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Das Briefgeheimnis

 

von Marlene Wieland

 

 

Der Taxifahrer, offensichtlich ein Ausländer, schaute ihr durch den Rückspiegel direkt in die Augen – einen Moment zögerte sie, dann hielt sie dem Blick stand und lächelte.

So viel Schnee, und dass noch im Februar, hoffentlich hatte Günter das Vogelhäuschen im Garten nicht vergessen, er wird froh sein, dass ich schon vor der Zeit komme, dachte sie und ihre angespannten Züge glätteten sich.

Darf ich das Handy hier benutzen ?  Aber selbstverständlich, madame, kam es von vorn, diesmal ohne Augenkontakt.

Gott sei Dank, Günter nahm sofort ab.

Was ? Du kommst schon heute ?  Ja, in 10 Minuten etwa bin ich zu Hause, kannst du rauskommen ?

Ich wäre ja noch geblieben, wenn Tanja nicht alleine klarkommen würde aber nur Bea hat noch an die 38 Grad Fieber, die anderen sind fieberfrei, wenn auch total entstellt mit diesen Windpocken – na, ich erzähle dir das nachher, wir haben ja dann Zeit, also bis gleich.

 

Günter freute sich offensichtlich, auf jeden Fall stand er bereits wartend auf der Straße und nahm Gisela in den Arm – bevor er sich mit Handschlag von dem Taxifahrer verabschiedete – komische Sitten, dachte sie.

 

Ich wusste ja nicht, dass du kommst, ich habe also nichts vorbereitet, aber Frau Lehmann hat alles geputzt und auch den Kühlschrank neu aufgefüllt, eigentlich müsste alles da sein.

Und so war es auch, das Abendbrot war schnell hergerichtet und stand in wenigen Minuten auf dem Tisch. Wie immer aßen sie abends kalt, Brot und Käse, Wurst und saure Gurken, Peperoni für Günter, Oliven für Gisela. Ein ganz normales Ehepaar mit zwei erwachsenen Kindern und drei Enkeln von der Tochter, die gerade die Windpocken fast überstanden hatten.

Gisela ist mit Leib und Seele Hausfrau und Oma, während Günter noch als Ingenieur in leitender Position arbeitete, aber seinen Vorruhestand schon beantragt, bezw. eingereicht hat. Also bald würde er immer zu Hause sein.  In letzter Zeit arbeitete er sehr häufig außerhalb, es war, als ob die Firma all sein Wissen noch abrufen wollte, sozusagen profitieren bis zur letzten Stunde.

 

Noch vor der Tagesschau eröffnete er ihr, dass er übermorgen wieder für eine Woche, also eine Arbeitswoche, nach Barcelona fliegen müsse und dankbar sei, dass sie wieder da sei.  Frau Lehmann hätte das Haus in dieser Zeit nicht hüten können, da habe er vorsichtshalber schon angefragt.

Gisela sah in den Garten, am Vogelhäuschen hingen Meisenknödel, sie wusste, was sie an Günter hatte.

Es schneite wieder, wie lange sollte das in diesem Jahr nur noch gehen. Tanja rief an, wie gut, auch bei Bea war das Fieber gesunken, alle drei auf dem Wege der Besserung.

 

Am Montag wurde Günter vom Chauffeur mit Firmenwagen zum Flugplatz gefahren, das gehörte schon zur Routine, wie üblich stand sie am Fenster und winkte.

 

Durch die zehn Tage, die sie bei ihrer Tochter im Rheinland gewesen war, war vieles liegen geblieben, vor allen Dingen Tages -Zeitungen hatten sich angesammelt, alles wurde nachgelesen, schon wegen der Todesanzeigen.

Dann kam die Post dran – wieder ein handschriftlich adressierter Brief an Günter darunter, diese Schrift, die hatte sie schon mal gesehen, das kam ihr bekannt vor.  Da Günter es hasste, kontrolliert zu werden, hatte sie nicht nachgefragt.  Manchmal ist es auch besser, wenn man nicht alles weiß, dachte sie.

Der Tag zog sich hin, es schneite nach wie vor und bei dem Wetter wollte sie das Auto nicht aus der Garage holen – mit einem Wort, ihr war langweilig.

