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Soziales Wie empfinden uns andere?

navallo
navallo
Mitglied

Wie empfinden uns andere?
geschrieben von navallo
Unsere Empfindungswelt wird in früher Kindheit geprägt. Solange einer nichts anderes kennt, avanciert diese seine Welt nicht selten zu seinem allgemeingültigen Maßstab – ungünstigstenfalls ein wie vom Rand einer Klobrille begrenzter Horizont - Quelle für Rassismus und Dünkelhaftigkeit. Dagegen ist später rational nur schwer anzugehen. Es ist auch Erwachsenen kaum möglich, eigenem Empfinden Befehle zu erteilen. Die Reaktionen darauf aber sollte jeder unter Kontrolle halten können – erst recht beim Umgang mit Fremden.

Es gibt Völker, die harsche Ausdrucksweisen und starke Reaktionen quasi in die Wiege gelegt bekommen, und andere, die schon als Kinder selbst rasende Wut gelassen unter Höflichkeiten zu verbergen lernen. Neben verbal-sachlichen Verständigungsmöglichkeiten gibt es meines Erachtens eine Art „Muttersprache der „Empfindungen“. Insofern können bei unterschiedlicher kultureller Herkunft sogar wörtliche Übersetzungen völlig voneinander abweichende Gefühle und Reaktionen auslösen. Als ich eine russische Offiziersgattin mal arglos fragte, ob sie in den Jahren ihres Aufenthaltes in der DDR etwas Deutsch gelernt habe, war das bereits eine schwere Beleidigung und führte zum Abbruch der Kontakte. Bis heute weiß ich nicht, ob ich ihr Schamgefühl verletzt hatte oder vielleicht mein Russisch zu schlecht war )

Da fallen mir eine Menge durch Herkunft bedingte Empfindungs-Unterschiede ein:

Die meisten Frauen ertrugen es in Georgien völlig klaglos, ohne männliche Begleitung, wenn überhaupt, keine Gaststätte (es gab Ausnahmegaststätten) betreten zu dürfen, nach Eheschließung (konkret renommierte Wissenschaftlerin) keine beruflichen Auslandsreisen vom Gatten „genehmigt“ zu bekommen und in wichtige Familienangelegenheiten (konkret Autokauf) nicht eingeweiht zu werden. Was uns als harmloser Flirt imponiert, kann dort für einen Mann ausreichen, sich an der nächsten dunklen Ecke mit einem Messer zwischen den Rippen wiederzufinden. Die Geburt eines Knaben ist weitaus willkommener als die eines Mädchens. Greift ein 4-jähriger einen Erwachsenen mit einem Küchenmesser an und verletzt diesen, wird ihn sein Vater als „mutigen Prachtkerl“ loben, anstatt ihn in die Schranken zu weisen.

Nicht nur Mexikaner haben ein völlig anderes Verhältnis zum Sterben und zur Trauer als wir.

Unsere stringente Tageszeiteinteilung gilt nicht überall. Pünktlichkeit ist vielerorts rar. Mit übertriebener Genauigkeit – z. B. Uhrzeitangabe in Minuten - macht man sich lächerlich. Man lebt an solchen Orten ungestreßter.

Viel Grausames geschieht „im Namen der Ehre“. Es ist auch in Deutschland noch nicht so lange her, das unseren Vorvorderen derartige Auffassungen (Heldentod, Mensuren bei Studenten, Duelle, Selbstmord bei Bankrott, ...) eingetrichtert wurden. Gewandelt hat sich das erst durch die bitteren Erfahrungen des 2. Weltkrieges (– leider offensichtlich nicht bei allen).

In arabischen Ländern kann es eine Beleidigung des Hausherren sein, sich nach dem Befinden der Gattin zu erkundigen oder die Hausfrau gar zu loben (, wohingegen deutsche Gastgeberinnen gerne Schmeicheleien hören). In England sollte man die Frage vermeiden, ob ein Essen geschmeckt hat.

