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Plaudereien Gibt's die Gegenwart?

gerry
gerry
Mitglied

Gibt's die Gegenwart?
geschrieben von gerry


Das Dumme an der Gegenwart ist, dass sie gar nicht existiert.
Nein, es gibt sie in Wirklichkeit nicht.
Denn, was immer jetzt grade geschieht, ist im selben Moment auch schon ruck-zuck vorbei und kein Mensch kann es zurückholen.

Was nützt der Ausspruch "Verweile doch, Du bist so schön"?
Wer soll da verweilen?
Es geht nicht!
Schon rein zeitmäßig nicht.
Es ist also fast unmöglich, Glück bewusst zu erleben.

Nur in der Erinnerung ist der glückliche Augenblick aufgehoben, verwischt, undeutlich, sozusagen als Abdruck, den die Seele hinterlassen hat.
Glück kann ausschließlich im Imperfekt konjugiert werden:
Es ist nie, es war immer nur! (Da hatte ich aber Glück!)
Darum schwelgen Ehepaare, die im Begriff sind, sich auseinander zu leben, so gern in "Weißt Du noch"? - Geschichten.
Vielleicht könnte man sich damit trösten, dass dasselbe auch für leidvolle Erfahrungen gilt - aber diese Bilanz geht nicht auf.

Leider hinterlässt Kummer in der Seele viel stärkere Spuren als das Glück.
Narben halten nunmal länger als Küsse!
Wer wirklich mal ernsthaft gelitten hat, wird von der Erinnerung daran plötzlich am hellichten Tag überfallen, und wenn die Erinnerung da ist, gibt es kein Entkommen.
Dann ist man erneut in der leidvollen Situation und vergisst für einen Moment alles um sich herum.
So kann man ohne Übertreibung sagen:
Die Erinnerung an das Leid ist das Einzige, was für einen schmerzhaften Augenblick die Illusion von Gegenwart zu erzeugen vermag.

Der Philosoph Ernst Bloch hielt das "Dunkel des gelebten Augenblick's" für das große Rätsel der menschlichen Existens.
Er war davon überzeugt, dass dieses Dunkel aufgehellt werden könnte, sobald die Menschheit sich entschließe, die kapitalistische durch die sozialistische Produktionsweise zu ersetzen und damit die hochfliegenden Träume der Utopisten sämtlicher Zeitalter zu verwirklichen.
Man braucht es nur hinzuschreiben um deutlich zu machen, wie seicht diese Hoffnung ist. Schließlich ist der "Sozialismus" in Europa sang-und klanglos verschwunden.

Dass die Gegenwart uns entgleitet, ist ein existentieller Zustand, kein Problem, das die Politik lösen könnte - da mögen die roten Fahnen noch so verheißungsvoll wehen.

Den Trost gibt es in Wirklichkeit nur für die Frommen, die davon ausgehen, dass sie nach ihrem Tod "Gott sehen werden."
Das ist nichts anderes, dass es im Licht der göttlichen Präsenz kein "Dunkel des gelebten Augenblicks" mehr gibt, dass man im Paradies der Gegenwart angekommen ist.
Deswegen wird den islamischen Terroristen auch der Einzug ins Paradies versprochen, wo sie viele Jungfrauen vorfinden werden.

Atheisten wollen davon natürlich nichts wissen.
Ihnen bleibt nur, sich mit ihrer trostlosen Existenz abzufinden.

Aber auch Heinz Erhardt hätte mir - so er denn noch leben würde - Recht gegeben.
Schrieb er doch schon damals die Verse:

"Kaum warst Du Kind, schon bist Du alt.
Du stirbst - und man vergisst Dich bald.
Da hilft kein Beten und kein Lästern:
Was heute ist, ist morgen gestern!"

Einen schönen Tag
wünscht Gerry



sarahkatja
sarahkatja
Mitglied

Re: Gibt's die Gegenwart?
geschrieben von sarahkatja
als Antwort auf gerry vom 17.12.2010, 13:13:31
Hallo Gerry.

