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Leseprobe

Frachtschiffreise - Das größte Abenteuer meines Lebens

Leseprobe aus dem Buch von Evelyn Freitag

Prolog
Platsch. Mit einem hohen Spritzer versinkt der letzte armdicke Festmachertampen gurgelnd im kalten Hafenwasser. Es ist dunkel, regnet in Strömen, der Wind bläst schon ziemlich Furcht erregend und dann gibt es sogar noch Blitz und Donner am Himmel. Welch eine Verabschiedung aus Hamburg! Im selben Moment, in dem der Tampen ins Wasser fällt, legt das Schiff ab und nimmt Fahrt auf. Ein Hafenlotse ist an Bord, ein Schlepper hängt hinten dran, um notfalls beim Manövrieren zu helfen, denn wenn sich ein 23.000-BRT-Frachter auf den Weg begibt, dann gibt es so schnell kein Halten mehr.

Nun sind wir also wieder einmal mitten auf der Elbe. Wie oft schon haben wir diesen Ausblick von der Wasserseite aus auf unsere Geburtsstadt genossen! Aber noch nie war es so aufwühlend wie heute. Unser Schiff, die RICKMERS HOUSTON, soll nun vier Monate lang unser Zuhause sein. Obwohl ich auf dem Schiff stehe und alles tatsächlich und wahrhaftig passiert, kommt es mir immer noch wie ein Traum vor. Für mich beginnt das größte Abenteuer meines Lebens und Erhard, meine beste Hälfte, nennt es eine Herausforderung für uns beide. ...
Zwischen Antwerpen und Gibraltar:
... Aufstehen kann ich nur noch, wenn ich mich wirklich gut festhalte. Der Seegang hat alles durcheinander gewürfelt. In unserer Wäschekammer herrscht Chaos und der Koffer liegt verquer. Die Waschutensilien sind über den Boden verstreut. Auch im Salon liegen die Bücher und Hefte auf dem Fußboden, der Papierkorb kullert durch den Raum. Im Badezimmer geht der Duschvorhang immer wieder selbstständig auf und zu. Die Schranktüren haben wir inzwischen mit Papierknäueln verklemmt. Aber nun öffnen sich, wie von Geisterhand berührt, sogar die schweren Schubladen des Schreibtisches von ganz allein. Wenn mir nicht so elend zumute wäre, würde ich vielleicht über dieses Szenario lachen. Es knirscht und knarrt überall im "Gebälk". Hinter unseren Schlafzimmerfenstern ist ein dicker Eisenträger, der bei den ganz großen Bewegungen mit lautem Getöse in seiner Halterung herumdröhnt.

Bei diesem Wetter ist es schon eine merkwürdige Seefahrt! Der Kapitän saß bisher immer sehr aufgeräumt bei uns am Tisch und hat mit uns geplaudert, doch seit kurzem ist er "nicht mehr anwesend."

Die Kanalinseln liegen am Freitagmorgen südlich von uns. Immer noch Windstärke 10, sehr hohe Wellen, Fahrt 4 bis 5 Knoten. Es ist diesig. ... Das Meer begegnet uns mit beeindruckender Energie.

Auf der Brücke erfahren wir am nächsten Tag vom wachhabenden Offizier, dass der Kapitän momentan keine Besucher auf der Brücke haben möchte. Bei diesem Seegang sei die Verletzungsgefahr zu groß. ... Etwas enttäuscht werfen wir schnell noch einen Blick auf die Seekarte. Wir befinden uns immer noch im Kanal südlich von England und fahren westwärts statt südwestwärts! Mary, unsere Mitpassagierin, hat inzwischen herumgewitzelt: "I think, we will go to Canada!" Galgenhumor.

Später hat der Kapitän mit dem zweiten Offizier auf der Brücke eine lautstarke Auseinandersetzung. Geht es um den Kurs? Meine Güte, wohin sind wir geraten! Und alles fing doch so gut an! Eine nicht sehr beruhigende Situation.

Am Nachmittag erfreut uns blauer Himmel und die Sonne erwärmt uns für ein paar Stunden. Wir gehen an Deck und machen mit dem reißenden Wind Kraftproben an den Haltestangen. Wenig später hat uns eine neue Schlechtwetterfront erreicht: Schon wieder ist Sturm und es schaukelt ständig mehr.

So sehr hatte ich mich darauf gefreut, die Biskaya schnell zu durchqueren und nun krebsen wir immer noch im Kanal herum. Dabei sind wir schon den 13. Tag an Bord! Warum machen wir überhaupt eine solche Reise? Ob Erhard sich das auch so vorgestellt hat?


Samstag: Das elende Geschaukel geht weiter. Am äußeren Bild und an den Umständen hat sich nicht viel geändert. Der Steward ist seekrank geworden und zeigt nur selten sein grün-gelbes Gesicht.

