Forum Kunst und Literatur Literatur NEU: ein "Bisschen" Sprachpflege

Literatur NEU: ein "Bisschen" Sprachpflege

miriam
miriam
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Re: NEU: ein "Bisschen" Sprachpflege: Fragen an Sprachliebhaber
geschrieben von miriam
Etwas verunsichert: war denn das Thema "Heine" bzw. Kobes schon abgeschloßen?

Miriam
enigma
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Mitglied

Re: NEU: ein "Bisschen" Sprachpflege: Fragen an Sprachliebhaber
geschrieben von enigma
als Antwort auf indra vom 31.07.2010, 16:34:51
Hallo Indra,

ja, den Heinrich Seidel mit seinem bekannten “Ingenieurlied” habe ich natürlich gemeint.

Als junger Mensch habe ich Episoden seines “Leberecht Hühnchen” gelesen und sehr gemocht.
Das muss ich unbedingt noch einmal lesen, weil ich schon wieder viel “vom Hühnchen” vergessen habe.

Kürzlich fiel mir dann auf einer Internet-Seite sein “Sonett” in die Hände.

Das Ingenieurlied lautet so:

Ingenieurlied

Dem Ingenieur ist nichts zu schwere -
Er lacht und spricht: "Wenn dieses nicht, so geht doch das!
Er überbrückt die Flüsse und die Meere,
Die Berge unverfroren zu durchbohren ist ihm Spaß.
Er thürmt die Bogen in die Luft,
Er wühlt als Maulwurf in der Gruft,
Kein Hinderniss ist ihm zu groß -
Er geht drauf los!

Den Riesen macht er sich zum Knechte,
Dess’ wilder Muth, durch Feuersgluth aus Wasserfluth befreit,
Zum Segen wird dem menschlichen Geschlechte -
Und ruhlos schafft mit Riesenkraft am Werk der neuen Zeit.
Er fängt den Blitz und schickt ihn fort
Mit schnellem Wort von Ort zu Ort,
Von Pol zu Pol im Augenblick
Am Eisenstrick!

Was heut sich regt mit hunderttausend Rädern,
In Lüften schwebt, in Grüften gräbt und stampft und dampft und glüht,
Was sich bewegt mit Riemen und mit Federn,
Und Lasten hebt, ohn’ Rasten’ webt und locht und pocht und sprüht,
Was durch die Länder donnernd saust
Und durch die fernen Meere braust,
Das Alles schafft und noch viel mehr
Der Ingenieur!

Die Ingenieure sollen leben!
In ihnen kreist der wahre Geist der allerneusten Zeit!
Dem Fortschritt ist ihr Herz ergeben,
Dem Frieden ist hienieden ihre Kraft und Zeit geweihtl
Der Arbeit Segen fort und fort,
Ihn breitet aus von Ort zu Ort,
Von Land zu Land, von Meer zu Meer -
Der Ingenieur!
Heinrich Seidel

Und „Leberecht Hühnchen und andere Werke sind auch bei Gutenberg zu finden, hier:

Danke fürs Mitspielen.

Gruß von Enigma


PS
Miriam, auf das Heine-Thema und den „Kobes“ hat Longtime doch schon geantwortet.
Wenn Du noch etwas dazu sagen möchtest, ist das doch immer willkommen.
enigma
enigma
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Re: NEU: ein "Bisschen" Sprachpflege: Fragen an Sprachliebhaber
geschrieben von enigma
als Antwort auf enigma vom 01.08.2010, 07:43:33
Da es hier ja um Sprachpflege geht, möchte ich eine kurze Geschichte einstellen, ohne den Schriftsteller zu benennen.
Es handelt sich um eine Übersetzung. Das Original ist nicht in deutscher Sprache geschrieben worden.
Ich finde, dass diese Geschichte, die ich einem Band von Kurzgeschichten europäischer Erzähler des 20. Jahrhunderts entnommen habe, so typisch für die Diktion (und auch die Milieuschilderung) ihres Verfassers ist, dass Ihr diesen wahrscheinlich erkennen werdet, besonders in Verbindung mit dem Datum, das der Geschichte nachgestellt war.


