Zur Autorenübersicht | Neuere Autoren | Impressum

DER WAHRE BESITZER

Kurzgeschichte

von 

Horst Thun

 

 

Eine unerträgliche Stille lag über der grauen Amtsstube des Notars.

Hin und wieder kratzte Olaf seinen roten Kinnbart, wodurch er jedes-

mal empörte Blicke der übrigen Anwesenden auf sich zog, denen die

Geräusche wie das Tosen eines Wasserfalles erschien, gerade so, als

ob sie die Stille für sich gepachtet hätten.

Britta, die direkt neben Olaf saß , stieß ihm in die Rippen und flüsterte:

„Schau dir mal die verkniffenen Lippen deines Halbbruders an, der

glaubt doch nicht etwa, daß er das wunderschöne Sommerhäuschen

ganz für sich alleine bekommt?“

Jedesmal, wenn Britta den mutmaßlichen Erbgegenstand nannte -

noch wußte keiner, was eigentlich wirklich im Testament stehen würde -

fügte sie stets das Attribut „wunderschön“ hinzu.

Olaf bemerkte diese bewußte Beeinflussung nicht, oder er tat nur so,

als ob ihn das  alles  gar nicht interessierte.

Sein Bruder Georg, der aus erster Ehe seines Vaters stammte, hörte

zwar das Geflüster, konnte jedoch nichts verstehen. Sein schmales Ge-

sicht, dessen spitzes Kinn und scharfe Nase ihm ein etwas vogelähnliches ,

aber trotzdem durchaus gutes und  vor allem ein exotisches  Aussehen ver-

liehen, verriet seine halbspanische Abstammung.

Olaf und Georg hatten sich blendend verstanden, bis eines Tages eine

gewisse Britta von Olaf Besitz ergriff. Seit der Hochzeit hatte Britta

es geschickt hingekriegt, die beiden Halbbrüder -sie legte auf die Bruder-Hälfte

immer besonderen Wert - gegeneinander aufzuwiegeln.

Erst ganz langsam und unmerklich. Sie brauchte jedoch nur zwei Jahre,

um aus Brüderlichkeit Haß zu machen.

Georg wandte den beiden sein Gesicht zu. Seine Augen glühten und man

konnte nicht sagen, ob es ein haßerfülltes oder ein neugieriges Leuchten war.

Olaf drehte seinen großen Kopf mit der roten Löwenmähne zur Seite und

lenkte ab: „Wo bleibt denn nur der Notar? Es ist jetzt schon nach neun! Ich

muß meine Zeit auch einteilen!“

„Du  hast doch Zeit genug!“ konterte sein Bruder ironisch.

„Ausgerechnet du mußt das sagen, wo du doch  den ganzen Tag in den

Wäldern und um das Haus herumstreichst, um deinen Anteil festzulegen.

Aber du wirst schon sehen, unser Vater hat das ja alles testamentarisch

festgelegt. Auch dir bleibt nur das, was dir zugeteilt wird, wenn überhaupt...“,

regte Olaf sich auf.

„Was?“ ereiferte sich Georg, „schließlich liegt das Ferienhaus in den spani-

schen Bergen und ist eine Hinterlassenschaft meiner leiblichen Mutter; du

glaubst doch nicht im Ernst, daß meine Mutter nicht dafür gesorgt hat, mir

vorher einen gehörigen Anteil zu sichern, bevor sie Papa heiratete!“

„Ach nee, im Gegensatz zu dir haben Britta und ich, wie dir ja bekannt sein

dürfte, ein Kind und daher ein größeres Anrecht  auf das Haus. Ich gehe da-

von aus, daß Papa und Mama sich da schon geeinigt haben werden!“

Olaf versank in Gedanken und hörte die Antwort von Georg nicht mehr,

der sich sichtlich erregte und rot anlief.

Es ist wirklich ein kleines Traumhaus, dachte Olaf. Dazu gehört noch

ein bewaldetes Grundstück und eine kleine Wiese. Für einen Urlaub

mit Kindern geradezu ideal.

Das Holzhaus, in typisch spanischer Architektur gebaut, hat viele

kleine Zimmer und eine Küche, sowie einen kleinen Waschraum mit

mehreren Waschschüsseln. Das WC besteht allerdings aus einem etwas

abgelegenen „ Donnerbalken“, ähnlich  einem deutschen Zeltlager-WC.

Spanische Vorhänge  machen die Räume erst richtig gemütlich. Es wirkt

alles ein bißchen verspielt. Vor dem Haus befindet sich eine Terrasse mit

bunten Holzbänken. Hier läßt es sich, besonders abends, wenn die som-

merlichen Temperaturen erträglich werden, herrlich träumen.