Montag: Very exciting! Nobody knows, where we are! Das ist unsere Situation: Das Schiff krängt unverändert in unregelmäßigen, launigen Intervallen bis zu 30 Grad nach backbord und nach steuerbord. Seit die Brücke für uns als Informationsquelle ausgefallen ist, herrscht allgemeine Orientierungslosigkeit unter den sechs Passagieren. Keiner weiß, wo wir genau sind. Vermutungen machen die Runde und der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Der Galgenhumor wird immer markiger. Das Meer sieht wie verwüstet aus.

Am fünften Sturmtag treffen wir mittags den ersten Offizier. Welch ein Glücksfall! Er erzählt, dass für 18 Uhr eine Kursänderung vorgesehen ist und zwar genau in die entgegengesetzte Richtung! Der Offizier erzählt, dass er in seinem 24-jährigen Seemannsleben ein solches Wetter noch nicht erlebt hat. Ein Tief jagt das nächste und es besteht immer noch keine Chance, Richtung Süden zu kommen.

Beim Mittagessen haben wir ein wirklich imposantes Schauspiel vor Augen: Die unglaublich hohen Wellenberge heben das Schiff in die Höhe, als wäre es aus Papier, und wenn dann der höchste Punkt der Welle erreicht ist und wir einen herrlichen, weiten Blick über die momentan sonnenbeschienene See werfen, beginnt es sich kurz darauf unendlich tief hinunterzusenken und in das Wellental zu fallen. Meterhoch türmen sich die zum Glück nach hinten wegziehenden Wassermassen auf. Niemand spricht von Angst. Die weißen Schaumkronen glitzern wie Edelsteine. Bei diesem Anblick meine ich zu träumen, so beeindruckend ist es.

Im Restaurant sitzen wir auch abends mit weit auseinander stehenden Knien auf den ohnehin schon stabilen und schweren Sesseln, die zudem noch Stopper unter den Füßen aufweisen. Es ist ratsam, das Wasserglas fest im Griff zu haben. Mit der anderen Hand versucht man, sein Essen zum Mund zu befördern. Die Suppe schaukelt in den hohen Tassen beträchtlich hin und her. Herr Knigge hätte bestimmt keine Freude an uns! Wir sitzen noch beisammen, als kurz vor 18 Uhr das Schiff tatsächlich langsam und bedächtig gewendet wird. Die Sonne hangelt sich von einem Fenster zum nächsten. Irgendwann haben wir sie dann steuerbord achteraus. Als die Wellen genau von der Seite kommen, ist es am gefährlichsten. Ron sammelt schnell den Eimer mit den Saucen ein, der kurz vor dem Kippen steht. Ein Sessel rutscht in die Ecke und der Tisch verschiebt sich. Sonst haben wir alles heil überstanden und sind zum Glück schnell über diesen Punkt hinweg.

Nun rollen die Wogen nicht mehr von vorn nach achtern unter unserem Schiff hindurch, sondern kommen von hinten direkt auf uns zu. Manchmal halte ich die Luft an, so außergewöhnlich hoch sind die Wellenberge. Der Chief Officer erzählt, dass wir immer noch Windstärke 11 bis 12 haben, also Orkan.

Wir schauen uns dieses Naturschauspiel an, als würden wir im Kino sitzen. Ich staune, wie schön es aussieht. Die Kimm ist so gezackt, als würden sich an ihrem Rand lauter Schiffe mit weißen Segeln befinden. Von Westen ziehen die ersten Wolken des nächsten angekündigten Tiefs herbei. Allmählich verschwindet die Sonne hinter ihnen und beleuchtet nur noch den Rand. Atemberaubend! Später findet sie noch eine Lücke in der bis zur Kimm hängenden Wolkenwand und beschert uns den ersten Sonnenuntergang im Atlantik. ...

... Der nächste Tag beginnt wieder Grau in Grau, jedoch schaukelt das Schiff deutlich weniger. Wir fühlen eine erstaunlich milde Temperatur, aber es gießt in Strömen. Unsere RICKMERS HOUSTON macht gute Fahrt, die Maschine brummt gleichmäßig. Ein anderes Schiff begegnet uns. Später überholen wir einen kleineren Frachter. Schiffsverkehr, das bedeutet, wir befinden uns wohl auf dem richtigen Weg. ...

Ich freue mich darauf, bald wieder Land zu sehen, vielleicht heute Nacht die ersten kreisenden Lichtkegel von Leuchttürmen oder anderen Seezeichen. Nach diesen nicht enden wollenden Tagen mitten auf dem Meer mit dem ewigen Sturm und Orkan sehne ich mich nach ruhigeren Ausblicken.

Zum Sonnenuntergang stehen wir an der Reling und staunen über das wunderbare Schauspiel der Farben. Einfach faszinierend: Dieses riesige Himmelsgewölbe über uns, das von Sekunde zu Sekunde seine Farben ändert. Ich bin begeistert.

Spätabends offenbart sich uns ein wunderbar klarer Sternenhimmel. Abermillionen von Sternen hängen über uns, funkeln und blinken uns freundlich an und die Milchstraße flimmert zu uns herab. Am Horizont - wer hätte das gedacht – tauchen tatsächlich die ersten Leuchtfeuer auf. Ich kann mir nicht helfen: Ich muss einmal tief durchatmen. ...