Plaudereien Ob Darwin das gemeint hat?

Unsere Friedrichstraße ist wahrlich kein Boulevard, aber "Rosi's Ratsstübchen" - die mit den Dauertiefstpreisen - geht mit der Zeit.
Man kann jetzt bei Rosi unter bunten Markisen oder Sonnenschirmen sitzen und einen Boulevard-Kaffee trinken.
Wie in Berlin oder München.
"Outdoor-Drinking", wie es neudeutsch heißt.
Es hebt das kulturelle Niveau ganz beträchtlich.

Früher lungerten hier die stadtbekannten Suffköppe herum, doch jetzt kommt auch das "gehobene Publikum" auf ein Glas Bier oder eine Apfelschorle vorbei.
Zum Beispiel mein Nachbar Klaus und ich.
Ältere Herrschaften, die sich schon vom äußeren Erscheinungsbild her deutlich von den abgeranzten Alkis unterscheiden: Meine Jogginghose zum Beispiel ist ein Markenartikel - mit den berühmten drei Streifen, obwohl mir eine andere lieber gewesen wäre, eine schöne braune, aber meine Frau.... - und auch das Basecape vom Klaus ist nicht vom Wühltisch.
Was uns aber von allen anderen "Ariern" abhebt - wir nennen sie so, weil wir die unglückliche Vorsilbe "Prek...nicht so sehr mögen - , ist das geistige Niveau, die philosophische Tiefe der Gespräche.
Je leerer die Gläser, umso voller die Themen.

Letztens eröffnete Klaus unsere Diskussion.
Angesichts der unter ihrer eigenen Last ächzenden Frau aus der Friedrichstraße 124, raunte er:
"Die Felgner wird auch immer fetter."
Zwar gut beobachtet, aber für unseren Bildungsgrad eine eher triviale Bemerkung, die dringend nach intellektueller Aufwertung verlangte.
Manchmal nervt mich der alte Sack mit seinen primitiven Sprüchen.
Wieso haben wir eigentlich früher "Deutsch" in der Schule gelernt?

Mir fiel spontan der Begründer der Evolutionstheorie ein - am Himmelsfahrtstag schrieb ich einen Artikel über seinen "Award" - dessen 201. Geburtstag wir im Februar feiern durften.

Ich meinte deshalb:
"Vielleicht hat sie Darwins Theorie etwas zu eigenwillig ausgelegt und glaubt, daß nur die Stärksten durchkommen, so ab 125.-Kilo.
Wir müssen heute Darwin in Verbindung mit der Wirtschaftskrise sehen.
Gegenüber von Hamstern und Eichhörnchen, die für harte Zeiten Vorräte anhäufen, hat der Mensch einen entwicklungsgeschichtlichen Vorteil:
Er hat die Chance, Vorräte im eigenen Körper anzulegen.
Die kann ihm niemand wegnehmen und er muß sich auch das Versteck nicht merken - ein Blick in den Spiegel reicht völlig aus."
"Körperfülle kann auch das Ergebnis von Unterversorgung sein" meinte Klaus und ich ahnte, daß er auf das Sexuelle hinauswollte, deswegen erinnerte ich an Marcuse: "Das Essen ist die letzte Lust, die dem Menschen bleibt."
"Blöder Spruch" erwiderte Klaus "Sooo alt ist die Felgner nu ooch wieder nich, na ja gut ihr Mann..."

Wir mußten beide grinsen, denn wir kannte beide den Dr.med. Felgner, der seit seiner Pensionierung zu meditativen Seancen vor dem Schnapsglas neigte.
Kriegte man ihn mal zu Gesicht, war er stets etwas "Angeheitert", geschmeichelt formuliert.
Oft konnte er wieder nicht stehen, weil er dem Wodka oder Korn nicht widerstehen konnte.
Als Arzt untragbar aber zum Sandsieben durchaus gut geeignet.

Anscheinend konnte er den Anblick seiner Angetrauten nur in einem "fröhlichen Zustand" oder "Vollsuff" ertragen.
"Guck dir doch die drei Zentner Felgnern an, hättest du da Lust auf Pflichterfüllung?"
"Wer ich??? Sag' mal spinnst Du?"

Plötzlich kreischte es.
Ich kannte die Stimme, konnte mich aber nicht mehr wegducken.
Meine Frau!
"Rumsitzen, Bier saufen, und dämlich quatschen, so habe ich mir das vorgestellt, das habe ich gerne.
Mensch, Du hast noch Pflichten" schrie sie ohne Rücksicht auf die anderen Gäste.
Um Himmels Willen, nicht auch das noch... Diskretion war noch nie ihre Stärke.
"Und zu Hause vergammelt der Vorgarten und der Kompost muß auch noch umgesetzt werden."

