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Plaudereien Wer erinnert sich....?

gerry
gerry
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Wer erinnert sich....?
geschrieben von gerry
Wer erinnert sich noch an die unselige Zeit der Lebensmittel- Kleider- und Raucherkarten?
Sicher sind es nur noch die Ältesten unter uns.
In der Bundesrepublik wurden sie 1950 abgeschafft, in der DDR erst acht Jahre später.
Auch eine "Errungenschaft auf dem Weg zum Sozialismus."
Wenn man heute mit jüngeren Menschen darüber spricht, können sie es oft nicht glauben
und man steht da wie ein Märchenerzähler.
Ich kenne noch die Zeit des "Ährenlesens" wo die abgeernteten Getreidefelder heimgesucht wurden.
Oft zum Ärger der Bauern.
Ebenso gingen wir über die abgeernteten Kartoffel- oder Rübenfelder um "nachzustoppeln."

Die Zuteilungen auf den Lebensmittelkarten war oft zum Leben zu wenig und zum Sterben zuviel.
So war man gezwungen, sich nach anderen "Nahrungsquellen" umzusehen.
Der Vater war in Gefangenschaft, ich musste mit 11-12 Jahren schnell erwachsen werden.
Wir waren Flüchtlinge aus Ostpreußen, die Umstände ließen eine schöne, unbeschwerte Kindheit nicht zu.
So zog man mit einem - von der Mutter genähtem - Beutel über die Felder, egal ob Roggen, Weizen, Gerste oder Hafer. Alles wurde verwertet!

Die von allen Hülsen befreiten Körner kamen in die Kaffeemühle, wurden von Hand geschrotet und mit Wasser oder - wenn man hatte - mit Magermilch zu einem Brei gekocht.
Die "gestoppelten" Rüben wurden zu Syrup verarbeitet, was allerdings auch verboten war.
Zu bewundern waren die Mütter und Frauen, die es immer wieder verstanden, aus dem Wenigen das vorhanden war, die Kinder einigermaßen satt zu kriegen.

Ich kann heute noch kein Stückchen Brot wegwerfen, weil ich weiß, was Hunger ist.
Schön, dass es unsere Kinder und Enkel nicht erleben mussten und müssen.
Diese Jahre sind mir unvergessen.

Einen schönen Tag
wünscht Gerry
caya
caya
Mitglied

Re: Wer erinnert sich....?
geschrieben von caya
als Antwort auf gerry vom 26.06.2011, 11:50:04

Wie meine Mutter uns 2 Kinder in dieser Zeit satt bekommen hat, ist mir heute noch ein Rätsel.

Alles was du schreibst, Gerry, kann ich nachvollziehen.

Auch mit dem Brot weg werfen, das geht mir ebenso.

Caya
ehemaligesMitglied62
ehemaligesMitglied62
Mitglied

Re: Wer erinnert sich....?
geschrieben von ehemaligesMitglied62
als Antwort auf gerry vom 26.06.2011, 11:50:04
Obwohl ich ein Nachriegskind (geb. 1948) bin, war bei uns immer Schmalhans Küchenmeister. Erst war es die Knappheit an sich, mein erstes Kleid nähte meine Mutter aus Stoffwindeln. 1951 starb unser Vater, nachdem er Krieg und Gefangenschaft überlebt hatte. Mutter mußte bei den Bauern auf dem Feld arbeiten und brachte immer ihre "Ration" heim für uns. Aus dem Wald holten wir Beeren,, Pilze und säckeweise Fichtenzapfen zum heizen. Damals waren nicht nur die Felder, sondern auch die Wälder leergefegt.
Auch ich kann nichts Eßbares wegwerfen, Konsumdenken ist mir immer noch fremd. Ich besitze mehr als hundert Kochbücher, aber mein Favorit ist "Tante Linas Kriegskochbuch"!
Einen schönen Sonntag
Ulfhild

