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1983

 

Im Sturm

 

von  Anna Höge

 

 

Als im Februar der blanke Hans ernst macht, mit gefräßigem Maul Menschen, Vieh und Äcker zu fressen versucht, als es ihm gelingt, Wilhelmsburg zu verschlucken, und Weser und Elbe, Ems und Jadebusen in schäumend tobsüchtige Ungeheuer zu verwandeln, da zeigt er den Stadtverordneten und Gemeinderäten, wo ihr Gewissen ist.

Die aber haben  keine Zeit, sich darum zu kümmern, müssen nun alles zusammen mit großen und kleinen Leuten am Hammelwarder Deich Sandsäcke schleppen, während Bauern und Siedler am Deich Möbel aus Erd- in Dachgeschosse tragen.

 

Und während jene ächzend und schwitzend an der Arbeit sind, steht Lore mit ihrer Freundin Friedl, beide Schülerinnen der Realschule, traumverloren und schwergewichtig, beladen mit einem riesigen Webrahmen für die Handarbeitsstunde im Schienenbus, der sie zur Schule fahren soll.

Eingeklemmt zwischen übermüdeten Seefahrtschülern und aufgeregten Frauen von der zweiten Kaffeekochschicht am Hammelwarder Deich steht sie und wünscht sich sehnlichst, ja, sie stößt sogar ein kurzes Gebet aus, daß der Schienenbus in den Wassermassen stecken bleiben möge.

Augenblicklich wird sie erhört.

Schon vor Hammelwarden ist die Fahrt zuende.

Das Wasser steht zu hoch auf den Schienen, hat, wenngleich an Kraft verloren während der Nacht, den Weg über die Deichkrone genommen und versucht nun, Maulwurfs- und Mäusegänge ausfüllend, dem Hindernis Deich Herr zu werden.

 

An der unfreiwilligen Endstation saugt ein Einsatzbus die vom Triebwagen ausgespuckte Menge ein. Lores Webrahmen fährt alleine per Bahn zurück. Lore hat ihn vergessen.

Solcherart zu Unbeschwertheit und Freiheit gelangt, entsteigt sie in Brake dem Bus, steht - unschlüssig zunächst , dem starken Nordost wie einem Gemäuer entgegengelehnt - da.

 

„He, kommste nich’ mit?“ - Friedl schreit gegen den Lärm an.

 

„Nee, ich muß noch zu meiner Tante!“

Die Worte kommen nur in Fetzen bei Friedl an, die achselzuckend, mit dem ganzen Körper gegen den Orkan ankämpfend, das Weite sucht, während Lore schnell den Mund zumacht, denn die wildbewegte Luft will sich wie eine Schlange in ihre Mundhöhle schlängeln. Wie ein erstickender Fisch macht sie einige Male den Mund auf und zu. Dann läßt sie sich, den Wind im Rücken, den Rock als Fahne voranflatternd, vorwärtstreiben. Die Bahnhofstraße hoch über den Bahnübergang in die Mitteldeichstraße läuft sie.

Linkerhand liegt der Binnenhafen. Unschuldig und unbeeindruckt, als ginge ihn der Sturm nichts an, bietet er Binnenschiffen und Kümos einen Ankerplatz. Und nur bei genauem Hinsehen, beim Näherkommen kann man sehen, was Gischt werden will, aber nicht kann, weil wackelnd und schwer die ganze Wasserfläche zugedeckt ist von Schiffskörpern, die schleunigst einen Schutz suchten, als das Toben der Elemente sich mit ersten Böen ankündigte.

 

Der Katastrophenwagen fährt durch die Straßen auf der Suche nach jungen Männern und Frauen, die Sandsäcke auftürmen, bzw. die Schwerarbeitenden mit Heißem und Kräftigem versorgen, denn man fürchtet einen Deichbruch bei Käseburg.

 

Während Lore den Weg in die Breite Straße Richtung Kaje läuft, fristet ihr Webrahmen im Braker Bahnhof auf dem Abstellgleis ein unbeachtetes Dasein, weil nichts ist wie es immer ist. Keiner hat den Schienenbus nach liegengebliebenen Gegenständen durchsucht, keiner mit der Reinigung begonnen, denn die Reinmachefrauen und auch die Schienenbusfahrer haben anderes zu tun heute.

 

Es ist inzwischen elf Uhr, und nichts läuft seinen gewohnten Gang. Der Bahnhof ist verschlossen, die Kneipen unbeaufsichtigt, die Straßen leergefegt.