Was sollte ich dazu sagen?
Das war nicht mein Niveau.
Ich ließ mich wortlos abführen.


Ohne Widerstand zu leisten.
Weil nach Darwin die Überlebenschancen steigen, je besser man sich an die herrschenden Verhältnisse anpassen kann.

Einen schönen Tag

wünscht Gerry

Guten Tag gerry,

herzlichen Dank für diesen köstlichen Beitrag.

Trotz Schmerzen brachte mich deine Geschichte zum schmunzeln.
Ein Lächeln am heutigen Sonntag ist hilfreicher als Morphine zur Schmerzlinderung.

lieber gerry freue mich auf weitere Schmunzel-Geschichten darum meine Bitte -- mach weiter --

liebe Sonntags-Grüße
Sonny

Gerry, du kannst echt gute und witzige Kurzgeschichten schreiben!


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Aber ich wäre nicht ich, wenn ich aus gegebenen Anlaß nicht eine kleine Anmerkung zu deinen Zeilen (Anscheinend konnte er den Anblick seiner Angetrauten nur in einem "fröhlichen Zustand" oder "Vollsuff" ertragen."Guck dir doch die drei Zentner Felgnern an, hättest du da Lust auf Pflichterfüllung?" "Wer ich??? Sag' mal spinnst Du?" ) anbringen möchte.

Ein Alkoholiker trinkt, weil er trinken will und muss. Dafür liefert er sich selbst und seiner Umwelt "logische" Erklärungen. Wenn nicht das Körpergewicht seiner Holden die Ursache wäre, dann wäre es die Ursache x, und wenn es nicht diese ist, dann ist es y... usw. Du übernimmst eines der charakteristischen Merkmal eines Alkoholikers --- die Schuldverlagerung!

Bitte, nichts für ungut, gerry!

Hallo gerry ,

wenn´s nur der Vorgarten und der Kompost ist ... sowas hat doch keine Eile...
Mein lieber Mann hat mich mal vor vielen, vielen Jahren mit Theaterkarten sitzen lassen
und hat dafür in seinem Stammlokal den ganzen Abend Skat gespielt !
Und ich Schäfchen hab gedacht, er wäre noch dienstlich unterwegs .

Verziehen, aber nicht vergessen!
G.

Gerry wird Dir das sicher nicht übel nehmen, und es wird seiner Humoreske keinen Abbruch tun. Seine liebe Frau muß auch oft genug herhalten und hat unsere volle Sympathie.


Deine Worte sind durchaus angebracht. Alkoholismus ist eine Krankheit
und die Schuldverlagerung ist eine der typischen Merkmale dieser Krankheit.
Es ist ein Teufelskreis, aus dem es nur
wenigen gelingt auszubrechen.

Sie glauben oft, sie könnten es alleine schaffen und werden doch wieder rückfällig.
Sie haben nicht die Kraft Maß zu halten und
der erste Schluck Alkohol ist für sie schon
zu viel.

Sarahkatja

Hie Gerry

bei lesen deines aufheiternden Beitrages dachte ich mir das ich weiter lese mein Lieblingsbuch "Eine Verzweiflung" von Yasmina Reza. Diese kleinBuch habe ich schon 5 mal gelesen, ein galligen Monolog eines Vaters, und sehr viele Schmäherede Dialogs der Samuel Perlman mit seinem auch älteren Freund, ein großartiges Buch, tragikomisch, witzig, ein atemlose Monolog eines altes Mannes über das Leben und die Spaßgesellschaft.

Die Zeit

"Hier erreicht der Text jenes sublime äquilibrieum zwischen keckem, Schwanzwedelndem Boulevardton und innigen Spätzeit Melodram, jene schwebende , der Schwermut abgehandelte Leichtigkeit......"

Ich fühle mich geistig auch wie ein Man,machmal identifiziere mich mit
Samuel Perlamn.

Hallo gerry,

herzlichen Dank für deine wieder sehr nette und witzige Kurzgeschichte bei der ich immer nicht genau weiss wie viel Wahrheit darin steckt. Aber ist auch völlig egal ich finde es immer ganz toll wie du die Wahrheit und die Satire immer wieder zu einer neuen schönen Geschichte verbindest. Auch kann ich mich des Eindruks nicht erwehren, dass du eine unheimlich gute Menschenbeobachtungsgabe haben musst. Mach weiter so.

Gruß youngster sich immer weider auf neue Geschichten von dir freuend.