Über Deinen Gedankengang musste ich nachdenken.
Es stimmt, die Gegenwart, der Augenblick, wie der Ausdruck schon sagt, ist kurz und unwiederbringlich.

Doch man kann ihn ausdehnen. Denn, dem einen Augenblick kann der nächste folgen, man leiht sich von der Zeit ein Stück und lebt doch noch in der Gegenwart.

Dem Glücklichen schlägt keine Stunde, sagt man, und der das sagte, dachte sicher nicht daran, dass jede verflossene Minute unwiderruflich vorbei ist. Es ist zwar so, doch man kann auch im weiteren Verlauf der Zeit durchaus Glück bewußt erleben.

Gäbe es einen nicht enden wollenden Augenblick des Glücks, ich glaube, er würde unerträglich.

Schwere Verletzungen hinterlassen Spuren, die auch als Narben noch schmerzen, und man tut gut daran sie ruhen zu lassen.
Es ist die einzige Möglichkeit, um nicht an ihnen zu zerbrechen.
Um nicht im Dunkel des ge(er) lebten Augenblicks zu verharren.

Doch es stimmt, die Gegenwart ist immer der gerade aktuelle Augenblick. Vergangenheit und Zukunft gehen schnell über ihn hinweg.

Gruß von Sarahkatja




Marija
Marija
Mitglied

Re: Gibt's die Gegenwart?
geschrieben von Marija
als Antwort auf sarahkatja vom 18.12.2010, 00:14:57
Dem Glücklichen schlägt keine Stunde.

Darin liegt die Weisheit.

Ja, Gerry, ich stimme dir zu.
Ein Erklärungsversuch zur Gegenwart von vielen:

Gegenwart erschließt sich recht vernünftig durch die Wortanteile " Gegen" und " wart".
Wir sind in der Gegenwart aktuell mit einer Sache konfrontiert, stehen ihr also gegenüber, müssen Antworten finden und reagieren.
" Wart" bedeutet in dem Falle " warten" / " pflegen" oder " sich widmen".

In der Gegenwart "widmet" man sich also einem " Gegenüber".

Das Empfinden der Gegenwart ist ausschließlich.
Ein spielendes Kind ist ganz und gar eingebunden in seine Handlung. Es hat die Zeit vergessen.

Und im Vergessen liegt meiner Meinung nach auch die psychologische Erklärung.
Man kann über die Vergangenheit und über die Zukunft nachdenken und reflektieren.
Über die vollempfundene Gegenwart kann man das nicht.

so sieht es
Marija




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Allegra
Allegra
Mitglied

Re: Gibt's die Gegenwart?
geschrieben von Allegra
als Antwort auf Marija vom 18.12.2010, 07:51:24
Dazu Friedrich Schiller:

„Dreifach ist der Schritt der Zeit:
Zögernd kommt die Zukunft hergezogen,
pfeilschnell ist das Jetzt entflogen,
ewig still steht die Vergangenheit.“

gerry
gerry
Mitglied

Re: Gibt's die Gegenwart?
geschrieben von gerry
als Antwort auf Marija vom 18.12.2010, 07:51:24
Endlich zwei Damen auf meiner "Wellenlänge".
Ich bin begeistert über Eure Kommentare,
zeigen sie mir doch, welch tiefgreifende Gedanken hier leben.
Es muss nicht immer alles "Wischi-Waschi" sein.
Danke!
schorsch
schorsch
Mitglied

Re: Gibt's die Gegenwart?
geschrieben von schorsch
als Antwort auf gerry vom 17.12.2010, 13:13:31
@: ",,,Was nützt der Ausspruch "Verweile doch, Du bist so schön"?..."

Jawoll, das habe ich auch schon mal gesagt....