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Gillian
Gillian
Mitglied

Re: Wer erinnert sich....?
geschrieben von Gillian
als Antwort auf gerry vom 26.06.2011, 11:50:04
Lieber Gerry,
all das, was du beschreibst, ist auch mir noch in guter Erinnerung: Ährenlesen, Kartoffel- und Rübenstoppeln, auch "Hamsterfahrten" mit meiner Mutter auf die Dörfer, um verwachsene Kinderkleidung oder überflüssigen Nippes bei den Bauern gegen Essbares zu tauschen. Damals kam die Redensart auf vom "Teppich im Kuhstall", der angeblich bei den Bauern nur noch fehlte.
Wir haben die Ähren dann ausgeklopft und die Körner im Wind von der Spreu getrennt. Mein Vater hatte allerdings eine Schrotmühle aufgetrieben, damit Mutter ihre Kaffeemühle für bessere Zeiten bewahren konnte. Dieser Vollkornbrei war äußerst nahrhaft und sättigend und hat uns auch über die schlimme Zeit hinweg geholfen.
Eins kann ich nicht bestätigen: Das Rübensirupkochen soll VERBOTEN gewesen sein? Von wem denn? Meine Mutter hat es auch gemacht, es war eine mühselige Arbeit. Erst Rüben stoppeln, dann schnippeln und auskochen, und den Sud lange und geduldig einkochen, bis es Sirup war. (So hab ich es in Erinnerung, ich hoffe es stimmt).

Lieber Gerry, kläre mich mal auf, wieso Du Dich erinnerst, das Sirupkochen verboten war!?
LG G.
geli
geli
Mitglied

Re: Wer erinnert sich....?
geschrieben von geli
als Antwort auf gerry vom 26.06.2011, 11:50:04
Auch ich kann mich als Nachkriegskind (Jg. 1948) noch gut erinnern, dass ich mit Marken zum Einkaufen geschickt wurde (ehem. DDR). Marken für Kohlen etc. gab es noch viel länger! Häufig nutzten selbst die Marken nichts: es gab oft einfach keine Butter.
sittingbull
sittingbull
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Re: Wer erinnert sich....?
geschrieben von sittingbull
als Antwort auf gerry vom 26.06.2011, 11:50:04
In der Bundesrepublik wurden sie 1950 abgeschafft, in der DDR erst acht Jahre später.
Auch eine "Errungenschaft auf dem Weg zum Sozialismus."


die DDR musste ja auch ihren reparationspflichten nachkommen und wurde nicht wie die westzonen mit
"marshall-plan" zum frontstaat aufgebaut.
man brauchte westdeutschland als strategischen , antikommunistischen vorposten...
und hat der bevölkerung über 40 jahre via "sozialgesetzen" und "sozialer marktwirtschaft"
eine funktionierende alternative zum sozialismus vorgegaukelt.
pünktlich zum "mauerfall" , hat das kapital dann diese "maske" von seiner fratze gezogen
und baut schritt für schritt jeden "sozialen fortschritt" wieder zurück .
deine häme ist völlig fehl am platz.

sitting bull

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Gillian
Gillian
Mitglied

Re: Wer erinnert sich....?
geschrieben von Gillian
als Antwort auf sittingbull vom 26.06.2011, 13:44:46
Sittingbull, du hast recht damit: Der Westen Deutschlands bekam den Marshallplan und einen besseren Start - und der Osten bezahlte die Reparationskosten an die SU, und zwar für ganz Deutschland! (Diese Tatsache hat Karl mal in einem Artikel ganz neutral beschrieben).

Mir würde es sehr leidtun, wenn diese "Erinnerungen" jetzt nur noch ins Politische abtreiben und wieder Ost und West gegeneinander aufgebracht würden.

Kurz nach dem Krieg herrschte doch meiner Erinnerung nach in ganz Deutschland die gleiche Not. Die späteren unterschiedlichen Entwicklungen sollten hier (des lieben Friedens willen) außer Acht gelassen werden.

Einverstanden?
G.
minu
minu
Mitglied

Re: Wer erinnert sich....?
geschrieben von minu
Wir, in der Schweiz hatten auch Lebensmittelkarten.
Die Mütter tauschten sie untereinander aus.

Hunger hatten wir immer, so dass wir immer auf der Suche waren,im Wald und auf den Feldern.Beeren, Pilze, Sauerklee, Sauerampfer...

