Laune. Adieu, mein lieber Witte, und immer Kopf oben, wie ihr alter Freund

Th. Fontane.

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