.....und sie nach 20 Jahren erst wieder gesehen. Und da war sie schon nicht mehr so schön )(

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gerry
gerry
Mitglied

Re: Gibt's die Gegenwart?
geschrieben von gerry
als Antwort auf schorsch vom 18.12.2010, 14:45:31
Ja Schorsch, das gleiche wird Sie von Dir auch gedacht haben!
Karl
Karl
Administrator

Re: Gibt's die Gegenwart?
geschrieben von Karl
als Antwort auf gerry vom 17.12.2010, 13:13:31
Lieber gerry,


man kann das auch ganz anders sehen. Mich haben immer die Überlegungen von Augustinus hierzu fasziniert:

Augustine, Confessions, Book 11, Chapter 20
„There is nothing like future and past (. . .). There is only
the presence of the past, the presence of the presence,
and the presence of the future. These three I see in the
soul, but I cannot see them independent of it: present is
the memory of the past, present is the perception of the
presence, and present is the expectation of the future.”

Meine Übersetzung:

"Es gibt nichts wie Zukunft oder Vergangenheit. Es gibt nur die Gegenwart der Vergangenheit, die Gegenwart der Gegenwart
und die Gegenwart der Zukunft. Diese drei sehe ich in meiner Seele, aber ich kann sie nicht unabhängig hiervon sehen: die Gegenwart ist die Erinnerung der Vergangenheit, die Gegenwart ist die Wahrnehmung der Gegenwart und die Gegenwart ist die Erwartung der Zukunft."

Mit meinen Worten: In unserem Bewußtsein ist immer nur die Gegenwart präsent, die sich zusammensetzt aus den aktuellen Erinnerungen an die Vergangenheit, der aktuellen Wahrnehmung und unseren aktuellen Prognosen über die Zukunft.

Karl


gerry
gerry
Mitglied

Re: Gibt's die Gegenwart?
geschrieben von gerry
als Antwort auf Karl vom 18.12.2010, 15:29:25
Mich beruhigt ungemein, dass ich nicht der Erste und Einzige bin,
der sich über solch Thema Gedanken macht.
Nein Karl, Augustinus Gedankengänge und Äußerungen waren mir bis heute fremd.
Danke für Deinen Kommentar!
Michael
Michael
Mitglied

Re: Gibt's die Gegenwart?
geschrieben von Michael
als Antwort auf gerry vom 18.12.2010, 17:27:44
Über die Zeit und die Auswirkungen auf uns Menschen habe ich mir schon viel Gedanken gemacht. Als junger Mensch vielleicht weniger, dafür mehr im jetzigen reiferen Alter. Immerhin erkennt man jetzt dass es langsam eng wird. Umso wichtiger sind die Erinnerungen an das Vergangene, wobei positive überwiegen.
Es ist etwas was uns vom Tier unterscheidet, das wir auf vergangene Ereignisse reflektieren können. Da unser Gehirn kein Zeitemmpfinden kennt, sind wir auf Erinnerungen angewiesen, um einen Zeiteindruck zu bekommen. Wobei dieser bekanntermassen je nach Dichte der Ereignisse unterschiedlich ist. Deswegen vergeht im Alter die Zeit meist scheinbar schneller. Im Gegensatz zu früher lebe ich deshalb heute viel bewusster und mehr in der Gegenwart. Habe ich in meiner Lebensmitte oft die Gegenwart mit Zukunfsdenken übertüncht, so lebe ich heute für den Augenblick. Es kommt eben auf die gelebten Jahre an und nicht so sehr auf die Lebensjahre. So gesehen kann jeder von uns sein sein Lebensmotto ausleben. Besonders im Rentenalter hat man dazu reichlich Gelegenheit. In keinem Lebensabschnitt hat hierzulande der Mensch so viel Gestaltungsspielraum. Man muss nur bereit sein diese Chance zu erkennen und nutzen. Insofern ist die Diskussion um die Gegenwart ein Mittel zur Selbstreflexion und bewussten Lebensgestaltung.

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