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Die Klopfgeister von Rennes.

Ein Raststellen-Gespräch über den Juni 1945


Sie hatten schon eine ganze Weile zusammengesessen. Draußen standen ihre Fahrzeuge. An einer Tankstelle der Autobahn A7. Einer beladen mit Umzugsgut, der andere voll bis oben hin mit abgefahrenen Auto-Reifen. Sie kannten sich nicht, saßen einfach nur an der Theke. Gerade hatten sie ihre LKWs betankt. Jetzt stand ein Glas ein Bier vor ihnen. Ein Schluck vorm Weiterfahren. Sie rauchten und sprachen vom Sauwetter, dem Nebel, ihren langen Fahrzeiten und verrückten Rasern. Irgendwie kamen sie auch auf den schon fast vergessenen Krieg zu sprechen. War ja auch schon lange her. Fast 40 Jahre. Plötzlich fragte der Blonde: " .....und dann bist du von dort ...." , - "Nein, nein, das war so..." fing der mit dem grauen Bart an "....eigentlich sollten wir, so hatte man uns gesagt, in einem langen Güterwagen-Zug nach Osten zum Wiederaufbau, transportiert werden. Nach Pommern oder so. Immer hundert Gefangene, abgezählt und dichtgedrängt in den offenen Waggons. Als es Nacht war sah sich einer von uns den Himmel an. Offenbar verstand er was davon und meinte: "Wir fahren ja gar nicht nach Osten - nee, nee, es geht nach Westen". Schließlich wurde es sogar Nordwesten. Meinte er. Und nach fast drei Tagen waren wir in Frankreich, in der Bretagne. In Rennes. - Mensch, als wir da rein fuhren, über die vielen Zubringergeleise des Bahnhofs, standen da die Franzosen reihenweise und grölten, drohten mit den Fäusten. Die hatten wohl mitbekommen, dass da Boches in den Waggons waren. Was meinst Du, was da plötzlich los war! Die warfen mit Steinen und dicken Schrauben, so wie sie in den Eisenbahnschwellen verwendet werden. Wollten die langsam rollenden Waggongs stürmen. Wir mussten uns ducken. Und die Amis? Ja, wirst es kaum glauben, aber die haben erst in die Luft, dann aber dazwischen geschossen! Die haben uns regelrecht beschützt - wirklich wahr! War «n tolles Erlebnis, werd« ich nicht vergessen. Waren erste Eindrücke von den Franzmännern. Ich hab«s nicht verstanden damals, war wohl noch zu jung dazu."

Der Graubart nahm einen Schluck aus seinem Glas, steckte sich eine Zigarette an und fuhr fort: "In Rennes war ein großes Lager eingerichtet worden." Der Blonde fragte: " Warum nur das da oben in Frankreich?" - "Ja" , meinte der Graubart, "noch«n Jahr davor wurden alle Transportschiffe, die Kriegs-Material von den USA nach Europa brachten, auf der Rückfahrt mit deutschen Kriegsgefangenen beladen, dann wurden sie nicht angegriffen von den deutschen U-Booten. Die machten Jagd auf die
Liberty-Ships, das waren ihre Frachter, mit denen die Amis den ganzen Kriegskram nach Europa schafften. Aber sie wollten natürlich keine Schiffe versenken, von denen sie sahen, dass alle Decks mit deutschen Gefangenen belegt waren. Die waren da oben wie Aushängeschilder postiert. Klar, dass die Amis damit rechneten, dass sie keiner angriff. Um diese aber Zeit reichte die Kapazität der Schiffe nicht mehr. Zuviel von uns hatten die Hände gehoben, wollten die Scheiße nicht mehr mitmachen. War ja sowieso alles aussichtslos. Vier Jahre Krieg war einfach genug. Alle hatten die Schnauze voll. Keiner wollte sich mehr erschießen lassen. Für was auch? Und so kamen da oben in Rennes so an die 60.000 Menschen zusammen." Wieder war ein Schluck fällig.

"Und dann?" fragte der Blonde wieder und steckte sich auch einen Glimmstängel zwischen die Lippen, ließ das Feuerzeug schnipsen. Der Graubärtige erzählte weiter: "Das Lager wurde organisiert wie eine Stadt. Eingeteilt in Vierteln, mit Straßenzügen. Dazwischen die Amis mit MPs. Und viel Stacheldraht. Rundherum und zwischendrin. Die Amis nannten sie cages. Große Zelte waren aufgestellt worden. Immer 50 ehemalige Landsern drin, bunt durcheinander. Alle Dienstgrade, jetzt aber waren wir einfach alle nur prisoners of war. Auf dem Rücken aufgepinselt ganz groß und weiß PW. Nur die Offiziere lebten irgendwie separat. Wir hatten ja nur das Wenige, was uns übrig geblieben war. Brotbeutel, ein paar Fotos, Löffel, vielleicht eine Gabel, auch Trinkbecher, und die abgetragenen Uniformen. Hier und da fehlte schon ein Knopf. Manche hatten auch noch leere Blechbüchsen, in denen einmal amerikanische Verpflegungsrationen - wir kannten sie nur als Ration A - waren. Sonst hatten wir nichts." -

