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Die Nacht des Hurrikans

Hermann Kopshoff

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Hurrikan-Nächte sind lang, so könnten sie unter Abwandlung eines bekannten deutschen Schlagers schreiben. Sie, wer?

Nun, zwei Kreuzfahrer, ein Ehepaar, Paul und Inge Koslow, die auf Kreuzfahrt mit der MS Fedor Dostojewskij von Montreal nach Genua waren. Zwischen New York und den Bermudas hat es sie erwischt. Und zwar so, daß sie gar nicht sagen konnten, wann die Nächte anfingen und wann sie aufhörten. So ganz zu Ende in den Gedanken der beiden sind sie immer noch nicht. Aber lassen wir sie der Reihe nach erzählen.

 

                                               Hurrikan-Nächte sind lang.

 

Freitag, 8. September 1995, 13.00 Uhr.

Mittags ließen sie New York hinter sich, sie standen auf dem obersten Schiffsdeck und bewunderten zum vorläufig letzten Mal die berühmte Skyline von Manhattan. Plötzlich sagte Inge: "Guck mal, das ist komisch, die Matrosen auf dem Vorschiff holen alles ein. Das tun sie doch sonst nicht." Tatsächlich, alle die mannsarmdicken Taue, mit denen das Schiff am Pier festgemacht wurde, wurden ins Innere des Schiffes geschleppt. Na ja, dachte Paul, wir sind ja erst übermorgen auf den Bermudas, vielleicht will der Kapitän in der Zwischenzeit klar Schiff haben. Oder er wußte schon zu diesem Zeitpunkt, daß ein Sturm im Anzug war, das dachte er hinterher.

 

                                               Hurrikan-Nächte sind lang.

                                               erst fangen sie ganz langsam an.

 

Samstag, 9. September 1995, 17,00 Uhr.

Um 16.00 Uhr war stets Tee im Bolschoi-Salon angesagt. Die Koslows nahmen auch diesmal an dieser Zeremonie teil. Die See war etwas kabbelig, der Boden des Bolschoi-Salons, der im Vorschiff gelegen war, bewegte sich mit der Dünung des Atlantiks. Typisch Seewetter, dachten Koslows. Um 17.00 Uhr kam die Positionsdurchsage der Reiseleitung mit dem ersten Hinweis auf einen Sturm: "Die Gäste werden gebeten, die Außendecks nicht mehr zu betreten, da es zu windig ist". Außerdem habe der Kapitän den Kurs nach Osten geändert, um einem Hurrikan, der vor ihnen lag, auszuweichen. Das war das erste Mal, das sie von einem Hurrikan in weiter Ferne hörten. Sein Name war Louis, wie sie später erfuhren. Das Logbuch, das am Schluß der Reise verteilt wurde, verzeichnete um diese Zeit eine Windstärke von 30 m/s = 108 km/h, die Seestärke (=Wellenhöhe) wurde mit 6 m gemessen, das Barometer stand bei 1000 Millibar.

Zurück in der Kabine haben die Koslows sich umgezogen, es war Jackett für die Herren vorgeschrieben. Die Krawatte schenkte Paul sich, der Seegang war zu stark vor dem Toilettenspiegel. Das Abendessen um 18.00 Uhr verlief noch ganz normal, bis zum Nachtisch, nur die Stewardessen hatten gegen den Seegang zu kämpfen. Plötzlich, es hatte gerade Eis zum Dessert gegeben, legte sich das Schiff stark auf die Seite, das Salatbuffet ging baden, aus der Küche hörte man es klirren, Paul rettete eben noch seine Weinflasche, eine Reihe von Stühlen fiel samt lebenden Inhalt um, es war die erste Warnung von Louis: "Vorsicht, ich komme."

Die Koslows schwankten, unterstützt von einem Nachbarn, denn Paul war stark gehbehindert, zum Aufzug und von dort in ihre Kabine. Komisch, im vierten Deck und dazu noch mittschiffs, waren die Bewegungen des Schiffes garnicht so stark. Trotzdem zog sich Paul mit Hilfe Inges aus und den Schlafanzug an. Im Bett war es eigentlich ganz angenehm, es schaukelte ganz sanft, wenn das Schiff sich auf die Seite legte. Koslows hatten eine Außenkabine, mit zwei Betten quer zur Fahrtrichtung. Inge stopfte Paul gegen seinen Protest noch zwei Decken in den Rücken, damit er nicht aus dem Bett fiel, aber das war unnötig, denn die Bewegungen in der Längsachse waren hier kaum zu spüren, nur das Querrollen des Schiffes. Das brachte Paul einmal auf die Füße, dort stand das Schränkchen mit dem Fernsehapparat, einmal legte es ihn in Richtung Kopfstand. Aber alles blieb noch hübsch im Rahmen. Nur ein leichtes Grollen spürte Paul im Magen. Hiergegen nahm er eine Tablette gegen die Seekrankheit, die Inge vorsorglich bei der Schiffsinformation besorgt hatte und die auf dem Nachttisch lag, einem schweren Glastisch mit Metallrahmen, der zwischen den  Betten stand.