“Das Mädchen

Eines Abends lag ich, müde von der Arbeit, auf der der Erde an der Mauer eines großen Steinhauses, eines traurigen alten Gebäudes; die roten Strahlen der untergehenden Sonne legten die tiefen Risse und den verkrusteten Schmutz an seinen Wänden bloß.
Im Inneren des Hauses hasteten - wie Ratten in einem dunklen Keller - halbverhungerte, schmutzige Menschen umher, deren Körper nur notwendig mit Lumpen bekleidet und deren dunkle Seelen ebenso nackt und schmutzig waren wie ihre Körper.

Aus den Fenstern dieses Hauses drang, langsam und dick wie grauer Rauch über einer Brandstätte, das monotone Summen des Lebens, das in ihm flackerte. Ich hörte dieses mir seit langem bekannte, aufgeregte und verzagte Summen und nickte ein, da ich keinerlei neue Laute zu hören erwartete.

Aber dann erklang irgendwo in der Nähe, hinter einem Haufen leerer Fässer und zerbrochener Kisten hervor, eine leise, zärtliche Stimme:
“Schlaf, Liebling mein! Schlaf ein, Kindchen, schlaf ein!
Schlaf, schlaf, schlaf,
Schlaf, Mädchen mein....”

Ich hatte bis dahin nicht gehört, daß die Mütter in diesem Haus ihre Kinder so liebevoll in den Schlaf wiegten. Ich stand leise auf und schaute hinter die Fässer. In einer der Kisten saß ein kleines Mädchen. Es hielt den blonden Krauskopf tief geneigt, schaukelte langsam hin und her und summte nachdenklich vor sich hin:
“Mach schon zu die Äuglein dein,
schlummer ein, schlummer ein....”

In den kleinen, schmutzigen Händen des Mädchens lag ein hölzerner, in einen roten Lappen gewickelter Löffelstiel, den es mit großen traurigen Augen anblickte.
Es waren hübsche, klare, weiche und keinesfalls kindlich-traurige Augen. Als ich ihren Ausdruck sah, vergaß ich den Schmutz auf dem Gesicht und an den Händen des Mädchens.

Über ihm wogten - gleich Wolken von Ruß und Asche - Schreie, Schimpfen, das Lachen von Betrunkenen und Weinen in der Luft, ringsum auf der schmutzigen Erde war alles vernichtet, zerbrochen , und die Strahlen der Abendsonne, die die Trümmer der Kisten und Fässer mit rotem Licht übergossen , verliehen ihnen eine sonderbare, unheildrohende Ähnlichkeit mit den Resten eines großen, von der schweren und rauhen Hand der Armut zerstörten Organismus.
Ich machte eine unbedachte Bewegung; das Mädchen sah auf, erblickte mich, und seine Augen verengten sich mißtrauisch; es schrumpfte, wie eine Maus beim Anblick einer Katze, ängstlich in sich zusammen.
Ich schaute lächelnd in ihr schmuddliges, trauriges, schüchternes Gesicht; ihre Lippen waren fest aufeinandergepreßt, und ihre schmalen Augenbrauen zuckten.
Sie stand schließlich auf, strich sachlich das zerrissene, einst rosa Kleid zurecht, steckte ihre Puppe in die Tasche und fragte mich mit klingender, klarer Stimme: “Was starrst Du?”
Sie mochte elf Jahre alt sein; schmal und mager, musterte sie mich aufmerksam und ihre Augenbrauen zitterten fortwährend.
“Nun”, fuhr sie nach einer Pause fort, “was willst du von mir?”
“Nichts, spiel nur, ich geh schon...” entgegnete ich.
Da tat sie einen Schritt auf mich zu, verzog geringschätzig das Gesicht und sagte laut und deutlich: “Komm mit... für fünfzehn Kopeken...”