Der Gebrauch eines Taschentuchs gilt anderenorts als ausgesprochene Sauerei (und ist es auch, wofern man darüber nachdenkt). In Hindukulturen erregt das Übergeben eines Geschenks mit der linken Hand Ekel („Arschwischhand“).
Wovor wir uns ekeln wird woanders als Delikatesse verspeist. Dafür ekeln sich andere vor unserer „Käsefresserei“.

Selbst als ernsthaft Kranker empfindet sich ein Vietnamese als „weniger wert“, wenngleich ihm Mitleid keineswegs verwehrt wird. Der Krankenstand ist dort aus diesem sozialem Empfinden entsprechend niedrig, ohne daß die Angst um den Arbeitsplatz dafür, wie bei uns, ausschlaggebend ist.

Amerikaner erkennt man in Hafen-Duschanlagen daran, daß sie schamhaft in Unter- oder Badehosen duschen – die Frauen entsprechend in Unterwäsche oder Badesachen (hab ich nicht selbst beobachtet; wurde mir nur erzählt ).

Inzwischen kann ich mir auch einen Reim darauf machen, weshalb man in überfüllten Ostseehäfen außerhalb der Bundesrepublik unter deutscher Flagge schlechter einen Liegeplatz ergattert. Die Dänen sind zu gut erzogen, uns ihre erfahrungsgemäßen Vorbehalte direkt an den Kopf zu werfen.

Wer kennt andere Beispiele für von unserem Empfinden abweichende prägende Normen? Wie reagiert man am klügsten bei aufeinanderprallenden Ansichten?

--
navallo
lissi
lissi
Mitglied

Re: Wie empfinden uns andere?
geschrieben von lissi
als Antwort auf navallo vom 30.03.2009, 17:57:20
Souverän! )

Lissi
Drachenmutter
Drachenmutter
Mitglied

Re: Wie empfinden uns andere?
geschrieben von Drachenmutter
als Antwort auf navallo vom 30.03.2009, 17:57:20
Kürzlich las ich in einem sehr interessanten Buch über die Lüge auch über solche Unterschiede in den Kulturen.

Ein Beispiel. Ein US-Amerikaner wird einen Fremden, der ihm begegnen mit einem Lächeln auf dem Gesicht begegnen. Das wird von den Deutschen oft als Falschheit ausgelegt. Das coole, unbewegte Gesicht eines Deutschen, der sein Gegenüber nicht einmal eines Blickes würdigt, wird dagegen von einem US-Amerikaner als Unfreundlichkeit und Überheblichkeit angesehen.

Ein weiteres Beispiel. Ein Chinese wird niemals direkt eine Bitte abschlagen, er erfindet tausend freundliche Gründe, warum die Bitte grad in diesem Moment nicht erfüllt werden kann. Ein direktes NEIN auf eine Frage gilt in China als Unhöflichkeit. So ungehobelt benimmt sich kein Chinese.

Drittes Beispiel. In Lappland gilt die Frage nach der Anzahl der Tiere in einer Herde von Rentieren als unhöflich. Für einen Samen ist die Anzahl seiner Tiere ebenso geheim, wie für uns unser Kontostand. Nur der Besitzer der Herde kennt die genaue Anzahl, sonst niemand.

Liebe Grüße,

--
woelfin

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senhora
senhora
Mitglied

Re: Wie empfinden uns andere?
geschrieben von senhora
als Antwort auf navallo vom 30.03.2009, 17:57:20
Ein sehr interessantes Thema.

Kenntnisse und Akzeptanz von Sitten, Gebräuchen und Mentalität fremder Kulturen wird immer wichtiger, je öfter Menschen in dieser umtriebigen Welt damit in Kontakt kommen. Das sture Beharren auf ausschließlich den eigenen Wertekanon erschwert den Dialog und kann ihn fast unmöglich machen.
Die Folge ist ständige Konfrontation, besonders, wenn sich Reaktionsstereotype eingestellt haben, die Konfliktsituationen automatisch nach sich ziehen. Jeder hat seine persönliche Brille, durch die er andere Kulturen betrachtet, mehr Verständnis und Interesse für das Fremde führt erst zu einer sinnvollen Interpretation von Wort und Schrift, Gestik und Mimik.
Ich halt keine Einstellung von Gott gegeben, sie kann verändert und angepasst werden, der „Klobrillen-Horizont“(lach) kann erweitert werden. Der Wille dazu muss natürlich vorhanden sein.