Dann öffneten sich die Schranktüren und die Pullover, Hemden und die Wäsche fielen heraus. Inge stand auf und stopfte sie wieder rein, aber nicht sehr ordentlich, dafür war der Seegang zu stark. Außerdem nützte es nichts, denn fünf Minuten später war sie wieder auf und klackte dauernd. Paul sagte: "Stell den Stuhl dazwischen", Inge tat das und tatsächlich hörte das nervtötende Klacken endlich auf.

Um 19.30 kam eine Durchsage durch den Lautsprecher: "Die Gäste der zweiten Tischzeit werden um Verständnis dafür gebeten, daß das Abendessen nicht im Restaurant eingenommen werden kann. Stattdessen wird ein Lunch in der Tschaikowski-Bar und im anschließenden Promenaden-Deck angeboten." Da muß es ja zugehen, dachte Paül, und tatsächlich, am nächsten Morgen erfuhr er, daß es wirklich schon um diese Zeit zwei Decks höher ganz schlimm war, das Schiff krängte, daß man seine Eßutensilien festhalten mußte.

 

                                               Hurrikan-Nächte sind lang.

                                               erst fangen sie ganz langsam an,

                                               aber dann......

 

Samstag, 9. September 1995, 21.00.

Das Logbuch sagte für diese Zeit: Windstärke 60 m/s = 216 km/h, Wellenhöhe 12 - 20 m, Luftdruck 985 mbar.

In der Kabine machten sich die Sachen selbständig und fielen von den Tischen herunter, es herrschte ein unbeschreibliches Chaos auf dem Kabinenboden, dem Inge dadurch Herr zu werden suchte, daß sie nach Möglichkeit wichtige Sachen in die Schrankschubladen stopfte, das Übrige ließ sie umherfahren. Dann legte sie sich wieder hin, allerdings nicht in ihr Bett, sondern in Pauls, nach dem Motto. "Sollten wir jetzt untergehen, dann laß es uns gemeinsam tun, Arm in Arm wollen wir den nassen Tod erleiden." Paul erinnerte sich an den Ausspruch seiner Schwester, die die Papenburger Meyer-Werft besucht hatte, in die die Dostojewskij ja im November kommen soll zur jährlichen Inspektion: "Ein Kreuzfahrtschiff wie dieses ist praktisch unsinkbar, wenn kein Wasser eindringt." Außerdem hatte er kurz vorher noch gelesen, daß die MS Queen Elizabeth II neulich durch einen Steuerungsfehler des Kapitäns querab in die Flanke einer Welle geraten sei, sich um 90 Grad auf die Seite gelegt habe und das 6 Minuten lang und sich dann wieder aufgerichtet habe. Er schaute auf die Vorhänge vor den Fenstern, nein, um 90 Grad flatterten sie noch nicht ins Zimmer, höchstens um 30 Grad. Also fühlte er sich noch vollkommen sicher.

Es kam eine neue Durchsage durch den Lautsprecher, es sei ein schlimmer Sturm, wie sie (die Sprecherin) ihn in 14 Jahren Kreuzfahrtbegleitung noch nicht erlebt habe. Die Gäste auf den Promenadendecks und in den Kabinen werden gebeten, sich gut festzuhalten und den anderen Personen, die hingefallen wären, zu helfen. Etwas wie Stolz wallte in Paul auf: "Seht her, die Reiseleiterin hat solch einen Sturm noch nicht mitgemacht, und ich liege hier gemütlich im Bett und bin noch nicht einmal seekrank." Aber etwas Sorgen machte er sich doch, weil er ausgezogen im Bett lag. Na ja, dachte er, wenn jetzt das Kommando kommt, sich an den Seenotrettungsorten einzufinden, müssen die Schiffsgenossen sich mit einem Paul Koslow im Schlafanzug und allenfalls noch Bademantel abfinden, zum Anziehen war es absolut zu spät. Aber das Wasser hatte ja eine Temperatur von 26 Grad, erfrieren würden sie also nicht so schnell. Außerdem, das war die nächste Überlegung, war es bei dem Sturm und dem Wellengang ganz unmöglich, in die Boote zu gehen, nur der Rettungsgürtel würde noch etwas helfen. Aber das war ja alles Quatsch, das Schiff war ja unsinkbar, s. o.