"Noch«n Bier", orderte der Blonde. Und dann: "Weiter, Mensch Mann, erzähl« weiter...". - "Na, gut, wir hatten vor allem nichts, was den Amerikanern gefährlich werden konnte. Jedenfalls nichts, wovon sie meinten, dass die damned Germans, fucked Krauts, ihnen doch noch etwas hätten antun können. Hatten wohl alle noch Schiß vorm Werwolf. So«ne Fantasiegestalt wohl, von der wir selbst aus dee Schule nur wußten, dass schon die Skythen und der olle Grieche Herodot meinten hieß, es sei ein Mann , der zeitweise Wolfsgestalt annehmen kann. War wohl das, was damals als Volkssturm bezeichnet wurde, als letztes Aufgebot gewissermaßen. Waren lauter Oldis drin versammelt. Na, und die Amis meinten, dieser Werwolf existiere wirklich, und dass er wie der Teufel in die Deutschen gefahren sei. Und das saß auch wohl noch tief in ihren Hirnen. Also für uns - keine Messer, nichts Spitzes. Werkzeug schon gar nicht, auch sonst nichts, was irgendwie nach Hinterlist oder Gefahr aussah."

Der Blonde bekam sein Bier, nahm einen tiefen Zug und drängelte: " Weiter, Mensch, erzähl« weiter. Was war dann?" - "Nun, wann es begann, wusste eigentlich keiner mehr. Weder die Landser, noch die Amis. Aber als einmal eines der Lagerteile aus hygienischen Gründen umgesiedelt wurde, passten die Wachen auf, dass nichts mitgenommen wurde. Was eigentlich? Aber sie entdeckten aus dürren ästen geschwärzte Stöcke. Gebastelt aus Langeweile. Teilweise hübsch anzusehen. Ein kleines Feuerchen aus Pappe und kleinen Holzabfällen hatte genügt, den Stöcken ein schwarzes Aussehen zu geben. Mit scharfen Steinen wurden Muster eingeschnitten, eingeritzt. So entstanden dann helle Verzierungen. Fast weiß. Den Amerikanern gefielen das. Sie wurden confiscated. Als souvenir from Germany - in memory, gewissermaßen. Und da sie keine Gefahrenquelle in der Produktion dieser Andenken sahen, hatten sie auch keinen Grund, Verbote zu erlassen - im Gegenteil!"

Der Graubart schüttelte in Erinnerung daran den Kopf. "Wie wir das Feuer gemacht hatten, so einfach ohne Streichhölzer, ohne Feuerzeuge - danach hatten die Amis nicht geforscht. Na, und um diese Zeit begann wohl auch das Klopfen. Plötzlich entstanden Spazierstöcke mit einem Knauf aus Zinn. Toll! Wohlgeformt und fast, wie gegossen. Wie unsere Spezialisten das gemacht hatten? Die amerikanischen Bewacher waren begeistert als sie das sahen. Klar, dass nun häufiger resettlements angeordnet wurden. Und woher kam das Zinn? Woher das Feuer? Aber es wurde noch interessanter. Es entstanden sogar Messer!" Der Bärtige tat etwas gegen seinen trockenen Mund, schlürfte gierig ein paar Schlucke und fuhr fort: "über viele Tage hatten ein paar ganz Schlaue, fast wie Erfinder, geduldig Einzelstücke aus den Stahlfedern gebrochen, die in den Gestellen befestigt waren, auf denen die Strohsäcke zum Schlafen lagen. Solange wurde hin und her gebogen, bis man ein handlanges Stück hatte. Und daraus wurden Messer geklopft" - " Das war ja wie bei den Urmensche," meinte der Blonde. "Klar," sagte der Graubart, "mit Steinen auf Steinen. Und sie wurden auch geschliffen. Auf Steinen. Mit Steinen. Bis die Dinger rasiermesserscharf waren. Dann fehlte nur noch ein kleiner Handgriff. Aber dafür war Zelt 27 zuständig. Da arbeiteten die "Holzwürmer". Diese Einteilung in unterschiedliche Bearbeitungs-Teams kam allen zugute. Es wurde wie in echt bezahlt und getauscht." - " Mensch, wie im Mittelalter! Und das Zinn?" - " Nun - die Amis hatten zu der Zeit Ration-C-Büchsen, die zugelötet waren. Auch innen waren sie damals noch verzinnt. Auch viele andere Büchsen, die auf den Küchenabfall-Bergen lagen, wurden gesammelt. Und dann wurde das wenige Zinn über dem Feuer in winzigen Kügelchen abgeschabt und gesammelt. Wurde größer und größer. Tröpfchen kam zu Tröpfchen und wurde zu Tropfen." Der Blonde schüttelte den Kopf: " Ist das wirklich wahr?" - "Ja, was meinst du, so was gibt«s noch nicht mal im Krimi. Sollte doch wohl mal«n Film von gedreht werden ... Jetzt brauch« ich aber auch noch«n Bier!"

