Forum Kunst und Literatur Literatur Wien als Haupstadt der Kunst und Literatur

Literatur Wien als Haupstadt der Kunst und Literatur

longtime
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RE: Wien als Haupstadt der Kunst und Literatur
geschrieben von longtime
als Antwort auf longtime vom 12.09.2019, 15:02:59
Ebner_Vorzugsschüler.jpg
Ebner-Eschenbachs Novelle vom "Vorzugsschüler:


Marie von Ebner-Eschenbach: Der Vorzugsschüler (1901)
Gliederung zur Interpretation:
  • „(...) mein einzige Freud!“
  • Vom Prater
  • „Opfertod“ - als Traum des Gerog Pf.
  • Gymnasium
  • Vorzugsschüler
  • Salomon (Charakterisierung des gleichalteen, jüdischen Hausierer; einziger Freund Georgs )
  • Suizid
  • Gymnasium: Begleitung des Sargs (ohne die Schüler den wahren Hintergrund erfahren)
Ich setze hier nur das vom Georg Pf.  eingebildete Ideal vom „Opfertod“ noch ein; eine deutliche Kritik der maschoistischen Opferung als Ideal des Jungen, der deutlich gestört ist - und bei der Autorin zur Verschleierung einer exogen Depression dient und nicht einer "tragischen Idee" für den Freitod dienen soll.

Opfertod (in der indirekten Rede des Georg:)

Nein, nein, Vater und Mutter, er wagt es nicht, er kommt nicht mehr zurück, er geht, wohin schon mancher unglückliche Schüler gegangen ist: in die Donau. Und dieser eine Gedanke, je länger er ihn vor sich sah als das Unabwendbare, einzige, je mehr befreundete er sich mit ihm. Dieser Gedanke mit dem dunklen Kerne hatte eine blendende Atmosphäre und fing an eine große Helligkeit zu verbreiten. Er gestaltete sich jetzt so: Ich muß in die Donau, ich will aber auch, und gern. Wie gut ist es, tot zu sein, nicht mehr hören müssen: Lern! Wie gut auch, wenn es keinen Zwiespalt mehr zwischen den Eltern gibt. Aber du begehst einen Selbstmord, fuhr es ihm durch den Sinn, und ein Selbstmord ist eine Todsünde. Ihn schauderte. »Lieber Gott! Allgütiger!« stöhnte er und blickte flehend zum Himmel empor. »Rechne mir meinen Tod nicht als Sünde an! Ich will keine Sünde begehen, ich will sterben für den Frieden meiner Eltern. Mein Tod ist ein Opfertod.«
Ein Opfertod!
-
So die Forts. in der kleinen Novelle; S. 190f.)
 
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RE: Wien als Haupstadt der Kunst und Literatur
geschrieben von longtime
als Antwort auf longtime vom 16.09.2019, 14:51:35
Zweig_Wien_.jpg
Postkarte von Wien, mit den Schriftzügen von Stefan Zweig, gesandt an Börries von Münchhausen (1907)
*

Literatur - Blatt für Blatt – hat nicht SZ selber so gezählt, erzählt, umgezählt??

SZ selber hat einmal eine wunderbar gerechte – für mein Verständnis – Literatur-Theorie für Ent- und Verstehen und sicherlich auch für das Erfassen der Lautung und der Schriftzeichen formuliert, die auch psychoanalytisch durchsetzt ist, formuliert:

Aus Die Welt von Gestern, aus dem Kapitel Wieder in der Welt1]:
Da ich es immer als meine Pflicht empfand, bei fremden Werken oder Gestalten biographisch oder essayistisch den Ursachen ihrer Wirkung oder Unwirkung innerhalb ihrer Zeit nachzugehen, konnte ich in manchen nachdenklichen Stunden nicht umhin, mich zu fragen, in welcher besonderen Eigenschaft meiner Bücher ihr für mich so unvermuteter Erfolg eigentlich begründet war. Letzten Endes glaube ich, stammt er von einer persönlichen Untugend her, nämlich daß ich ein ungeduldiger und temperamentvoller Leser bin. Jede Weitschweifigkeit, alles Schwelgerische und Vage-Schwärmerische, alles Undeutliche und Unklare, alles Überflüssig-Retardierende in einem Roman, einer Biographie, einer geistigen Auseinander-setzung irritiert mich. Nur ein Buch, das ständig, Blatt für Blatt, die Höhe hält und bis zur letzten Seite in einem Zuge atemlos mitreißt, gibt mir einen vollkommenen Genuß. Neun Zehntel aller Bücher, die mir in die Hand geraten, finde ich mit überflüssigen Schilderungen, geschwätzigen Dialogen und unnötigen Nebenfiguren zu sehr ins Breite gedehnt und darum zu wenig spannend, zu wenig dynamisch. Selbst bei den berühmtesten klassischen Meisterwerken stören mich die vielen sandigen und schleppenden Stellen, und oft habe ich Verlegern den kühnen Plan entwickelt, einmal in einer übersichtlichen Serie die ganze Weltliteratur von Homer über Balzac und Dostojewskij bis zum ›Zauberberg‹ mit gründlicher Kürzung des individuell Überflüssigen herauszugeben, dann könnten alle diese Werke, die zweifellos überzeitlichen Gehalt haben, erneut lebendig in unserer Zeit wirken.