 

Samstag, 9. September, 24.00 Uhr.

Das Logbuch meldete jetzt eine Windstärke von 45 m/s = !62 km/h, einen Seegang von 12 - 30 m und einen Luftdruck von 963 mbar. Das Schiff legte sich immer stärker zur Seite und richtete sich immer mühsamer wieder auf. Die Feuertüren wurden aus ihren Festhaltevorrichtungen gerissen und schlugen zu. Beim Krängen des Schiffes schlug das Meerwasser bis über das Fenster der Kabine. Normalerweise lag es 8 - 10 m über dem Meeresspiegel. Paul beruhigte nur, daß das Klatschen der Wellen mehr vorn lag, auf dem Vorschiff. Er hatte nämlich die Sorge, daß das Wasser, wenn es zu heftig gegen sein Fenster schlug, dieses eindrücken könnte und somit Louis auf einmal in der Kabine wäre. Dann hätten sie rausgemußt, aus dem warmen und immer noch behaglichen Bett.

Auf dem Boden der Kabine herrschte ein unentwirrbares Chaos. Auch Inge durfte jetzt nicht mehr aus dem Bett, es war wegen der herumrutschenden Gegenstände zu gefährlich. Zudem hörten Koslows ein beständiges Pochen an der Wand, das sie sich nicht erklären konnten. Erst am nächsten Morgen hörten sie von der Nachbarin: "Wir haben dauernd an Ihre Wand geklopft, war denn bei ihnen alles in Ordnung?" Das Telefon klingelte: "Falsch verbunden, aber es ist doch wirklich ein schlechtes Wetter:" Da wollte wohl jemand in der Einsamkeit seiner Kabine einen Gesprächspartner haben. Dann eine erneute Durchsage durch den Lautsprecher: "Bitte halten Sie sich fest, so gut Sie können, eine Hand gehört immer dem Schiff, helfen Sie anderen, die sich verletzt haben, außerdem habe ich mit dem Kapitän gesprochen, in einer Stunde haben wir das Schlimmste hinter uns." Das war das Wichtigste für Paul an der gesamten Durchsage, in einer Stunde haben wir das Schlimmste hinter uns, es wird wieder besser. Wie als Kommentar hierzu machte sich in der Kabine der Koslows der schwere Glastisch, der zwischen den Betten stand, selbständig und rutschte auf dem Boden mit Wucht gegen das Badezimmer. In der Ecke der Badezimmerwand hinterließ er eine tiefe Delle. Also, Meyerwerft, wenn ihr diese Delle seht und sie ausbeulen müßt, sie ist kein Überbleibsel eines Ehekrieges, sondern Louis hat sie gemacht, mit dem Tisch!

Plötzlich fiel das Licht aus. Die Koslows lagen mit angehaltenen Atem, nur auf ihre Ohren als einziges Kommunikationsmittel angewiesen. Das ging etwa eine Minute, dann flammte es wieder auf. Aber dann gingen die Schiffsmotoren aus und gleichzeitig hörte die Schiffsbewegung auf, es herrschte eine unheimliche Ruhe. Jetzt wurde es Paul doch etwas mulmig zumute. Wenn das Schiff sich nicht mehr bewegt, das wußte er, dann schlagen wir quer und dann ist es möglich, daß wir kentern. Verdammt noch mal, das Schiff hat doch noch einen Hilfsmotor, der bei Ausfall des Hauptmotors anlaufen kann und das Schiff wenigstens manövrierfähig hält. Das hat man uns bei der letzten Kreuzfahrt mit der Dostojewskij während der Besichtigung des Maschinenraumes doch erklärt. Warum läßt der Kapitän denn diesen Motor nicht an? Mitten in diese Gedanken hinein sprang der Motor wieder an, aber Zweifel blieben, ob es nicht wieder passieren könnte.

