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Literatur Weihnachts - Geschichten

longtime
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Weihnachts - Geschichten
geschrieben von longtime

GOTT_mit-uns_3.jpg

Eine Weihnachtsgeschichte (trotz des Koppelschlosses?)?

In einer kleinen Schrift von Gundel Paulsen – Weihnachtsgeschichte vom Niederhein; erschienen Druck- und Verlagsgesellschaft (1979) - fand ich vor Jahren, ohne einen Druckverk, leglich war angegeben aus Das Beste aus Reader's Digest, diese Geschiche vom Hürtgenwald, die ich beim ersten Lesen irgendwie als Legende verstand: Toll geschreiben, aber irgendwie unglaubhaft, auch der Autorenname war mir nicht bekannt.

Inzwischen, weil ich die Geschichte später noch einmal las, vervollständigte sich mir die Glaubwürdigkeit:

Ja, der Autor Fritz Vincken war bekannt, und man kann ihm nachforschen:
Im Zusammenhang mit den neuen Roman von Steffen Kopetzky (Propaganda) steht der Wald, im Deutschen bekannt durch die Ardennen-Offensive 1944, wieder im Zentrum:
https://www.rowohlt.de/hardcover/steffen-kopetzky-propaganda.html

Also hier die Geschichte von Fritz Vincken
Zwischenfall im Hürtgenwald

Am Heiligen Abend 1944, mitten in der Ardennenschlacht, hatten Mutter und ich unerwartete Gäste.
Als es an diesem Weihnachtsabend an der Tür klopfte, ahnten Mutter und ich nichts von dem Wunder, das wir erleben sollten.Ich war damals zwölf, und wir lebten in einem kleinen Häuschen in den Ardennen, nahe der deutsch-belgischen Grenze. Vater hatte das Häuschen vor dem Krieg benützt, wenn er an Wochenenden auf die Jagd ging; und als unsere Heimatstadt Aachen immer stärker unter Luftangriffen zu leiden hatte, schickte er uns dorthin. Ihn selbst hatte man in der sechs Kilometer entfernten Grenzstadt Monschau zum Luftschutzdienst eingezogen.»In den Wäldern seid Ihr sicher«, hatte er zu mir gesagt.»Pass gut auf Mutter auf. Du bist jetzt ein Mann.«

Hier ist die Story abgedruckt:
https://www.herrlichkeit-ossenberg.de/filedb/7_Am_Heiligen_Abend_1944_1355870574.pdf

Und diese Story schrieb einmal Weltgeschichte, zitiert von US-Präsident Ronald Reagan, wie der SPIEGEL im Jahre 1985 schrieb:

Als der Bäckermeister Vincken aus Thüringen zum Reichsluftschutzdienst nach Monschau befohlen wurde, nahm er seine Frau mit und - hier wird es welthistorisch - den Sohn Fritz, 12. Nach Bombenschaden in Aachen brachte der Meister seine Lieben in einer Baracke im Hürtgenwald unter, wo sie Ende 1944 in Hitlers letzte Offensive gerieten.
Was Pimpf Fritz dabei erlebte, bescherte ihm Weltruhm: Der Präsident der Vereinigten Staaten las in Bitburg Fritzchens Geschichte vor. Reagans Redenschreiber hatten sie dem "Reader's Digest" entnommen.

Hier wird nicht geschossen“

https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13513702.html


Fortsetzung der Geschichte:

Aber vor einer Woche hatte Generalfeldmarschall von Rundstedt mit der letzten, verzweifelten deutschen Offensive dieses Krieges begonnen, und während ich jetzt zur Tür ging, tobte ringsum die Ardennenschlacht.Als es klopfte, blies Mutter rasch die Kerzen aus. Dann ging sie vor mir zur Tür und stieß sie auf. Draußen standen, vor dem gespenstischen Hintergrund der verschneiten Bäume, zwei Männer mit Stahlhelmen. Der eine redete Mutter in einer Sprache an, die wir nicht verstanden, und zeigte dabei auf einen dritten, der im Schnee lag. Sie begriff schneller als ich, dass es sich um Amerikaner handelte. Feinde!Mutter stand, die Hand auf meiner Schulter, schweigend da, unfähig, sich zu bewegen. Die Männer waren bewaffnet und hätten sich den Eintritt erzwingen können, aber sie rührten sich nicht und baten nur mit den Augen. Der Verwundete schien mehr tot als lebendig. »Kommt rein«, sagte Mutter schließlich. Die Soldaten trugen ihren Kameraden ins Haus und legten ihn auf mein Bett.Keiner von ihnen sprach Deutsch.Mutter versuchte es mit Französisch, und in dieser Sprache konnte sich einer der Männer einigermaßen verständigen. Bevor Mutter sich des Verwundeten annahm, sagte sie zu mir: »Die Finger der beiden sind ganz steif. Zieh ihnen die Jacken und die Stiefel aus und bring einen Eimer Schnee herein.« Kurz darauf rieb ich ihnen die blaugefrorenen Füße mit Schnee ab.Der Untersetzte, Dunkelhaarige, erfuhren wir, war Jim. Sein Freund, groß und schlank, hieß Robin. Harry, der Verwundete, schlief jetzt auf meinem Bett, mit einem Gesicht so weiß wie draußen der Schnee. Sie hatten ihre Einheit verloren und irrten seit drei Tagen im Wald umher, auf der Suche nach den Amerikanern, auf der Hut vor den Deutschen. Sie waren unrasiert, sahen aber, ohne ihre schweren Mäntel, trotzdem auswie große Jungen. Und so behandelte Mutter sie auch.»Geh, hol Hermann«, sagte Mutter zu mir. »Und bring Kartoffeln mit.«Das war eine einschneidende Änderung in unserem Weihnachtsprogramm. Hermann war ein fetter Hahn (benannt nach Hermann Göring, für denMutter nicht viel übrig hatte), den wir seit Wochen mästeten, in der Hoffnung, Vater werde Weihnachten zu Haus sein. Und als es uns vor einigen Stunden klargeworden war, dass er nicht kommen würde, hatte Mutter gemeint, Hermann solle noch ein paar Tage amLeben bleiben, für den Fall, dass Vater zu Neujahr kam. Nun hatte sie sich wieder anders besonnen. Hermann sollte jetzt gleich eine dringende Aufgabe erfüllen.
Während Jim und ich in der Küche halfen, kümmerte sich Robin um Harry, der einen Schuss in den Oberschenkel abbekommen hatte und fast verblutet war. Mutter riss ein Laken in Streifen zum Verbinden der Wunde.Bald zog der verlockende Duft von gebratenem Hahn durch das Zimmer. Ich deckte gerade den Tisch, als es wieder klopfte. In der Erwartung, noch mehr verirrte Amerikaner zu sehen, öffnete ich ohne Zögern die Tür. Draußen standen 4 Männer in Uniformen, die mir nach fünf Jahren Krieg wohlvertraut waren: deutsche Soldaten –unsere!Ich war vor Schreck wie gelähmt. Trotz meiner Jugend kannte ich das Gesetz: Wer feindliche Soldaten beherbergt, begeht Landesverrat. Wir konnten alle erschossen werden! Mutter hatte auch Angst. Ihr Gesicht war weiß, aber sie trat hinaus und sagte ruhig: »Fröhliche Weihnachten!« Die Soldaten wünschten ihr ebenfalls eine frohe Weihnacht.»Wir haben unsere Einheit verloren und möchten gern bis Tagesanbruch warten«, erklärte der Anführer, ein Unteroffizier. »Können wir bei Ihnen bleiben?«»Natürlich«, erwiderte Mutter mit der Ruhe der Verzweiflung. »Sie können auch eine gute, warme Mahlzeit haben und essen, solange etwas da ist«Die Soldaten lächelten, vergnügt den Duft schnuppernd, der ihnen durch die halboffene Tür entgegenschlug. »Aber«, fuhr Mutter energisch fort, »wir haben noch drei Gäste hier, die Sie vielleicht nicht als Freunde ansehen werden.« Ihre Stimme war mit einem mal so streng, wie ich sie noch nie gehört hatte. »Heute ist Heiliger Abend, und hier wird nicht geschossen.«»Wer ist drin?«, fragte der Unteroffizier barsch, »Amerikaner?»Mutter sah jedem einzelnen in das frosterstarrte Gesicht »Hört mal«, sagte sie langsam. »Ihr könntet meine Söhne sein, und die da drin auch. Einer von ihnen ist verwundet und ringt um sein Leben. Und seine beiden Kameraden: verirrt und hungrig und müde wie Ihr. In dieser Nacht«, sie sprach jetzt zu dem Unteroffizier und hob die Stimme, »in dieser Heiligen Nacht denken wir nicht an Töten!«Der Unteroffizier starrte sie an. Für zwei, drei endlose Sekunden herrschte Schweigen. Dann machte Mutter der Ungewissheit ein Ende. »Genug geredet!« sagte sie und klatschte in die Hände. »Legen Sie Ihre Waffen da auf das Holz –und machen Sie schnell, sonst essen die anderen alles auf.«Die vier Soldaten legten wie benommen ihre Waffen auf die Kiste mit Feuerholz im Gang: zwei Pistolen, drei Karabiner, ein leichtes MG und zwei Panzerfäuste. Mutter sprach indessen hastig mit Jim auf Französisch. Er sagte etwas auf Englisch, und ich sah verwundert, wie auch die Amerikaner Mutter ihre Waffen gaben.Als nun die Deutschen und die Amerikaner Schulter an Schulter verlegen in der kleinen Stube standen, war Mutter in ihrem Element. Lächelnd suchte sie für jeden einen Sitzplatz. Wir hatten nur drei Stühle, aber Mutters Bett war groß. Dorthin setzte sie zwei der später Gekommenen neben Jim und Robin.Dann machte siesich, ohne von der gespannten Atmosphäre Notiz zu nehmen, wieder ans Kochen. Aber Hermann wurde ja nun nicht mehr größer, und wir hatten vier Esser mehr. »Rasch«, flüsterte sie mir zu, »hole noch ein paar Kartoffeln und etwas Haferflocken. Die Jungen haben Hunger, und wenn einem der Magen knurrt, ist man reizbar.«Während ich die Vorratskammer plünderte, hörte ich Harry stöhnen. Als ich zurückkam, hatte einer der Deutschen eine Brille aufgesetzt und beugte sich über die Wunde des Amerikaners. »Sind Sie Sanitäter?« fragte Mutter. »Nein«, erwiderte er, »aber ich habe bis vor wenigen Monaten in Heidelberg Medizin studiert.« Dann erklärte er den Amerikanern in, wie mir schien, recht fließendem Englisch, Harrys Wunde sei Dankder Kälte nicht infiziert. »Er hat nur sehr viel Blut verloren«, sagte er zu Mutter. »Er braucht jetzt einfach Ruhe und kräftiges Essen.«Der Druck begann zu weichen. Selbst mir kamen die Soldaten, als sie so nebeneinander saßen, alle noch sehr jung vor. Heinz und Willi, beide aus Köln, waren sechzehn. Der Unteroffizier war mit seinen Dreiundzwanzig der älteste. Er brachte aus seinem Brotbeutel eine Flasche Rotwein zum Vorschein, und Heinz fand einen Laib Schwarzbrot, den Mutter in Scheiben schnitt. Sie sollten zum Essen auf den Tisch kommen.Von dem Wein aber stellte sie einen Rest beiseite. »Für den Verwundeten.«Dann sprach Mutter das Tischgebet. Ich sah, dasssie Tränen in den Augen hatte, als sie die vertrauten Worte sprach: »Komm, Herr Jesus, sei unser Gast ...« Und als ich mich in der Tischrunde umsah, waren auch die Augen der kriegsmüden Soldaten feucht. Sie waren wieder Buben, die einen aus Amerika, die anderen aus Deutschland, alle fern von zu Haus.Gegen Mitternacht ging Mutter zur Tür und forderte uns auf, mitzukommen und den Stern von Bethlehem anzusehen. Bis auf Harry, der friedlich schlief, standen wir alle neben ihr, und für jeden war in diesem Augenblick der Stille und im Anblick des Sirius, des hellsten Sterns am Himmel, der Krieg sehr fern und fast vergessen.Unser privater Waffenstillstand hielt auch am nächsten Morgen an. Harry erwachte, verschlafen brummelnd, in den letzten Nachtstunden, und Mutter flößte ihm etwas Brühe ein. Bei Tagesanbruch war er dann sichtlich kräftiger. Mutter quirlte ihm aus unserem einzigen Ei, dem Rest Rotwein und etwas Zucker einen stärkenden Trunk. Wir anderen aßen Haferflocken. Dann wurde aus zwei Stöcken und Mutters bestem Tischtuch eine Tragbahre für Harry gemacht.Der Unteroffizier zeigte den Amerikanern, über Jims Karte gebeugt, wie sie zu ihrer Truppe zurückfinden konnten. In diesem Stadium des Bewegungskrieges erwiesen sich die Deutschen als überraschend gut informiert. Er legte den Finger auf einen Bach.»Da geht Ihr lang«, sagte er. »Am Oberlauf trefft Ihr auf die 1. Armee, die sich dort neuformiert.« Der Mediziner übersetzte alles ins Englische.»Weshalb nicht nach Monschau?« fragte Jim. »Um Himmels willen, nein!« rief der Unteroffizier. »Monschau haben wir wieder genommen.«Mutter gab nun allen ihre Waffen zurück. »Seid vorsichtig, Jungens«, sagte sie. »Ich wünsche mir, dassIhr eines Tages dahin, zurückkehrt, wo Ihr hingehört, nach Hause. Gott beschütze euch alle!« Die Deutschen und die Amerikaner gaben einander die Hand, und wir sahen ihnen nach, bis sie in entgegengesetzter Richtung verschwunden waren.Als ich wieder ins Haus trat, hatte Mutter die alte Familienbibel hervorgeholt. Ich sah ihr über die Schulter. Das Buch war bei der Weihnachtsgeschichte aufgeschlagen, bei dem Bericht von der Geburt in der Krippe und den drei Weisen, die vonweither kamen, um ihre Geschenke darzubringen. Ihr Finger glitt über die Zeile: »... und sie zogen über einen anderen Weg wieder in ihr Land.«