So konzentriert, so wahr, wahrhaft2 und wahr-scheinlich sind Zweigs Bücher, Blatt für Blatt – seine Novellen, seine Essays - Blatt für Blatt – für mich.
Der Germanist Sørensen schreibt dazu: „Diesem ästhetischen Credo blieb er [SZ] auch in seiner letzten Erzählung [Der Schachnovelle] treu.
Bengt Algot Sørensen: Stefan Zweig: Schachnovelle. In: S. 256. Interpretationen: Erzählungen des 20. Jahrhunderts. Bd.. 1. Stuttgart 1996, S. 251 – 263; hier S. 257.

Zur ZWEIGschenWortbildung „Unwirkung“ vgl. das DWB: „dasselbe wie unwirksamkeit a der mystik: diese drei hauptpunkte sein die unwürkung oder nichtwürksamkeit (inaction), die nichtbeobachtung oder die unachtsamkeit (inattention) und die zulassung allerhand unreinigkeiten und laster G. Arnold verthädigung der myst. Theologie 123.“
„Unwirkung“, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Erstbearbeitung (1854–1960), digitalisierte Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache,
, abgerufen am 26.01.2018.
Weitere Belege weist das dwds.de in der Moderne Wortgeschichte nicht nach.
Aber es Standen dem Dichter ZWEIG sicherlich noch andere Rückgriffe auf ältere, historisch belegte Wortformen für die Verneinung als Präfix zu 'wirk': -wirkend, -wirkhaft, -wirklich, -wirklichkeit, -wirksam, -wirksamkeit, -wirkung. Zur Verfügung, ja, er könnte sich neuer präfixe zu Wortstämmen bedienen. Nachweisbar sind unwirkend, part.  Adj.; unwirkhaft, adj.; unwirklich, adj.; unwirklichkeit, f.; unwirksam, adj.  Adv.; unwirksamkeit, f.; unwirkung, f. - Aber sicherlich: Poeten denken nicht in Wörterbuchreflexen, sondern in organischer Vielfalt des Gemeinten, das sich der verstehbaren Wortformen bemächtigt. < [Aus: DWB:] Verstehlich,adj., verstehung,f., vereinzelt gebildet. verstehlich für verständlich, 'was leicht verstanden werden kann': obgleich es hohe mystische, nur wenigen verstehliche toleranz ist Hippel lebensläufe 1, 50;
die worte: busen, duften, kosen, wallen,
sind alte deutsche worte, schön, verstehlich (Liliencron, in: Verbannt (Aus »Adjutantenritte und andere Gedichte« (1883): Die Worte: Busen, duften, kosen, wallen, / Sind alte deutsche Worte, schön, verstehlich. / Der Dichter bringt sie gern in ganzen Ballen, / Aus unsrer Sprache sind sie unverwehlich. / Wie kommt es, daß sie nimmer mir gefallen,
Ich finde scheußlich sie, ganz unausstehlich.
)
 
1] In der Neuauflage, mit dem Kommentar von Oliver Matuschek. 2017, S. 342. - O. M. kommentiert diese Aussagen SZ.s : So „schildert Zweig seine Arbeitsweise, von der sich vieles in seinen erhaltenen Manuskripten widerspiegelt. Ein wichtiger Aspekt ist dabei das Kürzen und Komprimieren seiner Texte, ein Verfahren, das er auch in Die Welt von Gestern anwandte, wie an zahlreichen Stellen zu erkennen ist. Aus diesem Erfolgsrezept für seine eigenen Bücher entwickelte Zweig den Vorschlag, Werke anderer Autoren in ähnlicher Weise zu überarbeiten, wobei er ausdrücklich Thomas Manns Roman Der Zauberberg nennt, der in der zweibändigen Erstausgabe von 1924 auf rund 1200 Seiten kam. Dass Zweig sich damit bei Verlegern jedoch nicht durchsetzen konnte, ist trotz seiner eigenen Erfolge wenig erstaunlich.“ (O.M. zu SZ: DWVG. 2017. S. 584f.
2] 'Wahr', ‘der Wahrheit entsprechend“,als Synonym zu wirklich’, ahd. (8. Jh.), mhd. wār ‘wahr(haft); nhd. wirklich, gewiss, echt, recht’, wirklich, gewiss, echt, recht.

 

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