Es war um die Zeit, daß Inge anfing zu beten: "Lieber Gott, unsere Kindern sollen ja all unsere Besitztümer erben, aber bitte heute noch nicht." Leuten, denen sie das am nächsten Tag erzählte, bestätigten sie in dieser Überlegung und fügten eine neue Variante hinzu: "Wenn wir jetzt untergehen, brauchen sich unsere Kinder nie um die Grabpflege zu kümmern, wir sind sicher und dauerhaft entsorgt:"

Plötzlich sprach jemand ziemlich barsch im Kabinenlautsprecher, russisch, wohlgemerkt. Es klang ziemlich bedrohlich und trug nicht zur allgemeinen Erheiterung bei. Wahrscheinlich war es ganz banal: "Verdammt noch mal, bring mir endlich den 17er Schraubenschlüssel", aber wenn man so etwas nicht versteht, dann ist in der allgemeinen Aufregung und   Anspannung so ein Ereignis nicht so sehr geeignet, allgemeine Freude zu verbreiten.

Es ging weiter mit dem allgemeinen Schaukeln, dem Schlagen der Wellen an das Fenster und dem Herumrutschen der Gegenstände in der Kabine. Der Mensch kann sich an alles gewöhnen, auch an solche Hurrikannächte, außerdem forderten die Natur und natürlich auch die Seekrankheitspille ihr Recht, Paul schlief in all dem Durcheinander ein und kriegte garnicht mit, daß die Lichter und die Motoren zum zweiten Mal ausgingen und wieder ansprangen, alles wie gehabt.

 

                                               Hurrikan-Nächte sind lang.

                                               erst fangen sie ganz langsam an,

                                               aber dann......

                                               aber dann......

 

Sonntag, 10. September, 8.00 Uhr

Die Hurrikannacht war real vorbei, Louis hatte seinen Wahnsinnslauf fortgesetzt und sollte zwei Tage später die MS Queen Elizabeth II in ähnliche Schwierigkeiten bringen wie letzte Nacht die Fedor Dostojewskij, aber virtuell war der Hurrikan noch lange nicht bewältigt, ja, in den Köpfen der Koslows wurde erst jetzt die ganze Gefahr lebendig, in der sie geschwebt hatten. Das kam durch die Erzählungen der anderen Passagiere zustande, die die ganze Schreckensnacht nicht so ruhig und unbeschädigt überstanden hatten wie sie.

Zunächst einmal, sie waren noch garnicht aus dem Bett heraus, klingelte das Telefon. Herr Wendt von der Karstadt-Reiseleitung meldete sich und fragte, wie Paul die Nacht überstanden hätte. "Gut" sagte Inge, "wir haben die Nacht gut überstanden, aber Sie dürfen nicht in unsere Kabine gucken, da liegt alles wie Kraut und Rüben durcheinander." "Na, wenn mehr nicht ist," meinte Herr Wendt, und dann erfuhren die Koslows zum ersten Mal etwas vom Ausmaß der Schäden, es hatte 38 Verletzte gegeben, die mit Knochenbrüchen und Prellungen verschiedener Art vom Doktor versorgt wurden.

Beim Kaffee in der Kalinka-Bar trafen sie zunächst das Ehepaar Zwickel aus Bielefeld, das bis drei Uhr auf war und berichtete, daß in der Tschaikowski-Bar die Flaschen alle aus den Regalen herausgefallen seien und die Gäste, hauptsächlich von der Besatzung, sich daran gütlich getan hätten. Ja, sogar der 2: Offizier sei dabei gewesen. Tatsache ist, wie später Recherchen ergaben, daß die oberen Decks geräumt werden mußten und die Passagiere in die Tschaikowski-Bar und in die Niedergänge geschickt wurden. Dort saßen auch z. B. die Kabinenstewardessen, die im Falle der Noträumung des Schiffes die Passagiere aus ihren Kabinen holen mußten. Und auf Pauls Einwand hin, daß er sich in seiner Kabine ganz sicher gefühlt hätte, sagte er, zum Glück wäre er nicht in seiner Kabine gewesen, denn dort sei das Innenkabinenfenster heraus gefallen und auf seinem Bett gelegen. Na Gott sei Dank war dieses Fenster bei Koslows garnicht vorhanden, wahrscheinlich ist es beim letzten Hurrikan heraus gefallen. Oder ist es doch bei einem Ehekrach zu Bruch gegangen?

