Literatur Morgenstund...?!

longtime
longtime
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Morgenstund...?!
geschrieben von longtime
Schönen Tag, denn: Morgenstund hat Gold im Munde (.. ob in der Geisthaltung oder in der Zahnprothese - oder in beiden...)


Achim von Arnim:
Der Welt Herr


Morgenstund hat Gold im Munde,
Denn da kommt die Börsenzeit
Und mit ihr die süße Kunde,
Die des Kaufmanns Herz erfreut:
Was er abends spekulieret,
Hat den Kurs heut regulieret.
Eilends zeihen die Kuriere
Mit dem kleinen Kursbericht
Dass er diese Welt regiere,
Von anderen weiß ich's nicht:
Zitternd sehen ihn Potentaten,
Und es bricht das Herz der Staaten.

*

Achim von Amim: Morgenstund hat Gold im Mund

Eine Interpretation von Hans Jansen:

Auch in der Romantik wurden Gedichte nicht nur im Elfenbeinturm verträumter Weltabgeschiedenheit gemacht. Und es spricht für die politische Weitsicht der Gattung Lyrik, dass eines der ersten Gedichte über den modernen Finanzkapitalismus schon um 1825, zur Zeit der großen Handelskrise in Europa, entstanden ist.
Es überrascht freilich der Name des Verfassers. Denn Achim von Arnim (1781 bis 1831) ist uns vertraut vor allem durch wunderbar einfache, gefühlvoll zärtliche Liebesgedichte, die er oft in Briefe an seine Frau Bettina einstreute:
„Mit jedem Druck der Feder
Drück ich dich an mein Herz."


In die Literaturgeschichte eingegangen aber ist der Spross einer verarmten Brandenburger Adelsfamilie mit der berühmten Liedersammlung „Des Knaben Wunderhorn", die er mit seinem Freund und späteren Schwager Clemens Brentano herausgegeben hat.

„Der Welt Herr" nun ist ein Gelegenheitsgedicht, einer jener Stammbuchverse, wie sie die klassisch-romantische Dichtung pflegte.
Arnim schrieb ihn in das Stammbuch eines seiner Neffen, der damals erst vierzehn (!) Jahre alt war.
Das jugendliche Alter des Adressaten lässt vermuten, dass die Widmung als Merkspruch fürs Leben zu verstehen ist - zumal die beiden Strophen, einprägsam gereimte Trochäen, über den familiären Anlass hinaus ins allgemein Gültige weisen.

Die erste Zeile zitiert ein altes Sprichwort bürgerlichen Gewerbefleißes: „Morgenstund hat Gold im Mund.“
Der sie zu nutzen weiß, ist hier offenbar ein finanzstarker Kaufmann, der die Gesetze des Marktes kennt; seine Spekulation reguliert die Kurse, macht ihn zum Herrn der Welt. Dabei bleibt die Frage offen, ob die Macht des Spekulanten bis in den Himmel reiche.
Arnims ironisch wattierte Kritik an einem (amoralischen) Börsengeschäft, das die Weltwirtschaft zu ruinieren im Stande ist, mündet in ein satirisch zugespitztes Horrorszenario: Potentaten erzittern, „und es bricht das Herz der Staaten" - angesichts der globalen Wirtschaftskrise unserer Tage eine Vision von gespenstischer Aktualität.
*
(Wegen der Abdruckrechte in ST angefragt bei Hans Jansen - früher WAZ in Essen)
welling
welling
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Re: Morgenstund...?!
geschrieben von welling
als Antwort auf longtime vom 24.05.2009, 08:57:26
Hallo longtime,


"Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmern ihm hilflos vor den Augen......" (Franz Kafka, Die Verwandlung, Fischer Bd.19)

Und nun meine indiskrete Frage: Würdest du, wenn dir dies widerführe, wird es nicht, keine Sorge, aber mal angenommen, dass..., würdest du "Morgenstund hat Gold im Mund" dann irgendwie variieren oder abändern?

Mit kafkaeskem Morgengruß

welling
pilli
pilli
Mitglied

Re: Morgenstund...?!
geschrieben von pilli
als Antwort auf longtime vom 24.05.2009, 08:57:26
das las ich eben:

"Morgenstund’ hat Gold im Mund und Blei im Hintern."

"Morgenstund’ hat Mundgeruch"

"Morgenstund’ ist aller Laster Anfang."

"Müßiggang hat Gold im Mund."

auch das gemeine volk weiß sich manchmal zu helfen!


--
pilli

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longtime
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Re: Morgenstund...?!
geschrieben von longtime
als Antwort auf welling vom 24.05.2009, 09:49:49
Hall, welling !


Sonnentagsbläue und -schläue seien Dir geeicht, ob im Munde, im Auge, ob auf dem Fußboden, wo Gregor verreckte - oder in einer klugen Interpretation zu F.K., wo der Apfel, mit dem Gregor als Tier mit gezieltem Wurfe verwundet wird, ein paradiesischer war!

Apfelmus hätte wohl nicht "ausgereicht."

Aber wenn die Käferschale den Apfel so zermatscht hätte; na, da wäre ein Kapitelchen zur Fortsetzung über Obstverarbeitungssorten fällig gewesen. Und der Käfer hätte war zu schnabulieren gehabt!

Schönen Tag - ob mit Kafka oder mit Dir selber:

A. St. Rey..!


--
longtime
favorit15
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Re: Morgenstund...?!
geschrieben von favorit15
als Antwort auf longtime vom 24.05.2009, 08:57:26
Morgenstund hat Gold im Mund

In meinem Bett, noch ganz bedeckt,
da kratz ich mir den Wanst,
was in mir steckt, wurd nicht geweckt,
drum bleib ich hier verschanzt.

