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1983

 

Der Bär

 

von  Anna Höge

 

Während meiner ersten nächtlichen Sitzwache erschien er, konturlos, schwarz und riesig. Er stand reglos in linken Ecke des Zimmers - gegenüber dem Bett, an dem ich saß. Mit meinen müden Augen versuchte ich, das Dunkel zu durchdringen, das die verhängte Nachtleuchte nicht zu erhellen vermochte.

 

Mutter hatte am Tage nicht ein einziges Mal gesprochen. Sie dämmerte dahin am Rande des Nichts. Kurze Perioden der Unruhe ließen auf einsetzende Schmerzen schließen. Meine Furcht, sie könne  - von mir unbemerkt - leiden, wurde von Stunde zu Stunde größer, so daß ich die Augen kaum von ihr wenden mochte.

 

Nach Einsetzen der Dunkelheit hatte Mutter einige Male versucht zu sprechen, und ich ahnte mehr als daß ich hörte:

„Du verstehst nicht!“

Plötzlich sah ich sie erneut die Lippen bewegen.

Ich beugte mich über sie. Mein Ohr lag ganz nahe an ihrem Mund, und ich horchte.

Kein Laut fand den Weg zu mir. Nur an ihren Bewegungen erkannte ich etwas Ähnliches wie „Ach du!“

 

Meine Hände streichelten das klein gewordene Altfrauengesicht.

Mehr ließen all die Kanülen und Katheder nicht zu.

Es betrübte und erleichterte mich zugleich.

Eine unbestimmte Scheu ließ mich fürchten, allzuviel Berührung könnte ihr nicht recht sein.

 

Der Bär hatte sich etwas zurückgezogen und schien kleiner zu werden. Ich versuchte, ihn zu ignorieren. Es gelang mir nur teilweise, indem ich mich ganz zu Mutter wandte. All meine Willenskraft konzentrierte sich darauf, sie zum Loslassen, zum Sich-Ergeben zu bewegen. Sie war aber noch nicht bereit und widerstand dem Zugriff des Dunkels.

Ich betrachtete die wächserne Hand, die frei und eigentümlich schön auf der Bettdecke lag, während die andere, am Tropf hängende, unsichtbar neben dem Bett ruhte.

Ich ergriff die frei Hand, wenn sie sich von Zeit zu Zeit unruhig werdend hob, und dann ruhte sie heiß und trocken in meinen Händen, bis sie sich entzog und ihre unruhige Wanderung wieder aufnahm.

 

Der Bär näherte sich erneut.

Ich spürte es, ohne ihn zu sehen.

Mutter lag bewegungslos, und im Zimmer war es ganz still.

 

Ich ließ die Augen unruhig im Zimmer umherstreifen. Sie verharrten auf dem leeren Bett, in dem noch vor einigen Tagen eine andere alte Dame gelegen hatte. Sie war den Weg vorangegangen, in dieser letzten Woche, in der Mutter nicht mehr ansprechbar gewesen war, und in der der Arzt ihr von Tag zu Tag „höchstens 24 Stunden“ gegeben hatte.

 

Langsam verließen mich meine Kräfte. Ab und zu waren in der letzten Zeit wohl Mutters Enkelkinder gekommen, aber nur für kurze Zeit, und nur, um mir zu sagen, daß alle mit den besten Wünschen bei mir sein, und daß sie gerne mit mir tauschen würden, um Mutter zu helfen. Aber alle hatten sie ihre Arbeit oder ihre Familien, die sie nicht im Stich lassen konnten.

 

Einmal, nach Feierabend, war sogar Mutters Liebling erschienen, hatte einen kurzen Blick auf das Bett geworfen, war dann in Tränen ausgebrochen und verschwunden.

Er ließ mich kalt, und ich beobachtete seinen Abgang wie ich eine interessante Spielszene beobachtet hätte. Zwischen uns war kein einziges Wort gefallen.

Nach diesem Besuch hatte sich niemand mehr blicken lassen.

 

Die Schwestern hatten mir inzwischen eine Liege in das Zimmer gestellt. Ich traute mich jedoch nicht, sie zu benutzen. Ich fürchtete, mir könne etwas entgehen, etwas Wichtiges.

Mutter und ich lebten wie unter einer Glasglocke, und hartnäckig hielt sich der Glaube in mir, sie müsse noch einmal die Augen aufschlagen und etwas sagen, das den Bezug zu unser beider Leben wieder herstellen könnte - obwohl - ich wußte es besser!

 

Endlich fand ich die Kraft, mich vom Bett zu lösen.

Im Moment, da ich mich erhob, wuchs der Schatten in der Ecke ein klein wenig an.

Meine Beine durchmaßen nervös das Zimmer

Ich bemühte mich, so zu gehen, daß ich den Bären nicht sehen mußte.

Ein Seufzen, das wie ein Flüstern klang, brachte meine unruhige Wanderung zu einem Ende.

Ich eilte ans Bett zurück.