Die nächsten Horrormeldungen erhielten sie von ihren Tischnachbarn, der Familie Bach. Die Bachs hatten eine Innenkabine zu dritt, aber ziemlich im vorderen Teil des Schiffes. Die dritte im Bunde war eine entfernte Verwandte des Bachs, Frau Kohler. Herr Bach war während des Sturmes mit seiner Kamera im Schiff umhergestreift und hatte die Verwüstungen gefilmt. Er bestätigte die Erzählungen der Zwickels und sagte dazu noch, er könne alles dokumentieren. Als die Motoren ausfielen, ging er in die Kabine zurück und hat die Frauen herausgeholt, zusammen mit dem Notgepäck. Das muß ausgesehen haben, die Bach-Familie in Schwimmwesten! Er erzählte übrigens auch, das der sechste Tischgenosse von ihnen, ein Herr Fielmann, in der Tschaikowski-Bar von einem herumfliegenden Tisch gerammt worden war. Hinterher erzählte aber Herr Fielmann, es sei nicht so schlimm, er habe nur eine Prellung auf seiner Brust. also einen blauen Fleck. Stolz zeigte er ihn vor. Man muß dazu wissen, daß Herr Fielmann auf dieser Fahrt seinen 82. Geburtstag gefeiert hat und so fit war, daß er den "Jüngeren" noch etwas vormachte.

Sonst merkte man beim Kaffee nichts mehr vom Sturm, außer, daß es keine Gläser gab für den Orangensaft, denn die waren alle dem Orkan zum Opfer gefallen. Die Besatzung mußte, als Louis weitergezogen und eine gefahrlose Arbeit wieder möglich war, geschuftet haben wie die Berserker, um die Passagiere diese Nacht so schnell wie möglich vergessen zu lassen. Zumindest die Essensräume waren wieder klar, wenn auch ein wenig mit Verspätung. Aber was macht eine Stunde schon aus noch solch einer Nacht!

Und dann passierte doch noch etwas: Die Motoren setzten wieder aus! Obwohl sich das Schiff in der langen Dünung des Atlantik sanft schaukelte und absolut keine Gefahr bestand, blieb den Koslows fast das Herz stehen: Sollte denn noch mal was nicht in Ordnung sein? Sollte der ganze Schrecken der vergangenen Nacht wieder beginnen? Dann sprangen nach exakt sechs Minuten die Motoren wieder an, sie waren wieder im Geschäft. Und nach genau fünf Minuten erfolgte eine Lautsprecherdurchsage, es handelte sich um eine Übung. Wofür? Für den nächsten Sturm? Die Information ließ wieder einmal viele Fragen offen.

 

Sonntag, 10. September, 10.00 Uhr.

Die Koslows schlenderten langsam zum Promenadendeck. Überall war noch Schiffspersonal mit Aufräumarbeiten beschäftigt, vor der Herrenboutique war z. B. ein Steward mit dem Staubsauger dabei, die Krümel aus den umgekippten Pflanzenkübeln wegzumachen. Auf einmal lief ihnen Herr Wendt, der Reiseleiter von Karstadt über den Weg. Er zeigte ganz betrübt seinen rechten Arm, da war ihm in der Nacht eine der schweren Feuerrettungstüren drauf geknallt, als er einem seiner Schäfchen Tropfen gegen Seekrankheit bringen wollte. "Stellen Sie sich vor, was passiert wäre, wenn ich mit dem Kopf dazwischen gekommen wäre." Inge riet ihm, auf jeden Fall zum Schiffsarzt zu gehen, was er auch tat, jedenfalls lief er für den Rest der Fahrt mit einem dekorativen Verband bis zum Ellenbogen herum.

Als sie auf dem Promenadendeck Platz genommen hatten, kamen die Reiseleiterin von Neckermann und ihr Adlatus vorbei, Grund genug für die Koslows, sie anzusprechen und zu den aufgeworfenen Fragen auszuquetschen. Sie gaben ihnen die Erklärungen, die Paul sich schon ausgedacht hatte, aber einige Neuigkeiten waren doch dabei. So sagten sie, hätte der Kapitän den Kurs nicht geändert, sondern wäre bei dem ursprünglich geplanten geblieben, wir hätten von dem ganzen Hurrikan garnichts mitgekriegt. Denn Louis, der seit Tagen sein Auge stillgelegt hatte, habe plötzlich sich in Bewegung gesetzt und einen Kurs eingeschlagen, der ihn in Kollision mit dem Schiff bringen mußte. Und er sei ungeheuer schnell geworden, sein Auge wanderte mit 42 Knoten uns entgegen. Das war natürlich nicht zu erwarten gewesen und nur durch nochmalige Kursänderung hätte der Kapitän das Schlimmste vermieden. Allerdings seien wir dem Auge bis auf 35 sm nahe gewesen, das sind etwa 50 km. Junge, Junge, dachte Paul, so sieht es also im Auge eines Hurrikans aus, denn 50 km, das ist doch keine Entfernung, die fahre ich doch in einer Viertelstunde mit dem Auto. Nachträglich lief ihm dann doch noch ein Schauder über den Rücken. Wie nahe waren sie in Wirklichkeit dem Tode gewesen?