Der Kunigund, mein treuer Hund,
ist Morgens schon bereit,
denn Morgenstund hat Gold im Mund,
zitiert mir stets mein Weib.

Zu kurze Nacht, zu früh erwacht,
der Spruch ist mir gar schnurz,
wer das gesacht, wer so gedacht,
dem schenk ich jetzt nen Furz.

Mein Weib agiert, mein Weib hantiert,
schon in der Küche rum,
der Magen giert, der Schlaf verliert,
und seufzend fluch ich stumm.

Es ist verrückt, die Blase drückt,
am Morgen ganz gemein,
ich schlurf gebückt, und nicht beglückt,
ins kalte Bad hinein.

Das Licht so brennt, die Spülung klemmt,
am Morgen ist das schlimm,
die Katze pennt hier ungehemmt
im Waschbecken dahin.

Nun frage ich im Spiegel mich,
wo bleibt das Gold im Mund,
es grüßt der Siech und lediglich,
vom Bier ein miefend Schlund!

von "Schreiberlehrling Claudia"
--
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cecile
cecile
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Re: Morgenstund...?!
geschrieben von cecile
als Antwort auf longtime vom 24.05.2009, 11:19:01
Das mit der goldmundigen Morgenstunde - das hat schon manchmal seine Tücken!

Es gibt ein wunderbares Gedicht von Mascha Káleko : Der nächste Morgen, über die Desillusion ( und das sich abzeichnende Ende der Romanze) nach einer Liebesnacht : typisch Káleko, etwas wehmutsvoll, aber ohne Larmoyanz und mit aufblitzendem Humor:

Wir wachten auf. Die Sonne schien nur spärlich
Durch schmale Ritzen grauer Jalousien.....



und zum Schluß:

Ich ging zur Tür. Mein Dienst begann um neune.
Mir ahnte viel.Doch sagt ich nur das Eine:
Nun ist es aber höchste Zeit. Ich geh ...



Im untenstehenden Link findet man den vollständigen Text - nebst anderen Gedichten von Kaléko .
Nur etwas runterscrollen ...



--
cecile
carlos1
carlos1
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Re: Morgenstund...?!
geschrieben von carlos1
als Antwort auf longtime vom 24.05.2009, 08:57:26
"Auch in der Romantik wurden Gedichte nicht nur im Elfenbeinturm verträumter Weltabgeschiedenheit gemacht. Und es spricht für die politische Weitsicht der Gattung Lyrik, dass eines der ersten Gedichte über den modernen Finanzkapitalismus schon um 1825, zur Zeit der großen Handelskrise in Europa, entstanden ist.
Es überrascht freilich der Name des Verfassers" Hans Jansen, WAZ zit. nach longtime

So überraschend ist das nicht, wie Hans Jansen meint. Das Gedicht und seine Thematik im Zusammenhang der Romantik überrascht nur, weil man Romantik mit Gefühlsseligkeit allein gleichsetzt und die Dynamik der kulturellen Moderne außer Acht lässt.. Die Romantik war eine Geistesbewegung, die Modernität anders als alle bis dato aufgetretenen Modernen auffasste, sich völlig von dem Geist der klassischen Werke der antiken Welt losgelöst hatte. Sie suchte das Moderne, indem sie dem Klassischen das Romantische entgegensetzte, ihre eigene Vergangenheit. Diese fand sie in einem idealisierten Mittelalter. „Im Laufe des 19. Jahrhunderts entlässt die Romantik aus sich heraus jenes radikalisierte Bewusstsein von Modernität, das sich von allen historischen Bezügen löst und nur noch die abstrakte Entgegensetzung zur Tradition, zur Geschichte insgesamt zurückbehält.“ (J. Habermas, Die Moderne, ein unvollendetes Projekt, 1980).
Für Adorno beginnt die Moderne um 1850 (Baudelaire). In der Geistesgeschichte hat es eine Abfolge von Modernen gegeben. Erstmals im 5. Jahrhundert, als die offiziell christliche Gegenwart gegenüber dem Heidentum abgegrenzt wurde. Modernität drückt immer das Bewusstsein einer Epoche aus in Abgrenzung zur Vergangenheit der Antike, das sich gegenüber der Vergangenheit der Antike in Beziehung setzt und sich als Übergang von einem Alten zum Neuen sieht. Eine Moderne gab es zur Zeit Karls des Großen (karolingische Renaissance), im 12. Jahrhundert im Klassizismus des 17. Jahrhunderts in Frankreich.

Das Vollkommenheitsideal der französischen Aufklärung, die aufkommenden Naturwissenschaften mit der Vorstellung des ständigen Fortschreitens im Wissen und in der Moral und der Gesellschaft lösen die Faszination, die die klassischen Werke der antiken Welt auf den Geist der jeweils Modernen ausübten.

Der Surrealismus bei Franz Kafka - vgl Beitrag welling - ist aus dieser Bewegung zu erklären. Für Aristoteles und die Griechen war Erkenntnis der Realität nur möglich in einer Subkjekt-Objekt-Beziehung. Wahrheit war die Übereinstimmung von Gegenstand und Erkenntnis. Kafka verlegt den Gegenstand in das Bewusstsein. Damit ergibt sich in der Tat eine „Verwandlung“. Warum aber die „Morgenstund´ hat Gold im Mund abändern“?
c.




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