 

Mutter bewegte die Lippen. - O, o. formten sie im schmerzverzerrten Gesicht. Ohne, daß ich meine Augen von ihr löste, fand meine Hand die Klingel. Die andere legte sich beruhigend streichelnd auf ihr gequältes Antlitz.

Mutter hob abwehrend beide Hände, flüsterte. „Schmerzen....!“ - Panisch drückte ich die Klingel - ohne Erfolg!

Ihre stumme Qual schnitt mir durch die Seele. Das Bett zu verlassen, erschien mir unmöglich, und ich klingelte weiter.

 

Mutter fiel zurück ins Koma. Nur ab und zu zuckte die Hand über der Decke. Ich verließ meinen Platz, verließ das Zimmer und versuchte, irgend jemanden zu finden.

Der Gang war leer und weiß und roch nach Desinfektion. An einigen Türen leuchteten blaue Lichter. Klingeln, die gedrückt wurden! - Kein Mensch weit und breit. Ich lief in die Küche, ins Schwesternzimmer, ins Ärztezimmer.

 

Und hinter mir - nah und riesig wie nie - spürte ich den Bären.

Seine Atemzüge streiften meinen Nacken.

 

Ohne mich umzudrehen lief ich gehetzt die Gänge entlang. - Um die Ecke. - Um die nächste. - Bis ich auf eine Schwester traf, die gerade die Treppe heraufkam.

Ich brachte nur ein Stammeln hervor. Beruhigend redete sie auf mich ein. Sie komme gleich mit mir, sagte sie, nur ins Schwesternzimmer müsse sie noch, um den diensthabenden Arzt zu alarmieren.

 

Damit nahm sie mich beim Arm, und ich stolperte mehr als daß ich ging neben ihr her. Ermutigt durch die Berührung wandte ich mich um.

 

Der Bär war verschwunden.

 

Und während die Schwester die Wählscheibe des Telefons drehte, quetschte ich zusammenhanglose Worte hervor: - Mutter! - Eine Spritze! - Große Schmerzen! - Schon länger!

Das Leuchten über den Türen flimmerte blau vor meinen Augen. Die Schwester führte mich sanft zum Zimmer zurück.

Mutter war sehr unruhig.

„Laßt doch, laßt doch, hat doch keinen Zweck....!“, kam es schwach von ihren Lippen, als die Schwester die Infusionsflasche wechselte.

„Haben Sie Schmerzen?“, fragte sie.

Mutter nickte kaum merklich.

„Wir geben Ihnen sofort etwas!“ - Die Schwester sprach sehr laut. Dann nahm sie meinen Arm und zog mich aus dem Raum,.

„Sie müssen sich hinlegen!“, sagte sie.

 

Hinter mir gähnte der Bär. Ich spürte es ganz deutlich.

„So geben sie ihr doch endlich eine Spritze!“, versuchte ich zu schreien, aber meine Stimme versagte.

Die Schwester verstand mich trotzdem.

„Ich kann das nicht tun! - Die Vorschriften! - Das darf nur der diensthabende Arzt!“

Der Bär hinter mir begann augenblicklich zu wachsen.

Ich spürte sein aufgerissenes Maul.

Die spitzen Zähne streichelten meinen Nacken.

Ich erschauerte.

Tausend blaue Lichter zuckten vor meinen Augen, und ich versank in einem Meer von Schrecken, während der Bär groß, schwarz und drohend über mich kam.

 

Die Korridortür öffnete sich. Sachliche Kühle verbreitend erschien der Arzt mit einer Spritze in der Hand. Der Bär löste sich in Luft auf, und unter Aufbietung meiner letzten Kräfte folgte ich dem Arzt zurück in das Zimmer.

Er beugte sich über Mutter, fragte etwas. Aus weiter Ferne drang das Bild in mein Bewußtsein. Ich ließ mich auf die Liege sinken.

 

Meine Augen versagten den Dienst, schlossen sich.

Und über mir war der Bär.

Er nahm mir die Luft.

Mühsam rang ich nach Atem.

Unter der Last des riesigen Tieres erstickte ich fast.

Die Sekunden dehnten sich, wurden Minuten, Stunden - Ewigkeiten!

Niemand erkannte meine Not!

Ich blieb allein.

 

Der erste Grauschimmer kroch durch die Vorhänge.

Meine Lider ließen sich ein wenig heben.

Die Bestie auf meinem gequälten Körper wurde leichter.

Ich spürte es mit Dankbarkeit.

Je mehr die einzelnen Gegenstände im Schatten des Raumes Kontur gewannen, je matter das Licht am Kopfende des Bettes wurde, desto leichter wog das Gewicht auf mir.

 

Mutter lag unterdessen ganz still, und meine erschöpften Sinne begannen, sich langsam zu erholen. Ein Luftzug streifte mich, und erleichtert spürte ich die Freiheit meiner Glieder.

 

Der Bär war fort.

Ich ging am Ufer eines Flusses entlang.

Das Rauschen und Plätschern des Wassers erfüllte mich mit wehmütiger Vertrautheit.