Ich verstand nicht gleich und zuckte nur, wie ich mich noch erinnere, im Vorgeschmack von etwas Abscheulichem zusammen.
Sie trat unmittelbar auf mich zu, schmiegte die Schulter an meine Seite und fuhr, das Gesicht abgewandt, so daß ich es nicht sehen konnte, mit dumpfer, gelangweilter Stimme fort: “Also gehen wir, oder was ist? Ich habe keine Lust, mir jemand auf der Straße zu suchen. Ich bin auch nicht danach angezogen. Mutters Liebhaber hat mein Kleid vertrunken. Los, komm schon!”

Ich stieß sie wortlos, aber sanft zurück, während sie mir mit einem mißtrauischen, befremdeten Blick in die Augen sah ; sie verzog sonderbar die Lippen und wiederholte, mit weit geöffneten Augen irgendwohin nach oben blickend, gedämpft und mit gelangweilter Stimme: “Hab dich nicht so! Du glaubst wohl, ich werde schreien, weil ich noch klein bin? Keine Angst, das habe ich früher getan... während ich jetzt....!”

Sie vollendete nicht und spie gleichgültig aus. Ich ließ sie stehen und ging; ich trug in meinem Herzen ein böses Entsetzen und den traurigen Bick der klaren Kinderaugen mit mir davon.”
(1905)


Wer könnte so etwas geschrieben haben in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts?

Wenn keine Reaktion kommt, löse ich in zwei bis drei Tagen auf.


Beste Grüße von Enigma








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enigma
enigma
Mitglied

Re: NEU: ein "Bisschen" Sprachpflege: Fragen an Sprachliebhaber
geschrieben von enigma
als Antwort auf enigma vom 10.08.2010, 19:56:51
Noch ein Hinweis:

Der Autor der Kurzgeschichte lebte in seinen ersten Lebensjahren mit seiner Familie selbst in bitterster Armut. Die Familie bewohnte oft keine richtige Wohnung, sondern suchte Unterschlupf in Elendsquartieren.

Zu seinen Hauptwerken gehört ein berühmt gewordenes Drama, das an vielen Schauspielhäusern aufgeführt wurde.
In diesem Stück, das noch heute oft auf dem Programm steht, zeigte er die Verelendung von Herumtreibern, Dieben und Bettlern.

Na, das kommt Euch doch bestimmt bekannt vor?

Gruß von Enigma
cecile
cecile
Mitglied

Re: NEU: ein "Bisschen" Sprachpflege: Fragen an Sprachliebhaber
geschrieben von cecile
als Antwort auf enigma vom 11.08.2010, 07:57:46


Hi Enigma,

Der eingestellte Text kann eigentlich - vom Stil und von der Thematik her - nur von Gorki sein

Und dein letzter Hinweis bestätigt es:

Ich tippe mal auf Maxim Gorki, dessen Drama Na dne / Nachasyl auch heute noch - mir jedenfalls - unter die Haut geht.


Gruß

Cécile
enigma
enigma
Mitglied

Re: NEU: ein "Bisschen" Sprachpflege: Fragen an Sprachliebhaber
geschrieben von enigma
als Antwort auf cecile vom 11.08.2010, 09:30:23
Hallo Cécile,

die Kandidatin hat 100 Punkte.

Ja, ich habe Maxim Gorki (eigentlich Alexei Maximowitsch Peschkow) gemeint, Maxim Gorki, den bildungshungrigen Jungen, der sich aus finanziellen Gründen keinen langen Schulbesuch oder ein Studium erlauben konnte und sich sein Wissen autodidaktisch als Vielleser und später auch durch Reisen aneignete.

Ich finde auch, dass sein Stil und seine thematischen Anliegen schon in der kleinen Geschichte sehr gut herauskommen.

Vor einigen Jahren habe ich in Heringsdorf auf der Insel Usedom die Maxim-Gorki-Gedenkstätte in der Villa Irmgard besucht, die nahe zu unserem Hotel lag.
Der Besuch lohnt sich auf jeden Fall, denn die Gedenkstätte kann mit vielen Fotos und auch Schriftstücken aus der Zeit aufwarten, zu der Gorki sich aus gesundheitlichen Gründen in Heringsdorf aufhielt.

Eine Kritik zu „Nachtasyl“ von Dieter Wunderlich hier:

Danke für Dein Interesse und bis bald.

Enigma



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