Sie fing an, in der Brigitte zu blättern, war missmutig, nahm aus Verlegenheit die Autozeitschrift vom Schreibtisch, und sah dadurch erneut den Brief mit der Handschrift, der darunter lag.

Dann schenkte sie sich einen Sherry ein.

Dieser Brief ging ihr nicht aus dem Kopf, sie nahm ihn noch einmal in die Hand, drehte ihn hin und her und fing an, ihn mit Mittelfinger und Daumen beider Hände zu betasten.  Es fühlte sich an, als ob Karton darin sei, komisch, auf jeden Fall handelte es sich nicht um einen Briefbogen, auch nicht um eine Briefkarte, denn dieser Karton, dir sich fühlen ließ, war schmaler und auch niedriger.

 

Wenige Millimeter nur, aber doch spürbar kleiner als eine normale Karte.

 

Sie nahm den Umschlag wieder und wieder vom Schreibtisch auf, teils um zu fühlen, teils um hindurchzusehen, teils um daran zu riechen. Durchsehen ging nicht und ein Geruch, ein spezifischer Geruch ließ sich nicht ausmachen. Energisch sprach sie nein und legte den Brief  auf den Schreibtisch zurück.

Jetzt reichte es, was soll das, wird schon irgendeine Erklärung dafür geben. Sie holte sich eine Tafel Schokolade aus dem Versteck in der Vitrine mit dem figürlichen Meißen, goss sich noch einen Sherry ein und nahm den Platz vor der Glotze in Beschlag. Füße hoch und jetzt basta.

Ach, Günter Jauch  mit wer wird Millionär – die Welt schien wieder in Ordnung.

 

Noch vor 21 Uhr rief Günter an, er sei gut gelandet, viel Arbeit, das übliche aber reichlich kurz angebunden kam er ihr vor – hatte es wohl eilig – eilig am Abend?

 

 

Zwischen 22 und 23 Uhr stand sie in der Küche, das Wasser im Kochtopf brodelte, ihre Hausfrauenhände waren an heißen Dampf gewöhnt, in nur 10cm Abstand vom Wasser hielt sie schwenkend und drehend den Brief, die Seiten der Klappe fingen an, sich zu rollen.....

 

Sie nahm einen Bleistift aus dem Tonkrug, der mit Schreibutensilien in der Fensterbank stand und fuhr vorsichtig das ganze Dreieck des Umschlages damit ab, in dem sie den Stift rollend bewegte.  Geschafft – am Umschlag würde nichts zu sehen sein – keinerlei Verdacht könnte aufkommen, Gott sei Dank !

 

Was war das denn ?  offensichtlich eine Theaterkarte, groß, fest und farblich vom Rot ins Rosa übergehend.  An der linken Seite befand sich  ein Alu-Streifen.  Oben stand: Großes Haus, darunter Mittwoch 03.03.05   19.30 Uhr

LES NOCES und STRAWINSKY CONCERT

Tanzabend von Carlos Matos,

 

Ballett also, sie verstand die Welt nicht mehr – aha, noch ein Zettel, schien aus einem kleinen Buch herausgerissen -  ich erwarte dich – war zu lesen.

 

Mit Sicherheit von einer Frau geschrieben. Gisela hatte sich früher etwas für Graphologie interessiert und wusste noch, dass besonders die Unterlängen Sinnlichkeit erkennen ließen.  Ein g zum Beispiel mit einer langen ovalen Schleife, fast einem Oeltropfen gleich, wäre eindeutig gewesen.  Aber dieses -  ich erwarte dich – völlig neutral, keine Unterlänge, nichts, was irgendwelche  Schlüsse zuließ.

 

Sie würde der Sache auf den Grund gehen und die Karte selbst benutzen. 4. Reihe, Platz 91, das lohnt sich bestimmt – in jeder Beziehung.

Der mühsam geöffnete Umschlag wurde zerrissen und mitsamt dem Zettel ins Klo geschmissen.  Zweimal ziehen – und dann noch einen Sherry.

 

Und jetzt die Alarmanlage einschalten und dann schnell ins Bett. Trotz der Aufregung schlief sie gut. Am Dienstag ging sie vormittags in die Sauna und am Nachmittag zum Friseur. Mittwoch früh öffnete sie den Safe um das Perlencollier und die Ohrringe herauszunehmen und ab Mittag fieberte sie dem Abend entgegen.