Dann bleibt ein solches (gelesen und nacherzählt) Missverständnis aus:

Ein amerikanischer Rechtsanwalt fuhr mit einem Regierungsvertreter seines Staates nach Japan. Er hielt dort eine Ansprache vor hohen japanischen Beamten. Nach Beendigung der Rede war er verunsichert und ganz niedergeschlagen, da nach seinem Eindruck alle Zuhörer eingeschlafen waren. Was er nicht wusste, in Japan ist es ein Zeichen höchster Aufmerksamkeit, bei einer Rede die Augen zu schließen und leicht zu nicken.

senhora
Karl
Karl
Administrator

Re: Wie empfinden uns andere?
geschrieben von Karl
als Antwort auf navallo vom 30.03.2009, 17:57:20
Ja Navallo,


kulturelle Unterschiede sind sehr häufig der Anlass für Missverständnisse. Wir haben berufsbedingt Gäste aus aller Welt gehabt und die kuriosesten Sachen erlebt und uns selbst eventuell oft völlig daneben benommen. In Bälde werde ich mit Margit erstmals aus beruflichen Gründen nach Japan reisen. Im Vorfeld hat es bereits manches sprachliche Missverständnis gegeben, nicht weil unsere Gastgeber nicht gut Englisch sprechen würden, nein, vor allem deshalb, weil sie nicht nein sagen können, wir aber eher gewohnt sind unsere Wünsche direkt zu äußern. Um weitere Missverständnisse zu vermeiden, haben wir uns heute mit Literatur über Japan eingedeckt, inklusive eines kleinen Buches "Kulturschock Japan". Wir werden uns in Vorbereitung der Reise auch neue Visitenkarten drucken lassen, denn diese spielen dort wohl eine große und notwendige Rolle. Margit und ich haben beschlossen, während dieser Reise auch ein online Tagebuch zu führen. Die Vorfreude ist groß, aber wir wollen vermeiden, dass wir uns dort als Europäer völlig dumm verhalten werden. Japanisch ist allerdings eine sehr schwere Sprache und ich werde deshalb nicht den Ehrgeiz entwickeln, mir diese Sprache anzueignen. Bei Margit bin ich mir da weniger sicher.
--
karl
marianne
marianne
Mitglied

Re: Wie empfinden uns andere?
geschrieben von marianne
als Antwort auf Karl vom 30.03.2009, 21:55:52
Karl:
Jetzt schon gute Wünsche dafür- für dich und deine Frau-
für die Vorbereitung und für die Durchführung!

Marianne

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Mitglied_81b4260
Mitglied_81b4260
Mitglied

Re: Wie empfinden uns andere?
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf Drachenmutter vom 30.03.2009, 21:35:36
Meiner Erinnerung nach war es Eibl-Eibesfeldt, der in der von der US-besetzten Zone Deuschlands die gegenseitige Zuschreibung der Ungezügeltheit des jeweils anderen Geschlechts auf eine unterschiedliche Reihenfolge des "üblichen" bzw. "so tut man" Pettingverhaltens zurückführte.
--
mart1
Medea
Medea
Mitglied

Re: Wie empfinden uns andere?
geschrieben von Medea
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 30.03.2009, 22:16:40
Oh eine kleine persönliche Geschichte kann ich
beisteuern, die sich vor ca. 45 Jahren bei uns
abspielte. Mein amerikanischer Schreibfreund, Student an der Uni in Illinois machte einen Deutschlandbesuch und meine Eltern luden ihn zum Essen ein. Es gab Rindsrouladen mit Klößen und Rotkohl. Bevor Tom mit dem Essen begann, schnitt er Rouladen und Klöße in Stücke, nahm in die rechte Hand die Gabel, legte den linken Arm unter den Tisch auf sein Knie und begann mit dem Essen. Auf Tischsitten wurde in meinem Elternhaus sehr geachtet, meine Mutter guckte befremdet, mein Vater dito und ich merkte, wie ich schamrot wurde. Ich wollte doch, daß er in einem guten Licht erscheine und nicht so proletenhaft nur mit der Gabel aß.