Mein kleiner Bruder hatte so grossen Eiweissmangel, dass er sogar Würmer ass.Er sitzt schon lange im Rollstuhl.Die andern Brüder waren so mager, dass die Rippen hervortraten.

Das ist vielleicht auch ein Grund, dass viele, dieser Generation, rundlich sind.

Ich will nie mehr hungern, habe ich mir auch gesagt.
Wenn ich nur ein Stücklein Brot essen kann, fühle ich mich gut.

Emy
sarahkatja
sarahkatja
Mitglied

Re: Wer erinnert sich....?
geschrieben von sarahkatja
als Antwort auf sittingbull vom 26.06.2011, 13:44:46
Wenn man Gerrys Erinnerungen richtig liest, dann weiß
man, dass diese Erinnerungen tief in ihm verwurzelt sind.

Es ist keine Häme, und wer auch seine früheren Beiträge gelesen hat, der weiß auch, dass er mit der Entwicklung, so wie sie gelaufen ist, nicht einverstanden ist.
Wenn auch ironisch oder humorvoll, so hat er sie doch kritisiert.

Die Freiheit zu sagen, was man denkt, hatten die ehemaligen DDR Bürger nicht,
und auch das, hat er nicht vergessen.

Was die Kind- und Jugenderinnerungen betrifft, so denke ich auch noch an die klammen Finger im Spätherbst, wenn wir die Bucheckern aufklaubten, um
an ein wenig Öl zu kommen und an das Stubbenroden, denn der Wald war leer gefegt.

Eine Kaffeemühle besaßen wir nicht mehr. Nach unserer Ausbombung
und Vertreibung, innerhalb von 24 Stunden aus Oberösterreich durch die Amerikaner, die uns alles abgenommen hatten, (wir mussten durch ein Spalier von amerikanischen Soldaten mit Gewehren, und alles, was wir noch bei uns trugen, fallen lassen.)

Es blieb auf dem Bahnhofboden liegen und unsere österreichischen Freunde brachten das spärliche Gut
wieder zu den Bauern zurück, bei denen wir einquartiert gewesen waren.

Arbeiten auf den lippischen Feldern, um wenigstens, nach einem arbeitsreichen Tag, den größten Hunger mit einem Sirupbrot, ohne Butter, zu stillen.

Nein, die lippischen Bauern waren keine Oberösterreicher, da bekam man wenigstens selbstgebackenes Brot und deftigen, fetten Speck, und nicht zu vergessen, den selbsthergestellten Most.

Diese Erinnerungen, vergisst man nicht.

Einen guten Sonntag
wünscht Sarahkatja

gerry
gerry
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Re: Wer erinnert sich....?
geschrieben von gerry
als Antwort auf sarahkatja vom 26.06.2011, 15:18:39
Liebe sarahkatja, ich danke Dir für Dein Statement.
Wir waren nach der Flucht in Halberstadt am 8. April 1945 noch ausgebombt worden
und kamen so auf ein Dorf in der Nähe.
Da befindet sich ein großes, geschlossenes Buchenwaldgebiet, der Huy.
Daher kenne ich das Bucheneckern-Sammeln auch sehr gut.
Da gab es im Dorf einen, der hatte sich eine kleine Ölmühle zusammengebastelt,
verlangte aber auch seine Prozente an den Naturalien.
Jeder musste sehen, wie er "über die Runden" kam.

Im Frühjahr gingen wir als Kinder zu den Bauern Rüben verziehen.
Natürlich nach der Schule.
Da gab es dann eine Tüte Mehl, ein paar Eier, etwas Schmalz oder Ähnliches.
Zwischen die Rüben säten viele Bauern Radieschen, die für uns ein besonderer Anreiz waren.

Um auf Gillians Frage zurückzukommen:
In unserem Dorf wurde sehr darauf geachtet, dass niemand Rübensyrup kochte.
Der Dorfpolizist war ständig hinterher, es war verboten, wie das "Schwarzschlachten."
Natürlich wurde es trotzdem getan, man erwischte ja nicht Jeden.
Der Volkswirtschaft sollten keine Nahrungsmittel "entzogen" werden.


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