Als Olaf noch nicht verheiratet war, hat er mit seinen Eltern und Georg

so manchen herrlichen Urlaub in diesem Haus verbracht, abends auf der

Terrasse gesessen und bei spanischem Rotwein heiß diskutiert und philo-

sophiert. Gegen Bezahlung kam dann einmal wöchentlich ein von vier

Pferden gezogener Tankwagen mit Frischwasser den Berg herauf und

füllte den Haustank auf.

Elektrisches Licht gab es nicht, dafür jede Menge Kerzen und einige Pe-

troleumlampen. Gekocht wurde auf Propangasflamme.

Olaf schreckte aus seinen Gedanken auf. Eine Tür wurde aufgerissen

und eine mächtige Gestalt schnellte mit großen Schritten hinter den

Schreibtisch. Alle Anwesenden waren nun hellwach. Ihre Nerven wurden

auf eine harte Probe gestellt, denn jetzt wird es sich entscheiden!  

WER   bekommt  WAS !

Der Notar begrüßte nur ganz kurz die drei Geladenen und verkündete

dann den Inhalt des Testamentes.

Olaf und Britta wankten  wenig später wie im Trance - Zustand  aus

dem Amtszimmer, während Georg noch ein Weilchen blieb.

Britta schluchzte heftig und tränenreich und konnte kein Wort raus-

bringen.Olaf sagte nur zornig vor sich hin: „Das kann nicht wahr sein,

nein das kann einfach nicht sein, das Testament werde ich anfechten,

und wie!  Du wirst dich noch wundern Bruderherz! Mit mir nicht!

Nicht mit mir!“

Der Inhalt des  Testamentes lautete in etwa so, daß Georg das Haus

mit Grundstück erbt, jedoch mit der Einschränkung, daß Olafs Familie

während der Urlaubszeit ein gewisses Wohnrecht eingeräumt wird; auf

Lebenszeit. Der Notar verlas dann noch Einzelheiten und die Begrün-

dung für diese seltsame Verfügung, doch hier haben Olaf und Britta

schon nicht mehr richtig hingehört.

Einige Wochen später beschlossen Olaf und Britta, nach Spanien zu

fahren, im Sommerhaus Urlaub zu machen und während ihres Aufent-

haltes einen Entwurf für eine gute Anfechtung aufzusetzen. Vielleicht

fällt ihnen vor Ort etwas ein, was ihnen bisher möglicherweise entgangen

ist. Nachdem nicht nur die Urlaubsvorbereitungen, sondern auch die  vor-

läufig rechtlich durchzuführenden Regelungen - man beachte den amtlichen

Befehlston - abgeschlossen waren, machten sie sich mit dem Auto auf den

Weg. Ihre elfjährige Tochter wurde vorher kurzerhand zusammen mit eini-

gen Gepäckstücken auf den Rücksitz verfrachtet und ab ging’s

In Spanien angekommen, verließen unsere Reisenden nun also die Auto-

bahn, fuhren über viele Landstrassen und bogen jetzt in einen langsam

ansteigenden Waldweg ein, der sie direkt zu „ihrem“ Sommerhaus führen

sollte.

In der letzten Nacht ihrer Etappe goß es in Strömen. Zwischendurch

zuckten Blitze vom Himmel, als wolle der Rachegott seine Macht be-

weisen. Es donnerte ohrenbetäubend. Ja, es war gerade so, als bebe die

Erde  und der Wagen wurde  fürchterlich durchgeschüttelt. Ein Sturm

 brach los, der die Bäume wie Peitschen fast zur Erde bog .Pötzlich

 knallte ein greller Blitz direkt vor das Auto in eine Wasserpfütze.

Britta und Töchterchen Iris schrien auf.

„ Halt an Papi, ich habe Angst“, brüllte Iris.

„ Du brauchst keine Angst zu haben, denk doch mal an den Faraday’schen

Käfig,  den ihr das letztemal in der Schule besprochen habt, dann weißt du

auch, daß wir im Auto sicherer sind als in irgend einem anderen Raum!“

versuchte der Vater zu trösten, doch er wußte nur zu gut, daß diese phy-

sikalische Weisheit angesichts der tobenden Natur jetzt überhaupt nichts

bewirkte. Frau und Tochter hatten ganz einfach wahnsinnige Angst; was

bedeuten da schon Naturgesetze.

Und wieder wurde das Auto durchgerüttelt, ja es verlor sogar kurzzeitig

den Kontakt zum Boden, knallte dann hart auf und stand quer zur Fahrt-

richtung. Olaf war die letzten Stunden, zum Glück aller, sehr langsam

gefahren, so daß der Wagen abrupt zum Stehen kam. Der Motor war

abgewürgt. Der Weg, den sie nun schon lange Zeit befuhren, hatte sich

allmählich mit Wasser angefüllt und verwandelte sich  fast in einen

reißenden Strom.

Der Wagen hatte sich beim  Aufprall auf den Boden etwas einge-

graben und wurde durch einige kleinere Steinblöcke derart verkeilt,

daß er nicht durch Matsch und Wasser weggespült werden konnte.