*
P.S.: Ich erinnere an die Geschichte aus dem Hürtgenwald, die Sie 1985 erwähnten, ohne Sie abzudrucken: Es ist eine meiner Lieblingsgeschichten, die ich oft in der Schule vorlas zur Weihnachtszeit:

https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13513702.htm

 

longtime
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RE: Weihnachts - Geschichten
geschrieben von longtime
als Antwort auf longtime vom 09.12.2019, 13:34:25
Körner_IMG_20191209_123059.jpg
Ein ganz andere Geschichte, schon ein Roman:, ob für Jugendliche oder dem Opa:

Miriam Körner: Eine junge Frau reist um die Welt, kommt nach Kanada, erlebt dort die Cree-Indigens. Und lernt das Geheimnis von Winterhunden kennen: Sie nennt sie Winter Dogs – und schreibt ein schönes und intensives Buch über einen Jungen Jeremy, der sich ein Musher werden will – und sich der streunenden Hunde erbarmt.

Miriam Körner:
Winter Dogs. Oetinger Verlag:

Ich lese und machen mir ein Verzeichnis der seltsamen Vokabeln, auch aus der Cree-Sprache der indigenen Völker in Kanada. Es wird eine stattliche Liste , weil ich den Roman einem Jugendlichen schenken will ..
Da nimm ich mir die Oetinger-Seite im Intenet vor - und bin überrascht:
War im Buch verschwiegen wird (vielleicht in einer nächsten Auflage nachgedruckt?) - da stosse ich auf ein Interview - mit einem Glossar. -
Alles klar!


https://www.oetinger.de/buch/winter-dogs/9783841505859

Hier ist es das Interviw und das Glossar bei Oetinger:
https://www.oetinger.de/sites/default/files/download/M.Ko%CC%88rner_Winter_Dogs_Interview_Glossar.pdf

 
CharlotteSusanne
CharlotteSusanne
Mitglied

RE: Weihnachts - Geschichten
geschrieben von CharlotteSusanne
als Antwort auf longtime vom 09.12.2019, 13:34:25

Danke, lieber longtime, für diese wundersame menschliche Geschichte von der
Weihnachtszeit 1944 im Krieg.
C.S.


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longtime
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RE: Weihnachts - Geschichten
geschrieben von longtime
als Antwort auf longtime vom 09.12.2019, 13:34:25

Die Story im SPIEGEL hier (jetzt müsste es klappen):

https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13513702.htm


 

Karl
Karl
Administrator

RE: Weihnachts - Geschichten
geschrieben von Karl
als Antwort auf longtime vom 09.12.2019, 14:53:37

Lieber @longtime,

auch dieser Link führt zu der Startseite von Spiegel-Online. Abere hier kann man sich Deine Geschichte vorlesen lassen:

https://www.deutschelyrik.de/huertgenwald.html


Ich danke Dir sehr für diese Geschichte!

Karl
 

longtime
longtime
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RE: Weihnachts - Geschichten
geschrieben von longtime
als Antwort auf Karl vom 09.12.2019, 15:05:56
Weihnachtsmarkt.jpg*
Weihnachtsmarkrt am Niederrhein in Goch