 

Unmittelbar nach dem Telefonat mit Günter ließ sie die Taxe kommen – mit den eleganten Pumps und dem engen Rock wollte sie nicht selber fahren – es war immer noch glatt draußen und dann die Parkplatzsuche – und überhaupt ist es auch für den Nerz nicht gut.

 Wenn man die feinen Härchen schonen wollte, durfte man sich nicht

bewegen, durch Reibung litt das Fell, nein, so viel war der Abend wert. Selbst Günter wäre nicht selbst gefahren, der hätte allemal ein Taxi genommen.

 

Ununterbrochen hatte Gisela darüber nachgedacht, ob es irgendwie von Bedeutung war, dass Günter ausgerechnet zu einem Ballettabend eingeladen war – aber alles Grübeln hatte keinerlei Erklärung gebracht, sie musste einfach abwarten, wer sich neben sie setzen würde.

Im Theater selbst herrschte eine prickelnde Stimmung – Premiere, das hatte sie ganz überlesen – viele junge Leute, schrille Typen, Künstlertypen, grauhaarige mit langen Mähnen -  von der Vielfalt im Publikum war sie angetan, sicherlich viele Schwule, vielleicht auch Lesben – an so einem Ballettabend ist ja alles möglich,  Lesben zu erkennen, das fiel ihr schwer.

 

Reihe 4, Platz 91 !!!!   90 und 89 waren bereits besetzt, Mann und Frau, ca. 4O, sich unterhaltend, scheint ein Ehepaar zu sein, ging es ihr durch den Kopf. Am Platz 92 stand der Sitz noch senkrecht, wer würde sich da hinsetzen und würde sie das ertragen, oder hatte sie sich etwa zu viel vorgenommen, die Spannung wuchs von Minute zu Minute. Es klingelte bereits, der Platz war immer noch leer.

 

Im allerletzten Moment schießt eine junge Frau durch die Tür und lässt sich erschöpft auf den Eckplatz 92 fallen, sie streicht die Haare aus der Stirn, richtet ihren Rock und putzt sich die Nase.

Die ist ja mindestens 10 Jahre jünger als Tanja, ausgeschlossen, dass Günter sich mit einem so jungen Ding abgibt und ebenso ausgeschlossen, dass dieses junge Geschöpf sich einen 60-jährigen angelt.

 

Beifall, das ganze Haus klatscht und der Vorhang öffnet sich. Strawinskys Ballett ãLes Noces ã beginnt. Vier Klaviere, sieben Schlagwerke, Chor und vier singende Solisten am Bühnenrand.  Auf der Bühne selbst ein farbenfrohes Gewusel von Menschen, Bräuten, Hochzeitern, Gelage, Tanz, ängste und Sehnsüchte, schließlich sogar das wüste Wälzen in den Hochzeitsbetten.

Und diese Musik.  Gisela ist hingerissen und vergisst ganz, warum sie da ist.  Während der Pause hält sie sich unauffällig an das  vermeintliche Ehepaar zur Linken, doch reden diese nur von der Musik, wann welcher Einsatz kam und wann wer wen übertönt hat.  Ganz offensichtlich handelt es sich um rein Musikinteressierte – keinerlei Hinweis, dass einer von denen ihre Eintrittskarte bezahlt hat. Das junge Mädchen verschwindet in der Kantine, also jemand vom Theater, vielleicht eine Elevin.

Fehlanzeige    -    wenn der Abend mit dieser berauschenden  Premiere nicht so schön wäre, könnte man sich ärgern.  Was um Himmelswillen hat dieser Zettel mit ãich warte auf dichÒ zu bedeuten ?, abwarten, möglicherweise spielt sich an der Garderobe noch was ab.

 

Nein, auch da war alles wie immer, die Menschen drängelten, jeder wollte so schnell wie möglich seinen Mantel haben  -  einige gingen sicher auch zur Premierenfeier, zu der das Publikum vom Intendanten ganz zwanglos eingeladen worden war.  Sie würde nach Hause fahren und mit einem Glas Wein den Abend ausklingen lassen.

Fast 20 Minuten musste sie warten, die Taxen waren alle vorbestellt, daran hatte sie nicht gedacht.