Das Wasser schoss unter ihnen hindurch oder wurde an den Rädern

zu einer kleinen Brandung. Olaf sah ein, daß es keinen Zweck mehr

hatte, auch nur einen Zentimeter zu fahren.                                                            

„Wir bleiben hier“, beschloß er.„Was?“ schrie seine Frau entsetzt,

„du willst uns hier sitzen lassen, wir werden hier umkommen!“

„Nein“, sagte Olaf bestimmt. „Hier sind wir einigermaßen sicher.

Der Wagen hat sich verkeilt und bietet uns somit einen relativen

Schutz. Jeder Versuch, ihn zu befreien, ja auch nur auszusteigen,

bedeutet allergrößte Lebensgefahr. Das Wasser wird jeden von

uns erbarmungslos mitreißen!“

Olaf kam sich vor wie ein Schulmeister. Obgleich Britta eine selbst-

bewußte Frau war, wurde sie angesichts der Naturgewalten ganz klein.

Auch Olaf hatte Angst. Wahrscheinlich war es nur die Rolle des Fahrers,

die ihm das Verantwortungsgefühl für seine Familie gab und ihm dazu

verhalf, psychisch über sich hinauszuwachsen.

Die Familie war jedoch einsichtig genug, diesen Vorschlag anzunehmen.

Schlafen konnte keiner. Sie lehnten sich zurück und harrten der Dinge,

die da kamen, während sie ängstlich dem Tosen des Wassers lauschten.

Es dauerte einige Stunden, dann nahm zunächst der Sturm ab und wenig

später hörte auch der Regen auf. Der Sturzbach ging  langsam zurück

und auf einmal war alles ganz still.

Mit der psychischen Erleichterung über den Naturwandel einerseits

verstärkte sich nun die Müdigkeit um so mehr. Keiner konnte sich

dagegen wehren und so gewann schließlich die Erschöpfung die

Oberhand. Britta wachte zuerst auf. Die Sonne brannte hernieder,

als müsse sie die Hinterlassenschaft der nächtlichen Welt ganz schnell

trocknen.                                                                                                                              

Leise weckte Britta die anderen.

Der Wagen ließ sich  leicht  mittels Motorkraft aus seiner

Verklammerung befreien und so fuhren sie nun wieder dahin, immer

leicht bergauf.

Plötzlich rief Britta aus: „Ich glaube wir sind gleich da!“

Und so war es auch. Olaf lenkte wenig später den Wagen auf ein

kleines Rasenplätzchen, das auch zum Grundstück gehörte und seiner-

zeit eigens für parkende Fahrzeuge angelegt wurde. Der Motor klang aus

und steif stiegen alle aus dem Wagen.

„Endlich geschafft !“ rief Iris lakonisch aus und reckte alle Glieder.

Das Parkplätzchen war durch  eine Baumgruppe und hohe Büsche vom

übrigen Grundstück mit dem Sommerhaus getrennt. Das hatte man so

gemacht, damit kein Blech durch seinen Anblick die Idylle trüben sollte.

„Mami“ quengelte Iris, „kann ich schon vorgehen?“

„Nun warte doch, wir müssen erst das Auto ausladen!“

Iris konnte es kaum erwarten, das vielgepriesene Feriendomizil zu sehen.

Bisher mußte sie immer bei Verwandten bleiben, wenn ihre Eltern in

Urlaub fuhren. Sie quengelte und quengelte und quengelte, bis Britta die

Geduld verlor und Iris anbrüllte:

„Nun hau schon ab, aber paß auf  die Gartentür auf, die hing das  letzte-

mal schon schief in den Angeln. Verletz’ dich nicht!“

Ohne zu antworten rannte Iris los und verschwand schon bald hinter den

Büschen. Stück für Stück zog Olaf die Gepäckstücke aus dem Auto,

reichte sie Britta, die alles ordentlich ein Stückchen vom Auto entfernt

aufbaute.

Plötzlich hörten sie die gellenden Schreie ihrer Tochter.

Olaf sah Britta nur einen ganz kurzen Augenblick an, dann rannten beide,

wie von der Tarantel gestochen, los. Kaum hatten sie die Büsche um-

rundet, blieben sie wie angewurzelt stehen. Das Blut wich aus ihren

Gesichtern und Entsetzen machte sich breit.

Iris hielt sich krampfhaft an einem herunterhängenden Ast fest, obwohl

sie auf sicherem Boden stand und zeigte auf eine breite, unheimlich

wirkende Erdspalte, die irgendwo westlich aus dem Wald kam

und in östlicher Richtung verschwand.

Nur einige am Rande liegende Holzleisten und eine Tür wiesen

gespenstisch darauf hin, daß hier mal ein Haus gestanden hatte !

 

 

 

 

Mehr von Horst Thun auf seiner Webseite http://www.evolbuch.de/

 


nach oben