Plaudereien Das Schweigen

miriam
miriam
Mitglied

Re: Das Schweigen
geschrieben von miriam
als Antwort auf carlos1 vom 05.11.2009, 11:49:49
Carlos, weit weg vom Thema des Schweigens - lass uns tatsächlich über die Quellen und ihren Wert, mit anderen Worten über ihre Zuverlässigkeit, ihre Aussagekraft nachdenken.

Dass Quellen auch problematisch sind – und dies auf mannigfaltiger Weise – ist eine Tatsache. Aber gibt es eine andere Möglichkeit sich mit der geschichtlichen Vergangenheit auseinanderzusetzen als diese?

Natürlich muss uns auch immer bewusst sein, dass auch die Quellen (also das faktische Wissen), eines nicht erklären kann: wie es zu einem Ereignis kam – die kausale Wahrheit befindet sich sicherlich nicht (nur) in den Fakten, also nicht in den Quellen.

In diesem Sinne interpretiere ich auch die Worte von Ruth Klüger - (Literaturwissenschaftlerin, Überlebende des KZ Auschwitz).

Zitat:


»Ich meine nicht, daß ich nicht verstehe, wie es dazu
kam … Aber dieses Wissen erklärt nichts. Wir zählen nur an den Fingern her, was vorher war und verlassen uns darauf, dass das radikal Andere daraus hervorging.
Jeder, der vor unserer Zeit in Deutschland von sich reden machte, musste herhalten.
Dann sind es Bismarck, Nietzsche und die Romantiker, und schließlich noch Luther, die die Vorbedingungen für die großen Mordaktionen unseres Jahrhunderts
geschaffen haben … Die Rechnung geht nicht auf.«


Und trotz dieser Einsicht, gibt es kein Vorbei an den Quellen – nur ist es damit noch nicht getan.

Eigentlich wäre es angebracht darüber ein neues Thema zu eröffnen - leider kann ich es nicht tun, da ich darüber nur sehr wenige Kenntnisse besitze.

Grüß von Miriam - die mit dem Zaunpfahl winkt



carlos1
carlos1
Mitglied

Re: Das Schweigen
geschrieben von carlos1
als Antwort auf miriam vom 06.11.2009, 10:08:42
"Doch alle diese Wertungen sind sehr situationsbezogen – zeigen aber eines: das Schweigen besitzt eine gewisse Macht.

Persönlich habe ich immer wieder eines feststellen müssen: das Schweigen als Waffe, wird eher von den Menschen eingesetzt, die diese auch als Waffe im Laufe ihres Lebens erfahren haben." miriam


Schweigen wird hier und in anderen Beiträgen als "Nichtreden", Nichthandeln (etwa durch Gesten, Mimik) interpretiert. Das heißt aber doch nicht, dass beim Schweigen nicht nachgedacht wird, Gedanken uns durch den Kopf jagen. Dieses bei anderen beobachtete (und erlittene) "Schweigen" wird als Dritte-Person-Perspektive bezeichnet. Wir beoabachten es bei anderen (auch bei uns selbst) und deuten es. Die anderen, die Schweigenden sind Objekt unseres Nachdenkens. Die Skala mentaler Zustände im Gehirn kann in durch technische Apparaturen (EEG, MEG, PET oder MRT) sichtbar gemacht werden.

Interessant wäre es ein Hirnkorrelat (Abbildung der Hirntätigkeit durch Hirnscan) bei jemandem zu sehen, der keinerlei Gedanken oder Ablenkungen hat (Meditation).

Erst das wäre echtes Schweigen, ein Primärbewusstsein. Allerdings würde dies kein Schweigen sein, das als Waffe eingesetzt wird, wie du es im Eingangsposting erwähnst.

Auch das eigene bewusste Schweigen kann als Objekt untersucht werden.

Ich hoffe, dass ich mich klar ausgedrückt habe.

Bitte nicht mit dem Zaunpfahl winken. Bin heute von der Leiter gefallen und der Asphalt auf dem Gehweg war etwas hart. Die Folgen spüre ich überall. Dieser virtuelle Beitrag verschweigt das.

Einen schönen Abend an alle.

c.


miriam
miriam
Mitglied

Re: Das Schweigen
geschrieben von miriam
als Antwort auf carlos1 vom 06.11.2009, 21:24:49
Interessant wäre es ein Hirnkorrelat (Abbildung der Hirntätigkeit durch Hirnscan) bei jemandem zu sehen, der keinerlei Gedanken oder Ablenkungen hat (Meditation).

Erst das wäre echtes Schweigen...[...]

Auch das eigene bewusste Schweigen kann als Objekt untersucht werden.

Ich hoffe, dass ich mich klar ausgedrückt habe.

c.



Nein - ich winke nicht mehr mit dem Zaunpfahl und hoffe auch, dass es dir besser geht nach deiner unsanften Landung, Carlos.

