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Religionen-Weltanschauungen Religion - was ist das eigentlich?

qilin
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Religion - was ist das eigentlich?
geschrieben von qilin
Religion ist zuerst mal die Verdeutschung von lat. religio, das häufig zurückgeführt wird auf religare (zurückbinden) - diese Deutung geht zurück auf den Kirchenlehrer Lactantius; die Substantivierung hieße dann jedoch eigentlich religatio (Anbinden). Cicero hat es auf relegere (nochmals lesen, wieder durchgehen) zurückgeführt - hier wäre die Substantivierung richtig.
Daraus geht für mich hervor, dass das Wort
a) nicht von einer bestimmten 'Religion' für sich allein reserviert werden kann, und
b) dass es dabei nicht primär um Glaubensinhalte geht, sondern um eine Zugangsweise, Haltung der 'Natur' (der manifesten Wirklichkeit) gegenüber.
Im Englischen ist diese Bedeutung noch erhalten in dem Wort religiously, das nicht 'gläubig' heißt, sondern 'gewissenhaft, peinlich genau' - wenn ich 'nochmals hinsehe', 'genau betrachte', dann hinterfrage ich, was sich dem ersten Blick darbietet - nämlich das, was der platte Materialismus als Einziges anerkennt... Religiös ist für mich nicht jemand, der einer bestimmten Konfession anhängt, sondern wer ernsthaft versucht, 'die Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit' zu sehen - auf welchem Weg auch immer.
Dieser Weg muss nicht unbedingt der einer Mitgliedschaft bei einer religiösen 'Partei', irgendeinem Bekenntnis, sein - er kann sogar völlig ohne dualistische Unterscheidungen auskommen wie die Advaita Vedanta im Hinduismus. Vor vielen Jahren bin ich einmal auf einen kurzen Text von Wittgenstein gestoßen, der diesen Punkt genauer beleuchtet:

Es kann nicht oft genug wiederholt werden, daß nicht jede Form von Religion notwendigerweise mit religiösen Aussagen verbunden ist. Daß wir kein Kriterium haben, um zwischen wahren und falschen religiösen Aussagen unterscheiden zu können, trifft zu. Wenn eine Aussage sich überprüfen läßt, wissen wir schon, daß sie keine religiöse Aussage ist. Es trifft aber nicht zu, daß religiöse Aussagen völlig willkürlich sind, weil sie auf je vorfindliche, bestimmte religiöse Bedürfnisse antworten müssen. Diese hängen eng zusammen mit der Lebensform und Lebensgeschichte des jeweiligen Menschen und sind darum verschieden von Kultur zu Kultur, von Epoche zu Epoche, ja selbst zwischen Angehörigen ein und derselben Kulturepoche.
Man muß zwischen zwei grundlegend verschiedenen Arten von Religion unterscheiden. Man könnte die primäre Form die 'Glaubenslose Religion' nennen. Wer auf die glaubenslose Art religiös ist, ist entweder zu religiösen Aussagen noch gar nicht vorgestoßen, oder er hat sie schon wieder abgeworfen. Die glaubenslose Religion kann als solche nur aufrechterhalten werden, wenn die Vernunft das wie mit Gewalt zum Wort Hindrängende gar nicht zum Wort kommen läßt.
Die Handlungen (alle vorprädikativen Reaktionen) des menschlichen Geistes sind das Material, aus welchem die Sprache gefertigt ist. Wenn aber die vorprädikative zum Wort hindrängende Religion zum Wort gelassen wird, dann konstituieren sich religiöse Aussagen, bildet sich ein religiöser Glaube. Ihres prädikativen Überbaues wegen hat die Glaubensreligion die Eigenschaft, viel zu reden und viel von sich reden zu machen. Die glaubenslose Religion hingegen ist sprachlos und wirkt ganz im Stillen, weswegen sie in der Regel als Religion weder erkannt noch anerkannt wird. Legitimitätsprobleme hat nur die Glaubensreligion, und je weniger sie grammatisch aufgeklärt ist, desto virulenter sind diese Probleme.