Hugo Hartung:
Eine ganz belanglose Geschichte

Der Polizeibericht bestand nur aus wenigen Zeilen und war völlig uninteressant: „Der vermißte und von der Polizei gesuchte fünfjährige Dieter G. konnte wohlbehalten in einem Gehöft, zwölf Kilometer von der Stadt entfernt, gefunden werden. Unverständlicherweise machte die Frau, die das verirrte Kind aufgenommen hatte, den Behörden erst nach drei Tagen Meldung.“
Eine Zeitung hatte den Bericht tadelnd überschrieben: „Sträfliches Verhalten bei Kindesauffindung“. Im Übrigen schien die Angelegenheit zu belanglos, als daß ihretwegen Reporter bemüht oder Photos in die Zeitung aufgenommen wurden. Dennoch möchte ich von ihr erzählen, weil ich meine, daß sie mit dem Polizeibericht noch nicht zu Ende ist.
Dieter stand an einem Dezemberabend im dunklen Zimmer der Parterrewohnung seiner Mutter und sah den milchigen Dunst über den hohen Mietshäusern in einem ungewohnten und unwahrscheinlich durchdringenden Violett leuchten. Er wollte wissen, woher dieses sonderbare Licht käme. Die Wohnung war verschlossen, weil die Mutter von der Fabrik weg gleich ins Kino gegangen war. Sie würde es nicht merken, wenn ihr Junge durch das niedrige Küchenfenster in den Hof hinabstiege und später auf demselben Wege zurückkehrte.
Niemand achtete in den belebten Straßen der großen Stadt auf ein kleines Bürschchen, das an diesem kalten Abend ohne Mantel war und zu einem Dach hinaufstarrte, darauf hohe Neonröhren violette Buchstaben an den diesigen Nachthimmel schrieben. Dieter, der nun wußte, woher der neue Glanz aus der Höhe stammte, ging dennoch wie gebannt weiter. Je mehr er sich der Stadtmitte näherte, um so wunderbarere Dinge sah er. Funkelnde Lichterketten spannten sich über die Straßen, die Fassaden von Kaufhäusern waren übersät mit riesigen leuchtenden Silbersternen. Goldene Engel flogen in Schaufenstern über starr lächelnde Modepuppen, in anderen Fenstern rasten Spieleisenbahnen über Brücken und durch Tunnels.
Menschen, die bunte Pakete mit silbernen und goldenen Schnüren trugen, stießen den kleinen, blassen Jungen an. Autotüren knallten. Die Luft war voll Benzingeruch, und aller Lärm der lauten Straße wurde überdröhnt von einem Lautsprecher. Knabenstim­men, ins Riesenhafte verzerrt, brüllten „Stille Nacht, heilige Nacht«.
Dieter ging durch die laute, unheilige Nacht des frühen De­zembers und wußte nicht mehr, wohin er ginge. Er kam durch fremde Vorstadtstraßen; denn dort im Industrierevier wuchsen die Städte immer mehr zu einem gigantischen Stadtmoloch' zusammen. Der Moloch spielte auf der Gemütsharfe. „Weihnachts-Vorfreude“ nannte er seine Melodie. Reklame und Weihnachtsgeschäft hieß sie in Wirklichkeit.
Als die Frau das erschöpfte Kind vor dem Zaun ihres Anwesens fand, geschah es, weil ihre Hunde sie geweckt hatten. Es waren mächtige Tiere, Neufundländer, aber ihr drohendes Gebell er­schreckte den halb ohnmächtigen Knaben in den Armen ihrer Herrin nicht.
Aus der Erschöpfung sank Dieter in einen tiefen Schlaf, aus dem er erst am nächsten Mittag erwachte. Er nannte der Frau seinen Namen - Dieter Groß -, aber er wußte den der Stadt und ihrer Straße nicht. Er wußte vieles nicht. Wie sein Vater hieß und ob er noch lebte. Warum das Weihnachtsfest gefeiert würde, das jetzt schon soviel Licht, Glanz und Lärm über die Straßen brachte. Er fragte auch nicht danach. Doch fragte er die Frau, warum sie so riesengroße Hunde besäße. Sie habe eine Hundezucht, sagte sie, seit sie auf der Flucht in dieses Land gekommen sei. Das Kind wußte auch nicht, was Flucht ist.
Die Frau erklärte es dem kleinen Jungen und sagte ihm, warum die Menschen Weihnachten feiern. Sie fragte ihn, ob er denn nicht die Geschichte von der Heiligen Nacht in Bethlehem kenne. Er sagte, ihm gehöre nur ein Geschichtenbuch und zog ein zerfledertes Heftchen aus der Hosentasche, darin riesige Muskelmänner mit dünnen Köpfen aufeinander einhieben, und aus den Mündern stie­gen ihnen Seifenblasen, in denen Wortfetzen standen. Die Frau zerriß das Heftchen und warf es in den Ofen.
Sie benahm sich überhaupt merkwürdig und sogar „sträflich“, wie nachher die Zeitung in ihrer Überschrift schrieb. Sie benach­richtigte die Polizei nicht von dem aufgefundenen Kind. Sie beherbergte es drei Tage bei sich, erzählte ihm von vielen merkwürdigen Dingen und Begebenheiten und zog ihm einen Mantel über, der ihm beinahe paßte und der herrlich warm war. Ihr Peter sei zwar ein Jahr jünger gewesen, aber damals schon sehr viel grö­ßer, als er auf dem Treck' aus Schlesien in einer Januarnacht erfroren sei. Dieter lachte, weil er das Wort „Treck“ komisch fand.
Schon am zweiten Tage war Dieter mit den Hunderiesen gut Freund. In der Nacht nahm ihn die Frau mit vors Haus. Draußen war eine sonderbare Luft - leicht zu atmen und ganz ohne Geruch - und eine Stille, wie das Kind sie nie kennengelernt hatte.
Nur ein fernes Summen hörte man noch von den Städten, über denen am Horizont ein gleißender Lichtstreifen lag. Und über ihnen und über den Feldern am Rande des Industriereviers standen viele Sterne.
Der Junge sagte zu der Frau, in den Straßen seien die Sterne viel heller und viel größer; und er lachte sie aus, als sie ihm weismachen wollte, diese winzigen Lichtpünktchen da droben seien millionenmal heller und millionenmal größer als alle Reklamesterne der Großstädte zusammengenommen. Aber als sie die Sterne zu Bildern werden ließ, die sie ihm am Himmel zeigte, und als sie von einem besonders hellen Stern sprach, der in einem fremden
Palmenlande über einem Stall mit einem neugeborenen Kind in einer Pferdekrippe, inmitten von Ochs und Esel, von Hirten und Königen gestanden habe, sagte er, das sei doch eine ganz hübsche Geschichte. Ob sie noch mehr davon wüßte.
Vielleicht lag es an diesen Geschichten, daß die Frau von der „Kindesauffindung“, wie das die Zeitung nannte, der Polizei so spät Mitteilung machte. Als Frau Groß ihren Dieter abholen kam, freute er sich nicht einmal besonders darüber. Doch die Mutter nahm ihm das nicht weiter übel. Ja, sie zeigte sich großzügig, als die Gastgeberin ihres Jungen sie bat, er möge die Weihnachtstage bei ihr verbringen. An den Feiertagen gab es in den Kinos groß­artige Programme, und sie würde dann sowieso nicht wissen, was sie mit dem Kind anfangen sollte. Als sie fortgingen, streichelte Dieter zum Abschied die großen Hunde.
Das ist die belanglose Angelegenheit, die ein Polizeibericht in fünf Zeilen zusammenfaßte. Aber man wird mich jetzt vielleicht verstehen, wenn ich sage, sie dürfte mit jenen drei Adventstagen nicht zu Ende gewesen sein.

*
Anmerkungen brauche ich nicht anzufügen; es ist allerdings frappant, dass ein Treck erwähnt wird.
Es sind beachtlich, dass ein Kind von den leuchtenden Lichtern in der Stadt von der Nachkriegszeit angelockt wird, das Haus zu verlassen.

*
Zum Autor:
Hugo H a r t u n g (1902 - 1972) ist fast völlig ins literarische Abseits gerutscht.
Er schrieb ansprechende, intelligente Unterhaltung; erhielt 1936 Schreibverbot; sein größter Erfolg war der Roman "Ich denke oft an Piroschka" (1954). Sein wichtigstes Buch wurde - auch wegen der großartigen Verfilmung - "Wir Wunderkinder" (1957).
*

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longtime
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RE: Weihnachts - Geschichten
geschrieben von longtime
als Antwort auf longtime vom 11.12.2019, 12:08:39
„Stille Nacht, heilige Nacht“ ... in einem Konzentrationslager (1933) Oder: Und jetzt, als ob Feuer vom Himmel fiel’

...  von Wolfgang  L a n g h o f f.
longtime
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RE: Weihnachts - Geschichten
geschrieben von longtime
als Antwort auf longtime vom 11.12.2019, 14:40:05
Vegesack.jpg
Vegesacks "Kasten") In: Regen - Weissenstein (Winter 2010)
*

Siegfried von Vegesack
Einsame Weihnacht (in Berlin; vor 1914)

Es war vor dem Ersten Weltkrieg. Ich studierte in Berlin, die Ferien waren zu kurz und die Reise in meine baltische Heimat zu weit, so konnte ich zum ersten Mal zu Weihnachten nicht nach Hause fahren. Das kam mir aufregend, fast heroisch vor: ich fühlte mich wie ein Mann, der einem verwegenen Abenteuer entgegengeht. Mit selbstquälerischer Grausamkeit beschloß ich alle Torturen dieses Abenteuers auszukosten, keine Bekannten, die mich freundlich eingeladen hatten, aufzusuchen und ganz allein den Weihnachtsabend zu verbringen.