Später habe ich erfahren, daß sein Eßverhalten total normal für amerikanische Verhältnisse war, die wunderten sich nämlich ihrerseits über die komplizierten Deutschen und deren Eßgebaren.


Medea
liwo63
liwo63
Mitglied

Re: Wie empfinden uns andere?
geschrieben von liwo63
als Antwort auf Medea vom 31.03.2009, 08:28:27
Hallo.......Tiurma, ein junge Frau vom Toba See/Sumatra - Indonesien lebte 1 Jahr bei uns. Sie hatte in Medan Deutsch studiert und wir wollten ihr die Chance geben die Sprache zu verbessern.
Je trauriger die Nachrichten von zu hause waren, umso lauter lachte sie darüber.
Das war sehr gewöhnungsbedürftig für uns. Aber wir merkten schnell, dass sie so ihre Betroffenheit zeigen wollte.
--
liwo63
navallo
navallo
Mitglied

Re: Wie empfinden uns andere?
geschrieben von navallo
als Antwort auf liwo63 vom 31.03.2009, 16:56:26
Ein Chinese wird niemals direkt eine Bitte abschlagen, er erfindet tausend freundliche Gründe, warum die Bitte grad in diesem Moment nicht erfüllt werden kann.
geschrieben von woelfin

Ein Freund berichtete mir über eine ähnliche, ihm aber sehr peinliche Situation. Seine Frau hatte als Gast bei Beduinen dortige Teppiche bewundert. Bei der Abreise lag ein verpackter Teppich als Geschenk parat. Eine Ablehnung wäre beleidigend gewesen.

@karl und margitt
Als kleine Kuriosität in der Gastgeberrolle ist mir in Erinnerungen geblieben, wie ich zwei Kollegen partout nicht davon abhalten konnte, die belegten Brötchen mit Messer und Gabel zu essen.

Wie ich Euch um die Japanreise beneide! Äähächt!
Schon allein wegen der Reisevorbereitungen. Es kommt ja immer ganz gut an, wenn man sich ein paar Brocken der fremden Sprache draufgesattelt hat. Man darf nur nicht so gut sein, daß der andere einem in einem Redeschwall seiner Sprache antwortet. Da kann man dann ganz schön doof aussehen.
Nehmt ein GPS mit, damit ihr Eure Unterkunft immer wieder findet (kaum Hausnummern und Straßenbezeichnungen).

@mart1
So ist das mit den Vorurteilen. Unsere Tante Käthe (später Catherine, JG. 1898, USA seit 1922) hatte die von dir geschilderten Eßgewohnheiten und bevorzugte deshalb bei Restaurantbesuchen in Deutschland Löffelgerichte. Die Empfindungen und Bräuche der Amerikaner haben sich in sehr kurzer Zeit schon weit weg von denen ihrer germanischen Stammesbrüder entwickelt. Amis lassen von außen keine Kritik zu, wohl aber aus den eigenen Reihen. Das ist wohl auch der Grund, warum wir von julchen und anderen im ST nichts mehr hören. Vielleicht schämen sie sich heute sogar ein wenig wegen der Parteinahme für Bush. Das ist schade. Als mein Schwiegervater gegenüber seinem Bruder Aloys (in USA seit ca. 1923) Reagan als „Film-Cowboy“ bezeichnete, schlug die Empörung hohe Wellen und führte zu längerer Funkstille. Auch der Kunstgeschmack kann sehr anders akzentuiert sein – Beispiel: als Gastgeschenk ein lebensgroßer Porzellanpfau mit echten Pfauenfedern )

--
navallo

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