Forum Kunst und Literatur Literatur Weihnachten - 1933, im KZ Esterwegen

Literatur Weihnachten - 1933, im KZ Esterwegen

longtime
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Weihnachten - 1933, im KZ Esterwegen
geschrieben von longtime


Stille Nacht, heilige Nacht“ ... in einem Konzentrationslager (1933)

Oder:
Und jetzt, als ob Feuer vom Himmel fiel’,
Erglüht es in niederschießender Pracht
Überm Wasser unten… Und wieder ist Nacht.
(Aus Th. Fontane „Die Brücke am Tay“)



Stille Nacht, heilige Nacht . . .
(24. Kapitel aus Wolfgang Langhoffs (1901 -1966): Die Moorsoldaten“. Zuerst 1935, in der Schweiz erschienen)



Im Zellenflügel der Station I wird der Weihnachtsbaum gerichtet. Ein großer. schöner Baum. Er reicht von unten bis zur eisernen Galerie des ersten Stockes. Seine Aeste erfüllen die ganze Breite des Flures.
Wir sind damit beschäftigt, die Lichter aufzustecken. Der Dekorateur aus meiner Zelle führt als Fachmann das große Wort. Sonst ist es ziemlich einsilbig unter uns...
Heute früh sind 250 Mann entlassen worden. Weihnachtsentlassungen. Sie wohnen fast alle in der Umgegend, zwei oder drei Stunden Bahnfahrt von hier. Heute abend sitzen sie zu Hause, haben die Frau im Arm, das Kind auf dem Schoß ... Wie haben ihre Gesichter geglüht, die Augen geleuchtet! Wir Zurückgebliebenen blickten ihnen nach, als sie über die Straße zum Bahnhof zogen.
An der Ecke begannen sie plötzlich zu laufen.
„Schau nur. wie der Fritz die Kurve nimmt ... "
„Junge. Junge. hat ders eilig."
„Wenn ich herauskomme. ich laufe auch so." -
Dann waren sie verschwunden. Wir sind an die Arbeit gegangen. Stumm. Versonnen. 'Du hast dir doch denken können, daß du nicht dabei bist. Was willst du also? - Aber d e r war doch dabei, und der. und der auch! Warum eigentlich nicht ich? Warum nicht? - Meine Frau hätte Augen gemacht, wenn ich plötzlich in der Türe gestanden wäre! „Guten Tag. Gibts hier noch einen Platz für mich?" - Nein, das darf ich nicht sagen. Sie würde zu sehr erschrecken. Ich muß vorher vom Bahnhof aus antelephonieren. Oder noch besser, ich schicke ein Telegramm. Ja, das ist das beste. Dann kann sie sich vorbereiten. Ich bin neugierig, wie das Zimmer aussieht. Sie sagt, es sei so klein wie eine Zelle. Schadet nichts. Eine Zelle - aber zu zweit. Und dann kommt der Abend. dann kommt die Nacht.
Wenn sie doch nie aufhörte ... Ich werde ihr sagen. daß wir uns nie mehr trennen wollen. daß wir ...'
„Wir müssen eine Liste machen von denen, die nichts von zu Hause geschickt bekommen haben."
„Gut. - Machen wir eine Liste."
Unter den Entlassenen waren viele. die schon ihre Weihnachtspakete erhalten hatten. Sie haben sie dagelassen zur gemeinsamen Verteilung an Bedürftige. Letzter Gruß an die Kameraden. Eine Kommission von Häftlingen wird bestimmt, die die Verteilung vornimmt. Wir können in unserer Station fünfzig Weihnachtsteller machen mit Backwerk, Wurst, Fett, Aepfeln, Nüssen, Zigarren und Zigaretten. Wir nehmen unsere Eßnäpfe dafür und stellen sie auf langen Tischen, über die wir frische Bettlacken breiten, unter dem Baume auf.
Beim Notieren der Namen derer. die beschert werden sollen, ergeben sich Schwierigkeiten. Mancher. von dem wir wissen, daß er ein armer Teufel ist, weigert sich. auf die Liste gesetzt zu werden. Mit rotem Kopf stößt er unwirsch hervor:
„Ich will nichts. Laßt mich zufrieden. Verzichte."
Erst nach langem Ueberreden, nachdem wir sein empfindsames Herz beschwichtigt haben. willigt er ein. Kameraden kommen zu uns:
„Den müßt Ihr auch noch drauf setzen. Der hat noch nie etwas geschickt bekommen. Er wills nur nicht sagen.“
Dann ist die Liste fertig. Wir verbringen die Stunden der Dämmerung auf der Treppe hockend. In den Zellen haben wir kein Licht. Die Stationswache im ersten Stock hat sich einen Radioapparat zugelegt. Weihnachtslieder, Glockenläuten. Orgelspiel tönt aus der Wachtstube. So ein Zellenflügel ist wie eine Badeanstalt. Unten der Flur das Schwimmbassin. Eiserne Treppen zu den Galerien. Und es hallt alles so.
