Plaudereien Der letzte Winter

gerry
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Der letzte Winter
geschrieben von gerry

Endlich ist es sommerlich warm geworden, doch für nächste Woche ist schon wieder Regen angesagt worden.
Kachelmanns Rache?
Die letzten Wochen waren ja fürchterlich. Kalt, kalt und nass.
Das sollte nun die vielbeschworene Klimaerwärmung sein?
Niemand hat sie mehr zu schaffen gemacht als uns Alten.
Zumal das Wetter ständig vergessen hat, was die Klimaforscher von ihm erwartet haben.
Dauernd muss ich an den letzten, langen und kalten Winter denken.
Fast elf Wochen in Weiß, sozusagen das Leichentuch über ganz Deutschland und darüber hinaus.
Hier schlug der Winter auch erbarmungslos zu:
Sechs "Veteranen der Winterarbeit" lagen flach, einer - mein Schwiegersohn - sogar im Krankenhaus.
Das kommt davon, wenn man bei Frost und Schnee Kaminholz im Wald schlagen will. Es gibt es zwar in jedem Baumarkt zu kaufen, aber ein echter Harzer geht eben "ins Holz".
Einige Autos - auch meins - sehen nach missglückten Testläufen auf unseren vereisten Straßen einer Neulackierung entgegen.
Zwei Carportdächer waren der Schneelast erlegen und lagen auf den Autos im - ehemals sicheren - Port.
Bei meinem Nachbarn Siegfried zeigten sich böse Hungerödeme, weil seine Frau wochenlang die Vögel gefüttert hatte. Und anscheinend nur die Vögel.
Offenbar um sein Magenknurren und seine Hungerschreie zu übertönen, wurde das Haus ganztägig mit Vogelstimmen von einer CD beschallt. Man hörte Kuckucksrufe, Balzgesang der Rotkehlchen und die Warnrufe des Zaunkönigs.
Siegfrieds Frau wollte damit Frühlingsgefühle hervorrufen, - meinte sie - was aber bei Siegfried keinerlei Wirkung zeigte.
Er erzählte mir, dass er voll auf dem Vollkorntrip gewesen sei.
Erst habe er heimlich die Weizenkörner aus dem Streufutter stiebitzt, aber auch Sonnenblumenkerne nicht verschmäht. Trotzdem sah er richtig abgemagert aus.
Bei mir war die Kalorienlage etwas anders.
Sie hing mit der stabilen Seitenlage zusammen, in der ich gut zwei Wochen verbringen musste.
Bei jedem Schneegestöber war ich sofort nach draußen gestürmt - manchmal dreimal täglich - um der weißen Bedrohung mit dem Schneeschieber dynamisch zu Leibe zurücken.
Doch dann passierte es: Wie ein Bumerang kehrte ich ins Haus zurück.
Zwar nicht so schnell, wie dieses eigenartige Wurfgeschoss der Aborigines, aber ebenso krumm.
Was war geschehen?
Bestaunt von attraktiven Passantinnen, hatte ich - ein drahtiger, gestählter Mittsiebziger, jünger aussehend - wie ein Wilder die Schneemassen vom Gehsteig gewirbelt, bis es plötzlich im Lendenbereich "Knacks" machte.
Ein stechender Schmerz erwischte mich in einer würdelosen, gebückten Haltung, aus der ich nicht mehr herauskam. Hexenschuß!
Dabei hatte mich ein Mailkontakt - Ärztin - öfter vorgewarnt.
Nun war es zu spät!
Hätte ich bloß auf sie gehört.
Sich nicht alleine die Socken anziehen zu können, ist eine Schmach für einen ehemals aufrechten Menschen.
Dazu das Lamentieren meiner Frau:
Ich solle endlich akzeptieren, dass ich nicht mehr 68 sei.
Manchmal ist der seelische Schmerz schlimmer als der körperliche.
Aus Rache habe ich sie drei Wochen Schnee schieben lassen und mich auf dem Sofa rundgepflegt.
Was dem Bauch gut tut, bekommt auch dem Rücken.
Dreieinhalb Kilo plus, in drei Wochen! Und das bei Diabetes. Na ja....
Doch dem meisten Härtefällen des Winters waren andere harte Fälle vorausgegangen.
Es herrschte kein Mangel an Hals- und Beinbruch. Besonders Oberschenkelhalsbruch.
Als Gerlinde, Günters Frau - Nachbar rechts - vor der eigenen Gartenpforte im wahrsten Sinne des Wortes eine Bruchlandung hinlegte, geriet Günter in Panik:
Ihm war zu Ohren gekommen, dass die Krankenkassen alle Hausbesitzer, die ihrer Räum- und Streupflicht nicht nachgekommen waren, bei Knochenbrüchen auf Schadenersatz verklagen.
Da kämen leicht 1500.- Euro, bei komplizierten Brüchen bis zu 10 000.- Euro zusammen.
Deshalb schleifte er seine Frau hektisch fünfzehn Meter durch den Schnee und legte sie vor dem nächsten Grundstück ab.
So die Schuldfrage auf den nächsten Nachbarn zu verlagern war ganz bestimmt nicht die nette, englische Art.
Schlimmer aber war der Krankentransport auf dem Hintern.
Er bekam Gerlinde nicht so gut und Günter noch schlechter, als sie aus dem Krankenhaus kam.
Aber nach dem Hexenschuss ereilte mich noch ein anderes - weit schlimmeres - Winterleiden:
Mein Auto sprang nicht mehr an. Nun erinnerte man sich, wie man vor vierzig Jahren mit dem "Wartburg" verfahren war.
Vor unserem Haus ist die Straße etwas abschüssig. Bei müder Batterie eine ideale Startrampe.
Also, wie früher: Anschieben! Wenn das Auto rollt, auf den Fahrersitz springen, zweiten Gang rein, einkuppeln, gleichzeitig Gas geben und schon tuckert der Motor los.
Gesagt, getan!
Eine Hand am Lenkrad, die andere am Türrahmen, so brachte ich den Wagen in Schwung.
Der nahm Fahrt auf, wurde schneller und plötzlich merkte ich, dass ich nicht mehr mitkam.
Das Alter, etwas Übergewicht, trotz täglicher Spaziergänge untrainiert - statt das Auto sportlich zu entern, wurde ich mitgeschleift wie ein nasser Sack und fand mich schließlich auf allen Vieren wieder.
Peinlich, peinlich, peinlich! Am liebsten wäre ich gar nicht aufgestanden...
Das Geisterfahrzeug steuerte zielstrebig auf eine stattliche Schneebarriere zu, die der Winterdienst am Straßenrand hinterlassen hatte.
Es schien ein glimpfliches Ende nahe, wenn da nicht mein "Beinahe-Freund" Bernd, mit seinem Golf um die Ecke gebogen wäre.
Ich gab ihm Zeichen, fuchtelte mit Armen und Beinen, er solle stehen bleiben aber nein, der Trottel fuhr unbeeindruckt in sein Unglück.
Etwas schwer von Begriff war er ja immer schon, auch als Arbeitskollege.
Nun anscheinend noch altersdebil, obwohl er jünger ist als ich.
Anscheinend kriegte er gar nicht mit, was los war, bretterte stur drauflos - und "rrummms"!
Mich aber hinterher beschimpfen als hätte ich am Lenkrad gesessen und nicht er.
So langsam wird es Zeit, dass die Polizei alten Trotteln wie Bernd, die ihr Fahrzeug nicht mehr beherrschen, den Führerschein abnimmt!
Und im Winter - besonders bei Schnee und Eis - sollte klapprigen Alten per Gesetz Stubenarrest verordnet werden, damit die klammen Krankenkassen ihren Vorständen endlich angemessene Gehälter und Boni zahlen können.
Aber, wie gesagt, der Winter scheint vorbei, obwohl wieder Kälte und stellenweise sogar Bodenfrost angesagt wird.
Aber alles in allem:Es kann nur noch besser werden.