Ich bummelte durch die Straßen, blieb vor den Schaufenstern stehen und zwang mich, den Christbaumschmuck eingehend zu betrachten. ja, genau solche funkelnde bunte Kugeln hingen zu Hause an unserem Baum, solche Ketten und Silberfäden, die wir »Christkindleins Haar« nannten. Aber die richtigen Sterne konnte ich nirgends finden. Um meine Qual zu erhöhen, betrat ich sogar die Geschäfte und erkundigte mich nach den zackigen Sternen. Aber die, die man mir vorlegte, waren viel zu blank. Das Fräulein packte verzweifelt ganze Berge von Kästchen aus, versicherte, daß es schönere Sterne gar nicht geben kann, aber ich ließ mich nicht täuschen: es waren doch nicht die richtigen.
Dann kam ich an den Verkaufsständen der Weihnachtsbäume vorbei. Als ich den herben Geruch der Tannennadeln spürte, wurde mir ein wenig flau. Schnell wollte ich weitergehen, aber ich zwang mich, stehen zu bleiben und die Bäumchen aufmerk­sam zu betrachten, als wollte ich eines kaufen. Doch keins gefiel mir. Sie sahen dürr und mager aus, als wären sie gar nicht in einem Walde gewachsen. Die Verkäuferin zog mich von einem Tännchen zum anderen.
Aber selbst geschenkt hätte ich keines genommen: Weihnachten ohne Christbaum - das war ja die große Sensation, die ich mit allen Qualen genießen wollte.
Eine Orgel brummte, ich betrat eine kleine Kirche am Wilhelmplatz. Alle Bänke waren besetzt, ich blieb am Eingang stehen. Lange starrte ich auf die beiden Weihnachtsbäume, die neben dem Altar brannten, und kniff mich in die Finger. Als dann aber »O du fröhliche ... « angestimmt wurde, fühlte ich plötz­lich, wie etwas Heißes in mir aufstieg, die Lichter fingen merkwürdig an zu flimmern, und ich rannte hinaus.
Dann saß ich in einem Café, das trostlos ausgestorben war, obgleich ein Plakat »stimmungsvolle Weihnachtsfeier« ankündigte. Die Leere war bedrückend. Der Kellner versicherte mir, das Fest werde um acht Uhr beginnen. Aber vor dieser stimmungsvollen Feier hatte ich eine noch größere Angst. Ich zahlte und ging. Auf dem Bahnhof Friedrichstraße bestieg ich den Zug, um nach Charlottenburg zu fahren, wo ich wohnte. Ein älterer Herr saß im Abteil mir gegenüber und las in einem Buch. Nach einiger Zeit klappte er das Buch zu und legte es bei Seite. Wir kamen ins Gespräch.
»Ja, heute ist Weihnachten«, meinte er nachdenklich, »der unangenehmste Abend im ganzen Jahr, wenn man allein ist! Sie fahren wohl zu Ihren Eltern, Geschwistern, Freunden oder Bekannten, aber ich fahre, - ja, wie soll ich Ihnen das erklären. Ich fahre einfach so spazieren, in der Ringbahn, immer um die Stadt herum! Das mache ich immer am Heiligen Abend. Denn ich habe niemand, zu dem ich fahren könnte, und in meinen vier Winden halte ich es nicht aus. In den Lokalen erst recht nicht. Ich sage Ihnen, junger Mann, für den Fall, daß Sie einmal ganz allein zu Weihnachten sein sollten - in der Eisenbahn ist es am leichtesten. Man ist allein und doch nicht ganz allein. Menschen steigen ein und aus, immer neue Gesichter. Und die Hauptsache - man bewegt sich, man kann sich doch einbilden, daß man irgendwohin fährt, daß man irgendwo erwartet wird ...“
Wir waren längst über Charlottenburg hinausgefahren, als der alte Mann sich erhob: jetzt müsse er wieder umsteigen. Und da ich wirklich zurückfahren mußte, stieg ich mit ihm in den nächsten Gegenzug. Noch lange fuhren wir an diesem Weihnachtsabend rund um Berlin spazieren, wechselten bald hier - bald dort die Züge und fanden fast überall leere Abteile. Es war, als liefen die Züge nur für uns. Und der alte Herr erzählte, und ich erzählte, und bald kam es mir so vor, als hätten wir uns schon lange gekannt.
»Wissen Sie, junger Mann«, fuhr der alte Herr fort und beugte sich ein wenig vor, »was das Schlimmste ist, wenn man zu Weihnachten allein sein muß? Das ist nicht etwa, daß niemand an einen denkt, daß man keine Geschenke bekommt. Nein, viel schlimmer ist: daß man niemandem etwas geben kann, daß man alles für sich behalten muß! Wohltätige Stiftungen, Samm­lungen und dergleichen sind nur ein trauriger Ersatz: man weiß ja nie, wohin die Gelder gehen, ob und wer seine Freude daran hat. Das ist es eben; man will die Freude des anderen sehen oder wenigstens ahnen - wer aber wirklich allein ist, der ist von dieser Mitfreude ausgeschlossen ... Aber auch dafür habe ich mir ein kleines Mittel ausgedacht, ein Mittel, das mich etwas tröstet!«
Bei diesen Worten zog der alte Mann einen Briefumschlag aus der Tasche. »Sehen Sie, junger Mann«, fuhr er geheimnisvoll fort: »Hier habe ich das Mittel aufgeschrieben, und ich bitte Sie um die Freundlichkeit, es aufmerksam zu lesen, denn ich muß jetzt aussteigen, ich bin nun schon zwei Stunden gefahren, bin müde und muß ins Bett. Ich danke Ihnen für Ihre freundliche Gesellschaft, vielleicht treffen wir uns am nächsten Heiligen Abend - wenn ich dann noch lebe ... «
Der Zug hielt. Der alte Mann drückte mir die Hand, stieg aus, winkte mir noch zu und verschwand rasch im Dunkel. Während der Zug sich wieder in Bewegung setzte, öffnete ich neugierig den Briefumschlag: er enthielt nichts als einen Hundertmarkschein, kein Wort, keine Adresse. - Beschämt saß ich da: ich war auf meine einsame Weihnacht so stolz gewesen, aber ich hatte doch ein Zuhause, ich konnte doch an jemand denken. Vor dem grausamen Alleinsein dieses alten Mannes verblaßte meine vorübergehende Einsamkeit zu einem harmlosen Abenteuer.
(Aus: SvV.: Erzählungen. ©-Nachfolger unbekannt)


 
longtime
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RE: Weihnachts - Geschichten
geschrieben von longtime
als Antwort auf longtime vom 11.12.2019, 14:51:28
Gaesdonck-Kreuzgang.jpg
Gaesdonck (im Kreuzgang)

Damals - als Gaesdoncker - las ich die Schnurre-Geschichte erstmals:


Wolfdietrich Schnurre:
DIE LEIHGABE

An meisten hat Vater sich jedesmal zu Weihnach­ten Mühe gegeben. Da fiel es uns allerdings auch besonders schwer, drüber weg zu kommen, daß wir arbeitslos waren. Andere Feiertage, die beging man oder man beging sie nicht; aber auf Weihnachten lebte man zu, und war es erst da, dann hielt man es fest; und die Schaufenster, die brachten es ja oft noch nicht mal im Januar fertig, sich von ihren Schokola­denweihnachtsmännern zu trennen.
Mir hatten es vor allem immer die Zwerge und Kas­perles angetan. War Vater dabei, sah ich weg; aber das fiel meist mehr auf, als wenn man hingesehen hätte; und so fing ich dann allmählich doch wieder an, in die Läden zu kucken.
Vater war auch nicht gerade unempfindlich gegen die Schaufensterauslagen, er konnte sich nur besser be­herrschen. Weihnachten, sagte er, wäre das Fest der Freude; das Entscheidende wäre jetzt nämlich: nicht traurig zu sein, auch dann nicht, wenn man kein Geld hätte.
»Die meisten Leute«, sagte Vater, »sind bloß am er­sten und zweiten Feiertag fröhlich und vielleicht nachher zu Sylvester noch mal. Das genügt aber nicht; man muß mindestens schon einen Monat vor­her mit Fröhlichsein anfangen. Zu Sylvester«, sagte Vater, »da kannst du dann getrost wieder traurig sein; denn es ist nie schön, wenn ein Jahr einfach so weg­geht. Nur jetzt, so vor Weihnachten, da ist es unan­gebracht, traurig zu sein.«
Vater selber gab sich auch immer große Mühe, nicht traurig zu sein um diese Zeit; doch er hatte es aus ir­gendeinem Grund da schwerer als ich; wahrschein­lich deshalb, weil er keinen Vater mehr hatte, der ihm dasselbe sagen konnte, was er mir immer sagte.
Es wäre bestimmt auch alles leichter gewesen, hätte Vater noch seine Stelle gehabt. Er hätte jetzt sogar wieder als Hilfspräparator gearbeitet; aber sie brauch­ten keine Hilfspräparatoren im Augenblick. Der Di­rektor hatte gesagt, aufhalten im Museum könnte Vater sich gern, aber mit Arbeit müßte er warten, bis bessere Zeiten kämen.
»Und wann, meinen Sie, ist das?« hatte Vater gefragt. »Ich möchte Ihnen nicht weh tun«, hatte der Direk­tor gesagt.
Frieda hatte mehr Glück gehabt; sie war in einer Großdestille am Alexanderplatz als Küchenhilfe ein­gestellt worden und war dort auch gleich in Logis. Uns war es ganz angenehm, nicht dauernd mit ihr zusammenzusein; sie war jetzt, wo wir uns nur mit­tags und abends mal sahen, viel netter.
Aber im Grunde lebten auch wir nicht schlecht. Denn Frieda versorgte uns reichlich mit Essen, und war es zu Hause zu kalt, dann gingen wir ins Muse­um rüber; und wenn wir uns alles angesehen hatten, lehnten wir uns unter dem Dinosauriergerippe an die Heizung, sahen aus dem Fenster oder fingen mit dem Museumswärter ein Gespräch über Kaninchenzucht an.
An sich war das Jahr also durchaus dazu angetan, in Ruhe und Beschaulichkeit zu Ende gebracht zu wer­den. Wenn Vater sich nur nicht solche Sorge um ei­nen Weihnachtsbaum gemacht hätte.
Es kam ganz plötzlich.
Wir hatten eben Frieda aus der Destille abgeholt und sie nach Hause gebracht und uns hingelegt, da klapp­te Vater den Band »Brehms Tierleben« zu, in dem er abends immer noch las, und fragte zu mir rüber:
»Schläfst du schon?«
»Nein«,sagte ich, denn es war zu kalt zum Schlafen. »Mir fällt eben ein«, sagte Vater, »wir brauchen ja einen Weihnachtsbaum.« Er machte eine Pause und wartete meine Antwort ab.
»Findest du?« sagte ich.
»Ja«, sagte Vater, »und zwar so einen richtigen, schö­nen; nicht so einen murkligen, der schon umkippt, wenn man bloß mal eine Walnuß dranhängt.«
Bei dem Wort Walnuß richtete ich mich auf. Ob man nicht vielleicht auch ein paar Lebkuchen kriegen könnte zum Dranhängen?
Vater räusperte sich. »Gott  «, sagte er, »warum nicht; mal mit Frieda reden.«
»Vielleicht«, sagte ich, »kennt Frieda auch gleich je­mand, der uns einen Baum schenkt.«
Vater bezweifelte das. Außerdem: so einen Baum, wie er ihn sich vorstellte, den verschenkte niemand, der wäre ein Reichtum, ein Schatz wäre der.
Ob er vielleicht eine Mark wert wäre, fragte ich.
»Eine Mark  ?!« Vater blies verächtlich die Luft durch die Nase. »Mindestens zwei.«
»Und wo gibt's ihn?«
»Siehst du«, sagte Vater, »das überleg ich auch ge­rade.«
»Aber wir können ihn doch gar nicht kaufen«, sagte ich; »zwei Mark: wo willst du die denn jetzt herneh­men?«
Vater hob die Petroleumlampe auf und sah sich im Zimmer um. Ich wußte, er überlegte, ob sich viel­leicht noch was ins Leihhaus bringen ließe; es war aber schon alles drin, sogar das Grammophon, bei dem ich so geheult hatte, als der Kerl hinter dem Git­ter mit ihm weggeschlurft war.
Vater stellte die Lampe wieder zurück und räusperte sich. »Schlaf mal erst; ich werde mir den Fall durch den Kopf gehen lassen.«
In der nächsten Zeit drückten wir uns bloß immer an den Weihnachtsbaumverkaufsständen herum. Baum auf Baum bekam Beine und lief weg; aber wir hatten noch immer keinen.
»Ob man nicht doch  ?« fragte ich am fünften Tag, als wir gerade wieder im Museum unter dem Dino­sauriergerippe an der Heizung lehnten.
»Ob man was?« fragte Vater scharf.
»Ich meine, ob man nicht doch versuchen sollte, ei­nen gewöhnlichen Baum zu kriegen?«
»Bist du verrückt?!« Vater war empört. »Vielleicht so einen Kohlstrunk, bei dem man nachher nicht weiß, soll es ein Handfeger oder eine Zahnbürste sein? Kommt gar nicht in Frage.«
Doch was half es; Weihnachten kam näher und näher. Anfangs waren die Christbaumwälder in den Stra­ßen noch aufgefüllt worden; aber allmählich lichte­ten sie sich, und eines Nachmittags waren wir Zeuge, wie der fetteste Christbaumverkäufer vom Alex, der Kraftriemen Jimmy, sein letztes Bäumchen, ein wah­res Streichholz von einem Baum, für drei Mark fünf­zig verkaufte, aufs Geld spuckte, sich aufs Rad schwang und wegfuhr.
Nun fingen wir doch an traurig zu werden. Nicht schlimm; aber immerhin, es genügte, daß Frieda die Brauen noch mehr zusammenzog, als sie es sonst schon zu tun pflegte, und daß sie uns fragte, was wir denn hätten.
Wir hatten uns zwar daran gewöhnt, unseren Kum­mer für uns zu behalten, doch diesmal machten wir eine Ausnahme, und Vater erzählte es ihr.
Frieda hörte aufmerksam zu. »Das ist alles?« Wir nickten.
»Ihr seid aber komisch«, sagte Frieda; »wieso geht ihr denn nicht einfach in den Grunewald einen klauen?« Ich habe Vater schon häufig empört gesehen, aber so empört wie an diesem Abend noch nie.
Er war kreidebleich geworden. »Ist das dein Ernst?« fragte er heiser.
Frieda war sehr erstaunt. »Logisch«, sagte sie; »das machen doch alle.«
»Alle  ! « echote Vater dumpf, »alle  ! « Er erhob sich steif und nahm mich bei der Hand. »Du gestattest wohl«, sagte er darauf zu Frieda, »daß ich erst den Jungen nach Hause bringe, ehe ich dir hierauf die ge­bührende Antwort erteile.«
Er hat sie ihr niemals erteilt. Frieda war vernünftig; sie tat so, als ginge sie auf Vaters Zimperlichkeit ein, und am nächsten Tag entschuldigte sie sich.
Doch was nützte das alles; einen Baum, gar einen Staatsbaum, wie Vater ihn sich vorstellte, hatten wir deshalb noch lange nicht.
Aber dann   es war der dreiundzwanzigste Dezem­ber, und wir hatten eben wieder unseren Stammplatz unter dem Dinosauriergerippe bezogen   hatte Vater die große Erleuchtung.