In leisen Gesprächen verfließt die Zeit. Dann wird der Baum angezündet. Vom oberen Saal kommen die Gefangenen in den Zellenflügel. Sie gehen langsam, zögernd. abwartend. Sie blicken mißtrauisch auf den Baum hinunter. Sie kommen über die Treppe, über den Flur, sie setzen sich auf die Stühle und Bänke, die wir in langen Reihen aufgestellt haben.
Stille. Der Baum knistert, die Kerzen flackern. Verlegen, beklommen starren wir in die Lichter. Oben auf der Brücke beugt sich der Wachthabende über das Geländer: "Los, fangt schon an! Weihnachtslied singen!"
"Stille Nacht, Heilige Nacht .... "
Nur drei oder vier Stimmen. Die andern schweigen und starren auf den Baum. -
Bittere Stunde des nagenden Heimwehs. Erbarmungslos ausgeliefert dem süßen Schmerz solcher Feier. Verschwimmende Augen, in denen sich die Lichter spiegeln, gebeugte Schultern, hoffnungs-los auf den Knien ruhende Hände …
Ich lese aus dem Balladenbuch vor: Die "Brück' am Tay" von Fontane. "Kauft Zündhölzer!" "Weihnachten in der Großstadt".
Der Rest unseres Gesangschors (die besten Sänger sind heute entlassen) singt: "Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum ..."
Die Geschenke werden verteilt. Jeder holt seinen Teller ab. "Danke," sagt er, "Dankschön ... "
Es will keine Stimmung aufkommen. Alles bleibt in der Luft hängen. Halbe Sätze, geflüsterte Worte, unbehagliche Bewegungen.
Laut donnert es durch den Bau:
"Station I Achtung!"
Wir springen hoch und nehmen Haltung an. Der Kommandant betritt die Station.
"Station I angetreten zur Weihnachtsfeier."
"Danke. Hinsetzen. Weitermachen."
Er kommt durch den Flur, zwischen den Stühlen durch, bis zum Baum. Sein Gesicht sieht noch blasser aus als sonst. Seine gefürchteten Augen stechen unter der schwarzen Mütze hervor. Er tritt vor den Baum. Er nimmt die Mütze ab. Ohne die Mütze sieht er ganz anders aus. Die Dämonie ist verschwunden. Der Dorfpolizist kommt zum Vorschein.
Er, der Eiserne, Harte, ist sichtlich ergriffen. Leise beginnt er, in sächsischem Tonfall:
"Deutscher Lichterbaum. - Deutsche Weihnachten! ... "
Oh, er versteht den Ton zu finden! Er spricht mit Gefühl. Sein verbissenes Gesicht glättet sich, Einfalt strahlt aus seinen Augen. Ein Kind steht so unter dem Weihnachtsbaum.
"Ich blicke in Eure ehrlichen Gesichter (seit wann haben wir ehrliche Gesichter?) und sehe Euch an: Ihr seid keine schlechten Menschen, keine Untermenschen. Und wenn auch dieses Weihnachten hart für Euch ist, auch für Euch schlägt einmal die Stunde der Freiheit! Helft dann mit am Aufbau unseres großen, neuen deutschen Vaterlandes. Leistet willige Gefolgschaft unserem herrlichen Volkskanzler und Führer Adolf Hitler, der auch für Euer Glück, für Eure Zukunft kämpft, und der jetzt sicher sorgenvoll unter dem Lichterbaum steht und an sein Volk denkt. Deutsch sei unsere Feier! Deutsch bis ins Mark. Deutsch sein heißt Nationalsozialist sein. In diesem Sinne begehen wir das erste nationalsozialistische Weihnachtsfest."
Er setzt die Mütze auf. - er ist wieder der Alte, der "Schwarze".
"Weitermachen!"
"Station I Achtung!"
Er verläßt die Station. Wir atmen auf.
Und dann habe ich angefangen, humoristische Gedichte vorzutragen. Ich habe stundenlang Witze erzählt. Bloß nicht den Kopf hängen lassen. Stimmung ist die Parole. Schließlich dröhnt der Bau vom Gelächter.
"Singen wir eins!"
Alle Mann singen begeistert nach einem Tonfilmschlager:
"Wir zahlen keine Miete mehr,
Wir sind auf der "Lichte" zu Haus'.
Und ist die Zelle noch so klein,
Wir machen uns gar nichts daraus.
Ein Meter fünfzig im Quadrat,
Wir haben ja wenig Gepäck,
Wenn die Zelle nur 'nen Strohsack hat,
Und wir werden halbwegs satt,
Dann ziehn wir nicht wieder weg!"

Am andern Vormittag, am ersten Weihnachtsfeiertag, wird ein Kamerad aus Station III zum Verhör in das Zimmer des Kommandanten geholt. Man hat irgendwo im Mitteldeutschland Waffen gefunden. Er soll etwas darüber wissen. Der Kommandant leitet das Verhör.
Nach zwei Stunden wird der Kamerad ins Lazarett getragen. Die Wände im Zimmer des Kommandanten sind mit seinem Blut bespritzt. Man sieht es noch nach den Feiertagen.