Als das Bier kam, nahm er erst mal einen tiefen Schluck, wischte sich mit dem Handrücken über den Bart und erzählte weiter: "Das Zinn wurde geformt mit kleineren Messerchen, mit Steinen, die als Abdruck dienten, weil sie so aussahen, wie «ne Nase oder«n Flügel. Löwen- oder Adlerköpfe entstanden oder Antikes wurde nachgebildet. In allen Cages wurde gearbeitet. Geklopft. Mann, wir hatten kaum Zeit, zum Gottesdienst zu gehen. Da waren ja auch Berufsköche, die vor dem Rezepte zum Mitschreiben auf Toilettenpapier diktiert hatten, die hatten jetzt keinen Zulauf mehr. Man musste ja Termine erfüllen. Und die wurden diktiert vom nächsten Wechsel in einen anderen Lagerteil. Dort standen am Tor dann die GI«s und filzten, suchten nach den besten Stücken. Sie gaben dann auch Zigaretten dafür."

Jetzt war wieder ein Schluck fällig. "Aber die Amis waren geduldig. Sie wussten ja, dass ein zu schneller Wechsel zu wenig Erfolg brachte. Und schließlich wurden ihre Lieferanten ja auch gerissener. Sie versteckten ihre Produkte unter den Uniformjacken, direkt auf der Haut. Wollten ja auch, für den Fall einer Entlassung, selbst was mit nach Hause bringen. Vielleicht sogar handeln... ? Zu Hause auch Zigaretten eintauschen?" Der Blonde bohrte: "Und das Feuer?" - "Na, da hatten sich wohl die Physiker und Archäologen, Ethnologen, Handwerker und Ingenieure, auch Studenten unter uns, zusammengetan. Nachempfunden, was vormals schon dem Neandertaler, oder den Leuten von Cromagnon eingefallen war. Da wurden dürre Hölzchen auf einem Stein mit etwas Zunder, zwischen den Handflächen schnell hin und her gedreht. Irgendwann entstand so viel Wärme, dass sie in Glut umschlug. Hätte ich vorher auch nicht gewußt. Obwohl - in der Schule hab« ich mal sowas gehabt. Ist ja auch eigentlich ganz einfach. «N bißchen mühselig zwar, aber Zeit war ja genug da. Und viele Kartons zum Verbrennen auch. Alle waren begeistert vom eigenen Tun. Vom überhaupt-etwas-tun-können." - "Klar, meinte der Blonde, "waren ja alle arbeitslos," beide lachten.
Der Graue erzählte weiter: "Dabei hatten wir alle ganz übersehen, dass der Krieg schon längst vorbei war. Es war Juni 1945. Bei uns in Rennes aber wurde erfunden, konstruiert und geforscht. Gehandelt und getauscht. Das war natürlich was für die Amis. Die hatten ja auch Langeweile. So langsam lernten sie ihre Krauts von «ner anderen Seite kennen. Die machten für sie in Serie die tollsten Andenken. Mit Mitteln des frühen Mittelalters, aus Nichts. Und alles für Zigaretten - das war das offizielle Zahlungsmittel im Lager.
Ich kann mich noch dran erinnern, dass ein amerikanischer Major mal meinte ".... it is inconceivable, unintelligible what they are doing É.. sometimes we are feeling terrible frightened and alarmedÉ."

Der Graubart nahm einen kräftigen Schluck und sagte noch: " Wir selbst hatten ja keine Ahnung von unseren Fähigkeiten, hatten uns eigentlich ja nur die Zeit vertrieben. Erst viel später, als ich - und sicher auch viele andere - wieder zu Hause war, hab« ich mich dran erinnert, so wie heute, an das Klopfen in den Zelten von Rennes." Der Graubart leerte sein Glas, stand auf und sagte noch: "Ja, ja, so war das damals." Und: "Gute Fahrt, mein Alter!" Auch der Blonde leerte sein Glas, schüttelte im Gehen noch den Kopf und ging zu seinem LKW.

 



 

 


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