»Haben Sie einen Spaten?« fragte er den Museums­wärter, der neben uns auf seinem Klappstuhl einge­nickt war.
»Was?!« rief der und fuhr auf, »was habe ich?! «
»Einen Spaten, Mann«, sagte Vater ungeduldig; »ob Sie einen Spaten haben.«
ja, den hätte er schon.
Ich sah unsicher an Vater empor. Er sah jedoch leid­lich normal aus; nur sein Blick schien mir eine Spur unsteter zu sein als sonst.
»Gut«, sagte er jetzt; »wir kommen heute mit zu Ihnen nach Hause, und Sie borgen ihn uns.« Was er vorhatte, erfuhr ich erst in der Nacht. »Los«, sagte Vater und schüttelte mich, »steh auf.« Ich kroch schlaftrunken über das Bettgitter. »Was ist denn bloß los?«
»Paß auf«, sagte Vater und blieb vor mir stehen; »einen Baum stehlen, das ist gemein; aber sich einen borgen, das geht.«
»Borgen  ?« fragte ich blinzelnd.
»Ja«, sagte Vater. »Wir gehen jetzt in den Friedrichs­hain und graben eine Blautanne aus. Zu Hause stellen wir sie in die Wanne mit Wasser, feiern morgen dann Weihnachten mit ihr, und nachher pflanzen wir sie wieder am selben Platz ein. Na  ?« Er sah mich durchdringend an.
»Eine wunderbare Idee«, sagte ich.
Summend und pfeifend gingen wir los; Vater den Spaten auf dem Rücken, ich einen Sack unter dem Arm. Hin und wieder hörte Vater auf zu pfeifen, und wir sangen zweistimmig »Morgen, Kinder, wird's was geben« und »Vorn Himmel hoch, da komm ich her«. Wie immer bei solchen Liedern, hatte Vater Tränen in den Augen, und auch mir war schon ganz feierlich zumut.
Dann tauchte vor uns der Friedrichshain auf, und wir schwiegen.
Die Blautanne, auf die Vater es abgesehen hatte, stand inmitten eines strohgedeckten Rosenrondells. Sie war gut anderthalb Meter hoch und ein Muster an eben­mäßigem Wuchs.
Da der Boden nur dicht unter der Oberfläche gefro­ren war, dauerte es auch gar nicht lange, und Vater hatte die Wurzeln freigelegt. Behutsam kippten wir den Baum darauf um, schoben ihn mit den Wurzeln in den Sack, Vater hing seine Joppe über das Ende, das raussah, wir schippten das Loch zu, Stroh wurde drüber gestreut, Vater lud sich den Baum auf die Schulter, und wir gingen nach Hause.
Hier füllten wir die große Zinkwanne mit Wasser und stellten den Baum rein.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, waren Vater und Frieda schon dabei, ihn zu schmücken. Er war jetzt mit Hilfe einer Schnur an der Decke befestigt,
und Frieda hatte aus Stanniolpapier allerlei Sterne ge­schnitten, die sie an seinen Zweigen aufhängte; sie sahen sehr hübsch aus. Auch einige Lebkuchenmän­ner sah ich hängen.
Ich wollte den beiden den Spaß nicht verderben; da­her tat ich so, als schliefe ich noch. Dabei überlegte ich mir, wie ich mich für ihre Nettigkeit revanchieren könnte.
Schließlich fiel es mir ein: Vater hatte sich einen Weih­nachtsbaum geborgt, warum sollte ich es nicht fertig­bringen, mir über die Feiertage unser verpfändetes Grammophon auszuleihen? Ich tat also, als wachte ich eben erst auf, bejubelte vorschriftsmäßig den Baum, und dann zog ich mich an und ging los.
Der Pfandleiher war ein furchtbarer Mensch; schon als wir zum ersten Mal bei ihm gewesen waren, und Vater ihm seinen Mantel gegeben hatte, hätte ich dem Kerl sonst was zufügen mögen; aber jetzt mußte man freundlich zu ihm sein.
Ich gab mir auch große Mühe. Ich erzählte ihm was von zwei Großmüttern und »gerade zu Weihnachten« und »letzter Freude auf alte Tage« und so, und plötz­lich holte der Pfandleiher aus und haute mir eine her­unter und sagte ganz ruhig:
»Wie oft du sonst schwindelst, ist mir egal; aber zu Weihnachten wird die Wahrheit gesagt, verstanden?« Darauf schlurfte er in den Nebenraum und brachte das Grammophon an. »Aber wehe, ihr macht was an ihm kaputt! Und nur für drei Tage! Und auch bloß, weil du's bist!«
Ich machte einen Diener, daß ich mir fast die Stirn an der Kniescheibe stieß; dann nahm ich den Kasten unter den einen, den Trichter unter den anderen Arm und rannte nach Hause.
Ich versteckte beides erst mal in der Waschküche. Frieda allerdings mußte ich einweihen, denn die hatte die Platten; aber Frieda hielt dicht.
Mittags hatte uns Friedas Chef, der Destillenwirt, eingeladen. Es gab eine tadellose Nudelsuppe, an­schließend Kartoffelbrei mit Gänseklein. Wir aßen, bis wir uns kaum noch erkannten; darauf gingen wir, um Kohlen zu sparen, noch ein bißchen ins Museum zum Dinosauriergerippe; und am Nachmittag kam Frieda und holte uns ab.
Zu Hause wurde geheizt. Dann packte Frieda eine Riesenschüssel voll übriggebliebenem Gänseklein, drei Flaschen Rotwein und einen Quadratmeter Bie­nenstich aus, Vater legte für mich seinen Band »Brehms Tierleben« auf den Tisch, und im nächsten unbewachten Augenblick lief ich in die Waschküche runter, holte das Grammophon rauf und sagte Vater, er sollte sich umdrehen.
Er gehorchte auch; Frieda legte die Platten raus und steckte die Lichter an, und ich machte den Trichter fest und zog das Grammophon auf.
»Kann ich mich umdrehen?« fragte Vater, der es nicht mehr aushielt, als Frieda das Licht ausgeknipst hatte. »Moment«, sagte ich; »dieser verdammte Trichter, denkst du, ich krieg das Ding fest?«
Frieda hüstelte.
»Was denn für ein Trichter?« fragte Vater.
Aber da ging es schon los. Es war »Ihr Kinderlein, kommet«; es knarrte zwar etwas, und die Platte hatte wohl auch einen Sprung, aber das machte nichts.
Frieda und ich sangen mit, und da drehte Vater sich um. Er schluckte erst und zupfte sich an der Nase, aber dann räusperte er sich und sang auch mit.
Als die Platte zu Ende war, schüttelten wir uns die Hände, und ich erzählte Vater, wie ich das mit dem Grammophon gemacht hätte.
Er war begeistert. »Na  ?« sagte er nur immer wieder zu Frieda und nickte dabei zu mir rüber; »na  ?«
Es wurde ein sehr schöner Weihnachtsabend. Erst sangen und spielten wir die Platten durch; dann spiel­ten wir sie noch mal ohne Gesang; dann sang Frieda noch mal alle Platten allein; dann sang sie mit Vater noch mal, und dann aßen wir und tranken den Wein aus, und darauf machten wir noch ein bißchen Mu­sik; und dann brachten wir Frieda nach Hause und legten uns auch hin.
Am nächsten Morgen blieb der Baum noch aufge­putzt stehen. Ich durfte liegenbleiben, und Vater machte den ganzen Tag Grammophonmusik und pfiff zweite Stimme dazu.
Dann, in der folgenden Nacht, nahmen wir den Baum aus der Wanne, steckten ihn, noch mit den Stanniol­papiersternen geschmückt, in den Sack und brachten ihn zurück in den Friedrichshain.
Hier pflanzten wir ihn wieder in sein Rosenrondell. Darauf traten wir die Erde fest und gingen nach Hause. Am Morgen brachte ich dann auch das Gram­mophon weg.
Den Baum haben wir noch häufig besucht; er ist wie­der angewachsen. Die Stanniolpapiersterne hingen noch eine ganze Welle in seinen Zweigen, einige so­gar bis in den Frühling.
Vor ein paar Monaten habe ich mir den Baum wieder mal angesehen. Er ist jetzt gute zwei Stock hoch und hat den Umfang eines mittleren Fabrikschornsteins. Es mutet merkwürdig an, sich vorzustellen, daß wir ihn mal zu Gast in unserer Wohnküche hatten.
*
(Aus: Als Vaters Bart noch rot war. Ein Roman in Geschichten. Berlin Verlag 1958. S. 80 - 90)