Einen schönen Sonntag
wünscht Gerry





majana
majana
Mitglied

Re: Der letzte Winter
geschrieben von majana
als Antwort auf gerry vom 06.06.2010, 11:25:20
Tolle Geschichte Gerry, die ich mit einem Schmunzeln oder besser gesagt Grinsen, gelesen habe.
youngster
youngster
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Re: Der letzte Winter
geschrieben von youngster
als Antwort auf gerry vom 06.06.2010, 11:25:20
Gerry,

herzlichen Dank für die tolle Wintergeschichte auch wenn da bestimmt so manche literrarische kleine Lüge versteckt war oder?

Aber insgesamt ganz toll geschrieben so richtig aus dem Leben heraus gut vorstellbar so könnte es mir selber auch passiert sein. Danke und schönen Sonntag noch youngster
anjeli
anjeli
Mitglied

Re: Der letzte Winter
geschrieben von anjeli
als Antwort auf gerry vom 06.06.2010, 11:25:20
Hallo Gerry,
gut gebrüllt Löwe kann ich nur sagen. Geschichte toll, Rechtschreibung noch toller.
Du könntest Vorbildfunktion in Sachen Rechtschreibung übernehmen. Ich muß Dir wirklich
ein ernst gemeintes Kompliment aussprechen.

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