Das passte nun genau zu einem Problem, das mir aus der Studentenzeit bereits vertraut war - damals hatte der Logik-Dozent den Unvollständigkeitssatz von Gödel vorgestellt, der bewiesen habe, dass ein beliebiges, zumindest hinreichend komplexes, Gedankengebäude entweder vollständig sein kann oder widerspruchsfrei - nie aber beides zugleich; ein System kann nicht innerhalb seiner selbst beweisbar sein. Mir wurde dann aber bald klar, dass auch die herkömmlichen Religionen - ob Buddhismus, Christentum, Islam oder was auch immer - 'Weltbilder' sind, Gedankengebäude, auf die der Gödelsche Satz anwendbar ist; die versuchen, Beweise aus dem zu Beweisenden zu konstruieren - ein vergebliches Unterfangen, was aber wiederum nichts aussagt über die letztliche Wahrheit oder Unwahrheit ihrer jeweiligen Aussagen - nur dass diese einander in vielen Punkten widersprechen, und eben alle nicht überprüfbar sind... "Gott sagt 'Du sollst dir kein Bild machen noch irgendein Gleichnis'" - aber ist es nicht so dass, wer 'Gott' sagt, sich eben damit bereits ein Bild macht? Am nächsten kommen diesen Überlegungen wohl die Mystiker - soweit ich sehen kann aller Religionen ohne große Unterschiede - von den Mysterienkulten der Antike über Pseudo-Dionysius, die Sufi im Islam, die jüdische Kabbala, die deutsche und spanische Mystik bis zu den entsprechenden Richtungen in Hinduismus, Buddhismus und Taoismus. Und zwischen all diesen gibt’s meist nur recht wenige Streitpunkte... emoji_yum

Was ich hier versuche ist, zu meinem Standpunkt auch eine Begründung herzuleiten - die Kernaussagen wären vielleicht

"Religion ist nicht nur die [sowieso nicht verifizierbare] Antwort, sondern bereits die Frage selbst."

"Die von Menschen gemachten religiösen Systeme haben dieselben Probleme wie alle anderen menschengemachten Systeme auch."

Meine persönliche Meinung ist, dass die/viele Mystiker der Wahrheit am nächsten kommen, wenn sie übereinstimmend sagen dass man diese persönlich erfahren, sie aber nicht mitteilen kann - insofern wäre eine religiöse Gemeinschaft [und deren Aussagen] immer nur eine [menschliche Hilfs]Konstruktion. Ein amerikanischer Religionswissenschaftler (Frederick Spiegelberg in 'Die lebenden Weltreligionen') hat diesen Mechanismus einmal recht eindrucksvoll beschrieben:

"Es gibt da eine Geschichte von einer merkwürdigen Gruppe von Menschen, die sich um einen Mann scharten, der Atheist und Agnostiker war, eine in Indien außerordentlich seltene Geistesverfassung. Er war ein Mensch, der mit dem ganzen Korpus religiöser Übung, die zur Entartung der unmittelbaren Erkenntnis von Wahrheit führte, aufräumen wollte. Er zog Jünger an, die sich jeden Sonntag um ihn zu versammeln pflegten, während er zu ihnen von seinen Prinzipien sprach. Mit der Zeit versammelten die Jünger sich, um auf das Erscheinen des Meisters zu warten, denn sie kamen gern zusammen und sangen, ehe er kam. Schließlich wurde ein Gebäude zum Schutze der Jünger errichtet und dem Agnostiker ein Zimmer darin eingeräumt. Nach seinem Tod wurde es bei seinen Anhängern Regel, sich vor seinem leeren Zimmer zu verbeugen, ehe man die Halle betrat. Auf einem besonderen Tisch wurde sein Bild in einem goldenen Rahmen aufgestellt, und Kinder legten Blumen und Weihrauch dort nieder. In wenigen Jahren war eine Religion um diesen Mann gewachsen, der zu Lebzeiten an nichts dergleichen geglaubt, ja der seinen Anhängern vielmehr gesagt hatte, derartige Praktiken seien in sich schlecht. Dies sei ein bescheidenes Gleichnis für die Entwicklung jeden Glaubens." emoji_grinning

(Ich war nicht sicher ob ich das nicht vor einigen Jahren schon mal hier eingestellt hatte, bin aber mit der Suchfunktion nicht fündig geworden)

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