 

Montag, 11. September, 17.00 Uhr.

Sie waren heute auf den Bermudas gewesen, wegen des Hurrikans um einen Tag verspätet. Nach einem wegen der Hitze anstrengenden Shoppingtag lagen die Koslows auf dem Promenadendeck und beobachteten die Ausfahrt des Schiffes. Sie nahmen Abschied von den Bermudas und ließen zum letzten Mal die Inselkette an sich vorbei ziehen. Auf einmal eine Lautsprecherdurchsage: Der Kapitän wollte im Bolschoi-Salon eine Erklärung zu dem durchgemachtem Sturm abgeben und Fragen beantworten, und zwar um viertel vor sechs. Na toll, dachte Paul, das hat er sich großartig ausgedacht, um sechs Uhr ist nämlich Essenszeit, wenigstens für ihn in der ersten Tischzeit. Aber immerhin hat er schon gewußt, das so etwas im Busch war, denn beim Essen wurde von einem Passagier erzählt, der den Kapitän gesprochen hatte und sich bei ihm über die etwas dürftige Informationspolitik der Schiffsleitung beschwert hatte. Also hat es doch etwas genutzt, wenigstens eine Viertelstunde hat er herausgeholt, in der wir etwas erfahren sollten.

Paul ist also hin. Etwas Neues hat er nicht gehört, nur etwas Präziseres: Wo der Hurrikan lag, als wir in New York abfuhren, welchen Kurs der Kapitän dann einschlug, um ihn zu umfahren, wie sich der Hurrikan dann plötzlich in Bewegung setzte, welchen Kurs er dann nahm, wie er dann nach Osten abdrehte, genau auf die Dostojewskij zu, all das erzählte der Kapitän, natürlich auf russisch, das von einem Steward, der kein seemännisches Wissen hatte, so gut es ging ins Deutsche übersetzt wurde. Das ganze war trotz der Seekarten, die er während seines Vortrages zeigte, so langweilig, daß Paul es vorzog, beim Dinner nicht zu fehlen. Hinterher hat Herr Bach erzählt, der längere Zeit dabei war, ein Passagier habe gefragt, wieso der Kapitän New York überhaupt verlassen hätte. Recht hat er, sagte Paul, wir wären vielleicht heute noch in Amerika, es war doch nicht schlecht da, oder?

Aber alle haben das, was der Kapitän gesagt hatte, doch nicht verstanden. Jedenfalls abends, als eine Vorführung im Bolschoi-Salon stattfand, traf Paul in einer Pause eine erregte Gruppe, die den Hurrikan mit unserem Entertainer Jan Fliege diskutierte. Nun muß man wissen, daß dieser Herr früher einmal Seemann war und sogar das Kapitänspatent haben sollte. Wieso er dann auf Kreuzfahrtschiffen wie der Dostojewskij herum tingelte, bleibt sein Geheimnis. Jedenfalls erklärte er sich bereit, am nächsten Tag eine Erklärung abzugeben zu dem Sturm. Paul, der sich genügend informiert fühlte, ist allerdings da nicht hingegangen. Er konnte außerdem den Entertainer nicht recht leiden.

 

Ja, Hurrikan-Nächte sind lang. Die Koslows hat Louis die ganze übrige  Kreuzfahrt beschäftigt. Anderen erging es genau so. So haben welche schon auf den Bermudas die Fahrt abgebrochen und sind nach Hause geflogen. Einer ist sogar bis zu den Azoren weiterhin mitgefahren. Das Wetter war herrlich, die See ruhig und die Passagiere haben sich so richtig entspannt. Er aber hat doch zuviel gekriegt und ist dann, auf den Azoren, von Bord gegangen. Auch Paul und den übrigen steckt der Hurrikan noch in den Knochen, und in den Nächten, in den Träumen, zerrt er plötzlich am Fenster und will rein, genau wie damals auf der Dostojewskij.


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