 
longtime
longtime
Mitglied

RE: Weihnachts - Geschichten
geschrieben von longtime
als Antwort auf longtime vom 11.12.2019, 14:58:02
Im-Ohrensessel.jpg
Im Ohrensessel (wenn die Erinnerung sehr weit zurückgeht)
*

Das will ich noch verraten: Wie lautet mein Lieblings-Aphorismus aus seinem Buch "Schattenfotografen"?
"Die Kinder tragen die Welt; die Erwachsenen bloß ihre Bürde."
Noch einmal - vor dem Stichdatum 6. Dezember - sei am Niederrhein verblieben, bevor es zu anderen, fernen Taten aufgeht, nach Myra (alles zu Ehren und in Erinnerung an eine Figur, den Charakter des Bischofs und Seefahrers, gestorben um 345) - oder auch nach St. Petersburg, dieses Heiligen willen, ich versprech's...

Joseph Lauff
Knecht Ruprecht am Niederrhein


Wenn's wohlig knackt im Winterfeuer,
Der Spatz am Giebelfenster friert,
Und sich schon längst in Hof und Scheuer
Die Feldmaus sorglich einquartiert,
Dann ist mit einer frommen Schar,
Mit Kasper, Melcher, Balthasar,
Zu aller Nutz und Frommen
Knecht Ruprecht auch gekommen.

Im Flutterschnee, im Windsgesäuse
Schlägt er die Fichten, groß und klein;
Es sammeln ihm die Zieselmäuse
Die braunen Haselnüsse ein.
Und wie dereinst die fromme Schar,
Wie Kasper, Melcher, Balthasar,
Bedenkt er auch nicht minder
Die guten Menschenkinder.

Wo nachts die Sterne sich entfachen,
Wo's niemals friert und niemals schneit,
Da nesteln mir die Siebensachen
Die Englein für die Weihnachtszeit.
Zwar schenk ich nicht so reich und rar
Wie Kasper, Melcher, Balthasar,
Doch kann ich allzeit dienen
Mit Mandeln und Rosinen.

Auch Ochs und Eselchen, die beiden,
Sind holzgeschnitzt im Rucksack da,
Wie ich sie auf den fetten Weiden
Bei Bethlehem dereinstens sah.
Ich sah sie wie die fromme Schar,
Wie Kasper, Melcher, Balthasar  
Und streue allerwegen
Jetzt meinen Weihnachtssegen.

Anmerkung: Sprachlich...: "Flutterschnee"? Ist das ein Druckfehler, für "Flitterschnee"...?
*
Joseph von Lauff...? Geboren in Köln am 16.11.1855; gestorben am 22.8.1933: ein niederrheinischer Heimatdichter; geboren in Kalkar, im dortigen Museum kann man noch Inventar und Büchern von ihm begutachten; jede Region braucht solche Autoren, Heimatdichter. Man kann seine Bücher von Krefeld bis Kleve in Antiquariaten finden, zu volkstümlichen Preisen. Sein Ruhm reichte seiner Zeit bis Berlin; der Kaiser im fernen Berlin fühlte sich in seinem trivialen Kunstbedürfnis verstanden, soweit er es verstehen konnte und adelte den Herrn Lauff. Heute ist er vergessen. Neben seinen bedeutungslosen geschichtlichen Romanen schrieb er behäbige, behagliche Schilderungen Lebens im Rheinland: Wer mag, nehme mal diese Bücher in die Hand: "Pittje Pittjewitt" oder Kärrekiek" - oder "Die heiligen drei Könige".
(Das Gedicht wurde entnommen dem "Niederrheinischen Weihnachtsbuch" Hausschatz für die Tage vom 1. Advent bis zu den Heiligen Drei Königen. Herausgegeben von Fritz Meyers. Mercator-Verlag. Duisburg: 1985. S. 18. - Einen guten Überblick über niederrheinische Regionalliteratur gibt Gundel Paulsen in ihrer Anthologie "Weihnachtsgeschichten vom Niederrhein". Husum 1993.)
 

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