Zwar geht es in meiner Buchempfehlung nicht um Darstellungen der Hirnaktivitäten (Hirmscan, EEG oder MRT), sondern um einen spannenden Dialog zum Thema Hirnforschung und Meditation. Dieser Dialog findet statt zwischen den Hirnforscher Wolf Singer und Matthieu Ricard. Matthieu Ricard ist buddhistischer Mönch, war aber Molekularbiologe – ihre Ansätze zum Thema sind also unterschiedlich.



Der von mir eingesetzte Link hat einen einmaligen Vorteil: er beinhaltet u.a. sehr ausführliche Leseproben – die einen schon in die Materie einführen bzw. die unterschiedlichen Blickwinkel begreiflich machen.

Siehe Link.

Es gibt aber noch ein Schweigen, dies bezieht sich sicherlich nicht auf die hier geführte Diskussion: wenn es für einem deutlich wird, dass das Gegenüber alles andere als einen Gedankenaustausch wünscht – sondern vielmehr ein aufobtruieren der eigenen vorgefassten Meinung, wenn also der Dialog diesen Namen nicht mehr verdient, wenn man mit Sprachgewalt behandelt wird.

Dir alles Gute weiterhin

Miriam




Anzeige

longtime
longtime
Mitglied

Re: Das Schweigen
geschrieben von longtime
als Antwort auf miriam vom 07.11.2009, 09:14:34
Zweimal Schweigen, verschiedene Formen der Ruhe, der Beendigung von Beziehungen - als Nachtrag zum Thema:
einmal das Absterben der Natur; dann das Ende einer ehelichen Beziehung:


Wilhelm Lehmann:
Fallende Welt

Das Schweigen wurde
Sich selbst zu schwer:
Als Kuckuck fliegt
Seine Stimme umher.

Mit bronzenen Füßen
Landet er an,
Geflecktes Kleid
Hat er angetan.

Die lose Welt,
Wird sie bald fallen?
Da hört sie den Kuckuck
Im Grunde schallen.

Mit schnellen Rufen
Ruft er sie fest.
Nun dauert sie
Den Zeitenrest.

**

Der dradio.de-Lyrikkalender interpretiert:

http://www.dradio.de/dlf/sendungen/lyrikkalender/1000877

"Ist nicht jedes Gedicht von Rang, jedes wirklich gelungene, gültige Gedicht Natur-Lyrik?" So zitiert der alte Wilhelm Lehmann (1882-1968) im Juni 1966 einen Bewunderer seiner Gedichte - und er bekräftigt damit sein lyrisches Programm der Naturmagie. Die Lehmann-Exegeten nach 1968 haben dem Dichter vorgehalten, seine Anknüpfung an Goethes "Naturfrömmigkeit" verbinde sich mit einer restaurativ orientierten Beschwörung der Wiederkehr des Immergleichen.

In Lehmanns spätem Gedichtband "Abschiedslust" (1962) findet sich diese raunende Evokation der "fallenden Welt", ein Gedicht, das tatsächlich das Schicksal der Menschheit und der Welt an eine Kreatur der Schöpfung bindet - an den Gesang des Kuckucks. Die dritte und vierte Strophe schreiben dem mythisch überhöhten und gleich einer Skulptur modellierten Singvogel ("Mit bronzenen Füßen /Landet er an") sogar eine Funktion der Weltenrettung zu.
Der Untergang der Welt ist noch einmal abgewendet - der Kuckuck verleiht der Zeit und damit auch dem Menschengeschlecht Dauer.


*


Beat Brechbühl
Ehepaar beim Nachtessen


Sie schweigen sich an.
Sie essen das graue Zeug.

Dann fallen sie
tot von den Stühlen.

*

dradio.de-Lyrikkalender kommentiert so:

http://www.dradio.de/dlf/sendungen/lyrikkalender/1034216

Beat Brechbühl (geboren 1939) ist einer der beruflich und auch stilistisch vielseitigsten Schweizer Schriftsteller, Kinderbuch-Autoren und Büchermacher. Aus der etablierten Verlagswelt stieg er früh aus, um einen eigenen Verlag mit bibliophilen Kostbarkeiten zu gründen. Seine eigenen Gedichte erproben die unterschiedlichsten Redegesten: vom direkten, alltagssprachlichen Zugriff über die erzählerische Ausschweifung bis hin zur spröden Lakonie.

Brechbühls Literatur bevorzugt einen kolloquialen Ton und eine gestische Direktheit, die an die Konzepte einer engagierten Poesie - von William Carlos Williams bis Bertolt Brecht - anschließen.

Knapper lässt sich die Tragödie einer irreversibel erstarrten Ehe kaum in Verse bringen. Zwei Zeilen genügen, um die stumpfsinnige rituelle Begegnung und das feindselige Schweigen zwischen den einst Liebenden zu erfassen. So will man bei der ersten Lektüre glauben. Die Lapidarität jedoch, mit der in den beiden folgenden Versen der gemeinsame Tod des Ehepaars vermeldet wird, lässt die Möglichkeit offen, dass hier vielleicht ein gemeinsamer Suizid zelebriert worden ist - durch Selbstvergiftung.


--
longtime

Anzeige