Ich war auf dem Weg zu Mutter Haus.

Es war Richtfest, und ich hatte mich verlaufen.

Vor mir erspähte ich ein Schild mit einem dicken schwarzen Pfeil.

Ich folgte dem Pfeil, und der Weg führte mich vor das halbfertige Haus.

Im ersten Stock war der Boden bereits begehbar.

Das Dach war nicht gedeckt.

Ich erklomm den Boden, wo ich einen riesigen Tisch vorfand, auf dem allerlei Getränke und Speisen angeordnet waren.

 

Mutter saß am Kopfende der Tafel und schaute zufrieden über die große Gratulantenschar hin.

Alle waren gekommen, Geschwister, Enkelkinder, Nachbarn und Freunde.

Als ich mich der Tafel näherte, bemerkte mich keiner.

Mein Gruß wurde nicht erwidert, und nur ein Junge aus der Nachbarschaft schien mich zu bemerken.

Er winkte mir fröhlich zu und kam sogleich, um mit mir zu plaudern.

 

Am unteren Ende der Tafel entdeckte ich einen freien Platz, vor dem ein leerer Stuhl stand.

Ein Schild mit meinem Namen war auf der Stuhllehne befestigt.

Ich wollte mich schon dort niederlassen, als der Junge mich zurückhielt.

Das Mahl hatte noch nicht begonnen, und so entfernte ich mich mit ihm, um die altevertrauten Stätten meiner Kindheit zu besuchen.

Kaum waren wir jedoch angelangt, als die Glocke zu Tisch rief.

Der Junge bedeutete mir, mich zu beeilen, wenn ich am Fest teilnehmen wollte.

 

In jäher Furcht lief ich zurück, doch meine Beine versagten den Dienst.

Unter allergrößten Anstrengungen zwang ich mich vorwärts und kam schließlich in Sichtweite des Hauses.

Ich machte einen Schritt nach dem anderen, aber die Entfernung zwischen mir und dem Haus wurde nicht geringer.

Resigniert wollte ich aufgeben, als unmittelbar vor mir aus dem Nichts der große schwarze Bär erschien.

Er trotte langsam und gemächlich auf das Haus zu, und ich folgte ihm in gleichbleibender Entfernung.

 

Als wir am Festplatz ankamen, begab er sich auf meinen Platz und setzte sich nieder.

Ratlos blieb ich stehen und blickte über die lange Tafel.

Nachbarn und Freunde waren schon gegangen.

Nur Mutter und meine Geschwister saßen noch auf ihren Plätzen.

Sie schauten kurz auf, setzten dann aber ungerührt ihre Mahlzeit fort.

 

Ich begann zu zittern und zu schwitzen.

Ein dicker Kloß saß mir im Rachen und drückte und brannte fürchterlich.

„Mutter!“, entfuhr es mir.

Kaum einer nahm Notiz von mir.

Mutter aber sah mich mit einem langen liebevollen Blick voller Trauer an und sprach: „Armes Kind!“

 

Mein Herz tat einen gewaltigen Schlag und wollte stehenbleiben.

 

Ich wachte auf. Gerade war die Schwester eingetreten. Sie wechselte die Infusionsflasche und murmelte etwas. Mutter lag bewegungslos. Von Zeit zu Zeit hörte ich ihre flachen unregelmäßigen Atemzüge.

Ich wollte mich aufsetzen, an ihr Bett eilen. Aber die Augen fielen mir zu. Ich wehrte mich so gut ich konnte gegen den Schlaf. meine Lider ließen sich nicht mehr heben.

 

Ich versank erneut und fand mich auf einer langen staubigen Straße.

Zuerst glaubte ich, ich sei allein, und zielstrebig ging ich in Richtung eines großen leuchtenden Sterns, der mir fast greifbar nahe schien.

Die ganze Welt war in ein warmes gelbes Licht gehüllt, und der Himmel erstrahlte in intensivsten Violett.

Mir war wohl und warm.

 

Da erblickte ich neben mir den Bären, der ebenso wie ich dem Stern entgegenging.

An seiner Seite führte er Mutter - behutsam und zart.

Ich wollte etwas sagen, unterließ es aber dann.

So wanderten wir drei, verbunden in Schweigen.

Ich wünschte, der Weg würde nie enden.

Schon leuchtete in der Ferne ein weißer Fleck auf, der mich beunruhigte.

Ich hoffte, daß er sich in Nichts auflösen würde.

Aber er wuchs mit jedem Schritt, den ich tat.

Bis eine endlose weiße Wand meinen Blick auf den Horizont und den Stern verdeckte.

Hier endete mein Weg..

 

Und während Mutter und der Bär Arm in Arm gemeinsam die Wand durchschritten, erwachte ich inmitten strahlender Helligkeit. Der hohe Tag verströmte sein Leben in das tiefe Schweigen des Raumes.    

 

Copyright

Anna Höge/co. Karin Häsing

Sachsenstraße 35

52351 Düren


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