 

Und immer noch kann Lore nicht genug kriegen. Sie läuft und läuft, um sich die Weser anzugucken. Sie läuft zur Kaje, kann aber nichts sehen, denn die Schotten sind dichtgemacht und mit Sandsäcken verstärkt. Alle Leute sind zum Käseburger Deich abgezogen.

Der aber ist zu Fuß zu weit entfernt, so daß Lore sich Richtung Dungendeichstraße über den Deich zur Schleuse schiebt, dort, direkt auf der Brücke, stehen bleibt, den Kopf gegen den Wind drehend auf die schwarzschäumende Weser hinabblickt.

Das Getöse ist so stark, daß sie das Geschrei des Flußlotsen aus dem Lotsenhäuschen nicht hört.

Schon hängt er am Telefon, gestikuliert herum, um sich bemerkbar zu machen, aber Lore sieht ihn nicht.

Sie steht auf der Brücke, hält sich am Geländer fest, hält das Gesicht in den Wind und fühlt sich großartig, ohne Gedanken, ohne Wunsch.

Sie genießt den Sprühregen, der, aufgepeitscht durch das an die Wand klatschende Wasser, wie ein großer Zerstäuber kleine Nadelstiche zu Tausenden auf die Haut prasseln läßt, unterstützt durch den Stachelhandschuh des Sturms.

Bevor noch der lotse aus seinem Häuschen geprescht kommt, hat sie sich umgedreht, wirft sich weiter dem Sturm entgegen auf den Schleusendeich zu, an den Silos vorbei, zum Piereingang. Die Schultasche hat sie sich mit einem Bindfaden um den Oberkörper gebunden. mit jedem Schritt schlackert sie schwer gegen die Hüftknochen.

 

Die Pieranlagen sehen aus wie nach einem Bombenangriff. Überall liegen Holz- und Eisenbohlen herum, zerrissene Persenninge knallen gegen Bürogebäude und Lagerschuppen.

Das Wasser - es ist zwei Stunden vor Niedrigwasser - hat sich noch nicht ganz zurückgezogen, überflutet noch die Füße der Brückenkräne I und II.

Lore rutscht aus auf dem mit Schlamm, Getreide, Petrolkoks und Kohle bedeckten Boden, schlägt sich an den überall herumliegenden Erzbrocken das Knie auf, kümmert sich weder um zerrissene Strümpfe noch um das stark blutende Knie, sondern betrachtet, im Aufstehen begriffen, die zwischen Bahnschienen zappelnden um ihr Leben kämpfenden Fische, die den Weg zurück nicht mehr gefunden haben.

Sie will nicht mehr aufstehen, stellt nur das verletzte Bein auf und bleibt, auf allen Vieren im Modder verharrend, in Blickkontakt mit den Fischen, will einen greifen, aber der läßt nicht, fluppscht ihr zwischen den Fingern davon.

 

Aus der Ferne stößt durchdringende Ton des immer noch Leute suchenden Katastrophenwagens an ihr Ohr, erinnert an Wirklichkeit und Notwendigkeit, nach Hause zu gehen.

Lore reißt sich vom Anblick der Fische los, steht mit schmerzendem Knie und moddriger Schultasche gegen den Wind ankämpfend auf den Pieranlagen, und zögernd nur, die Hände trotz des zu erwartenden Donnerwetters in den Klamotten säubernd, setzt sie sich in Bewegung, geht durch Brommi- und Weserstraße, läßt die moddrige Schultasche ungehindert den Modder in Rock und Jacke verteilen, und kommt schließlich total verdreckt mit heißem Gesicht zu Hause an, wo aufgeregte Hektik sie erwartet und ein zorniger Vater, Angst und Sorge um seine Tochter so abreagierend, mit einem hocherhobenen Schrubber sie zustürzt. Sie, die sich geistesgegenwärtig auf die Treppe flüchtet.

Der Stiel des Schrubbers zerbricht mit lautem Krachen am Treppengeländer und läßt Wut und Ärger in sich zusammenfallen. Erleichterung kommt auf, und die Aufmerksamkeit kehrt dorthin zurück, wo es eine weitere drohende Katastrophe abzuwehren gilt.

Der unermüdliche Lautsprecher des Katastrophenwagens kämpft gegen das laute Getöse des Orkans.

 

Copyright

Anna Höge/co. Karin Häsing

Sachsenstraße 35

52351 Düren

 


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