Trotz des langen Nerzmantels fröstelte Gisela und sank müde auf den Rücksitz, dessen Tür der Fahrer ihr auf  hielt.

Der sah aus wie ein Droschgenkutscher, sicher ein Berliner, so was Gestandenes tat gut, nach den vielen Jünglingen auf der Bühne.

 

Richtung Schlachtensee bat sie, und das Auto setzte sich in Bewegung.

Berlin bei Nacht ist schön, aber Berlin bei  Schnee und Frost und dann noch im Dunkeln  ist umwerfend. Der Funkturm glitzerte von oben bis unten und sah aus wie mit Puderzucker bestreut.

Strawinskys Musik klang noch in ihr nach, als sie in die Spanische Allee einbogen – was war denn das ?  ihr Haus von oben bis unten beleuchtet, Leute im Garten, Polizei vor der Haustür – ihr stockte der Atem – wie durch Wolken hindurch hörte sie den Taxifahrer fragen , is  det ihr Schuppen ?

 

Ein Polizeibeamter öffnete die Tür, ein zweiter half ihr aus dem Wagen, beide stützten sie.   Wie um sich zu verteidigen, sagte sie fassungslos, die Alarmanlage war eingeschaltet  -   ja, sagte der Beamte, doch der Alarm wurde erst nach 20 Minuten weitergeleitet, das lässt sich an der Uhr feststellen, ausgelöst wurde er um 21.48 und bei uns kam die Meldung erst um 22.10 an.

Unsere Spurensicherung hat festgestellt, dass die ganze Außenanlage vereißt war, und zwar 5 cm dick, vermutlich wurde hier mit einer Wasserpistole gearbeitet.  Die müssen  bei diesen Temperaturen sogar warmes Wasser in die Pistolen gefüllt haben, sonst wäre das Wasser schon vor dem Spritzen gefroren gewesen.

Gisela, die die Fassung wieder erlangt hatte, wollte so schnell wie möglich ins Haus, durfte aber nicht, weil die Spurensicherung noch nicht fertig war.

ãKann ick ihnen behülflich seinÒ  hörte sie den Taxifahrer sagen.

Ja, bitte, bitte warten sie, hier kann ich jetzt auf keinen Fall bleiben – wenn ich doch nur erst rein könnte -  ich bezahle ihnen das alles.

 

Dann war es so weit. Das Erste, was sie sah, war, dass der Otto Dix fehlte – Katze im Kornfeld – futsch.  Das ganze figürliche Porzellan, alles Meißen, zum Teil in Prag unter schwierigen Bedingungen erworben, ebenfalls weg.

Der Lesser Ury , Straßenszene bei Nacht, der  immer in der Bibliothek hing,  auch futsch. Die Versicherung fiel ihr ein – würde die zahlen?  Im Arbeitszimmer fehlte eine kostbare Brücke – die Schreibtischschublade aufgebrochen – Papier durchwühlt – ihr Auge blieb an einer rosaroten Karte hängen, einer Karte mit Alustreifen, einer Theaterkarte, ausgestellt auf den 4. l2. ....

Der 4. l2, das Datum kam ihr so bekannt vor, ach ja, dass war das Wochenende , an dem sie mit den Kegelschwestern auf dem Christkindlmarkt in Nürnberg war -  und dann noch ein Zettel, sie kannte die Schrift – ich erwarte dich – keine Unterlängen.....

 

Ihr Herz pochte und ganz plötzlich setzte ein Drehschwindel ein – Günter, sie musste sofort Günter anrufen.   Der Beamte, der mit einem Glas Wasser unterwegs war, konnte gerade noch rechtzeitig den Schreibtischstuhl in ihre Kniekehlen schieben – wie in Trance ergriff sie das Wasserglas.

 

Ganz vorsichtig und langsam trank sie Schluck für Schluck, sie hörte die Stimme des Taxifahrers – ick warte uff sie – ihre Gedanken waren bei Günter, ihrem umsichtigen Günter, auf den immer Verlass war – da fiel ihr Blick auf das Vogelhäuschen.

Grüne leergefressene Plastiksäckchen baumelten im Wind..

Sie lief in die Küche, um frische Meisenknödel zu holen.

Im Garten wurde ihr schlagartig klar, dass das Leben weiter gehen würde......


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