© by Verlag Neuer Weg, Essen
323 S. -16,00 €. ISBN: 978-3-88021-404-0

(Weitere Anmerkungen und Erläuterungen im näcchsten Text!)

longtime
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RE: Weihnachten - 1933, im KZ Esterwegen
geschrieben von longtime
als Antwort auf longtime vom 13.12.2018, 12:24:08

Die Heiilge Weihnacht, 1933 geschrieben:

So endet eine „deutsche Weihnacht...“ in einem Konzentrationslager, dem „ersten deutschen Weihnachten“ Es sind noch zwölf bittere Jahre, die folgen im bitterbösen „Deutschen Reich“. Langhoff hat wahrhaftig Glück gehabt hat seiner Entlassung und seiner Flucht in die Schweiz.

Gäbe es einen Gottesdienst (von irgendeiner Gemeinde!), der ein Menschen-
D i e n s t sein sollte; und ein M e n s c h – zur Weihnacht – läse zusätzlich zum Weihnachtsevangelium diesen Text vor – er könnte die religiös-mythische Welt mit einer real-irdischen verbunden; insbesondere, wo Populisten wieder von einem „Vogelschiss“ reden, wenn ihnen der Zeitraums von 1933 bis 1945 ins den Sinn kommt; wenn sie von ihrem Gehirinriss reden wollen – unter den heutigen Bedingungen.


*
Das Buch:
Langhoff: "Die Moorsoldataen"

Das ganze Lied „Wir zahlen keinen Miete mehr...“
Der Liedtext:

Zur Ballade von Theodor Fontane, die Langhoff zitierte: „Die Brücke am Tay“ (1880 geschrieben, nach dem furchtbaren Katastrophe an der Brücke über den Tay; mit der Unterzeile „28. November 1879“. Zuerst veröffentlicht in: „Die Gegenwart“, Jg. 17, Nr. 2, 10. Januar 1880).

Ob als Übungsaufgaben in der Erprobungsstufe oder als Klausur für Abiturienten – man der Ballade die entsprechende Auftrag für Schüler erteilen. Insbesondere die Verszeilen der Strophe V,, in welcher der Schauspieler Wolfgang Langhoff die Abkehr von der Weihnachtserwartung 1933 gesprochen hat:
„Und jetzt, als ob Feuer vom Himmel fiel'
Erglüht es in niederschießender Pracht
Überm Wasser unten... Und wieder ist Nacht.

- … mit den Augen, der auf der Norderseite, im Brückenhaus, ihren Sohn entgegenfieberten, um noch einmal Weihnachten mit ihren Johnny zu feiern ...

Die Beschreibung, des Reports - auch des „Schwarzen“, des Lagerkommandaten"- "seine gefürchteten Augen stechen unter der schwarzen Mütze hervor“ - und Fontanes Aussagen zur zweimaligen Weihnachtsfeier im „Norderhaus“ - dem nördlichen Brückenkopf der "Brücke am Tay" – sie ergeben einen besonderen, jahrhunderten Klang - einen technischen Missklang einer Fehlkonstuktion in einer Ballade von menschlicher Hypris  - gegenüber einer Geste des Schreckens zu einerimperialen, deutschen Weihnachten für 1933 und längerhin.

Das Balladenbuch, das Wolfgang Langhoff benutzte, habe ich nicht finden können.

Ich gaube jeder, der den Bericht von Weihnachten 1933 im KZ Esterwegen liest, weiß, wie imperial oder national-gewichtig sich „schwarze“ Menschen hervortun können – eine Aufgabe der Aufklärung  ... bis weit in die Jahren und Jahrzehnte deutscher Geschichte ...

 

SamuelVimes
SamuelVimes
Mitglied

RE: Weihnachten - 1933, im KZ Esterwegen
geschrieben von SamuelVimes
10 Jahre später.
1943.

Konzentrationslager Hamburg-Fuhlsbüttel (Kolafu)

Der Vater meines Schwiegervaters schreibt aus dem KZ einen Brief an
seinen Sohn (= mein Schwiegervater "Erich")
Er selbst war Kommunist und wurde verurteilt, weil er antifaschistische Flugblätter
gedruckt und verteilt hatte.

aaaa23.12.1934 - Brief an Erich - Bleistift - S.2.jpgusw, usw.

Der Brief zurück - Klein-Erich an seinen Vater (Auszug) - damals 11 Jahre

28.12.1943 - Brief an Vati von (Klein)-Erich - Tinte  - S.1.BMP

Geschrieben wurde mit Tinte (es ist der einzige Brief mit Tinte - alle anderen
hat "Klein-Erich"  mit Bleistift geschrieben) und das Papier hat einen ziemlichen Gelbstich.
Damit es digital besser lesbar ist, habe ich die Farben digital korrigiert.


LG
Sam
 

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