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Menschen im Hotel

 

von Marlene Wieland (Wanda)

 

Wissen Sie eigentlich, dass das Eigentliche unsichtbar ist ?

 

So denke ich, sonst könnte ich hier nicht schreiben, denn auch ich gehöre zum Eigentlichen, also zum Unsichtbaren.

Mein Zuhause ist ein großes Hotel. Ein Hotel im Berner Oberland. Ein wunderbares Hotel mit dicken Mauern, 1896 gebaut und 1898 im Sommer eröffnet.

Ich kann sehen wie ein Mensch, und hören wie ein Luchs, die Beweglichkeit und Schnelligkeit habe ich von einer Schlange. Es macht mir nichts aus, von Wand zu Wand zu gehen, im Speisesaal zu horchen oder an der Decke eines Badezimmers. Durch die Wände hindurch beobachte ich die Gäste unseres Hauses – amüsiere mich – weine mit, wenn jemand ganz traurig ist und freue mich, wenn es etwas Erfreuliches gibt.

 

Wände können eine Sprache haben, Räume eine Seele, denen, die dies für möglich halten, schenke ich meine Gunst, ich beschütze sie, ich gebe ihnen gute Ideen für den Tag, erholsamen Schlaf für die Nacht, aber falls erforderlich auch Ausdauer und Stärke, keiner kommt zu kurz.

 

Sie alle können sich vorstellen, wie ein Hotel vor dem 2. Weltkrieg aussah und auch, wie das Leben aussah, dass sich darin abspielte. Wir hatten ein internationales Publikum, Greta Garbo besuchte uns jedes Jahr, sie liebte unser Bergmassiv und konnte sich an der Jungfrau nicht satt sehen.

  Nur diese vielen Hutkoffer, die sie hatte und der Stab von Menschen, der mit ihr reiste, führten immer zu Problemen. Ganz anders bei dem Schotten Robert Louis Stevenson, Autor der Schatzinsel und Erfinder von Dr. Jekyll und Mr. Hyde, der ebenfalls hier abstieg.  Stevenson wanderte 220 Kilometer von Le Monastier bis St. Jean-du-Gard mit der Eselin Modestin. Diese Reise ging 12 Tage lang durch die Cevennen.  Sie können sich nicht vorstellen, wie dieser Gentleman sein erstes Vollbad genoss, es war eine Wonne, ihm zuzusehen.

Außerdem war er eine Sensation im Speisesaal, er konnte wunderbar erzählen ohne sich in den Mittelpunkt zu stellen, sondern so, dass immer der Zuhörer Beachtung fand.

 

Das waren die guten Zeiten vor 1939. Dann brach der Krieg aus, was auch auf unsere Branche verheerende Auswirkungen hatte.  Bis 1941 hielten wir unser Haus offen, dann mussten die letzten Angestellten entlassen werden, nur eine Saaltochter und der Chef blieben hier.

Ich, der ich nur durch das Wort und vom Wort lebte, magerte entsetzlich ab.  Wenn überhaupt, wurde nur noch in den unteren Räumen und dort im Empfang gesprochen.  Ich saß also mehr oder weniger immer in der gleichen Wand und meine Muskeln schwanden, von gleiten keine Spur mehr, ruckartig und schwerfällig bewegte ich mich.

1943 wurde das Haus geschlossen, ich fiel ins Koma, was rückblickend das Beste war, was mir passieren konnte.

1945 hörte ich Stimmen, schweizerdeutsche Stimmen, ich spürte den Luftzug, den Sonnenstrahl und im Esssaal auch Farbe.   Oh, diese Farbe, der aparte Geruch, die Feuchtigkeit und auch das Oel, das darin enthalten war, taten mir gut.  Ich musste aufpassen was die Handwerker sagten, denn nur so konnte ich mich orientieren.

Bruno, der mit den Tischlerarbeiten beauftragt war, erwähnte dem Maler gegenüber das Wort ãRückwandererheimÒ. Was sollte das bedeuten ?

Würde etwa Mr. Stevenson eine neue Art von Wandern kreiert haben. Was soll rückwandern sein ?

 

Und dann kamen sie, sie kamen in Scharen, viele Frauen und Kinder, wenige Männer, sie kamen von überall her, aus Deutschland, aus Rumänien, aus Russland und aus Bessarabien.  Abgemagert bis auf die Knochen, grau im Gesicht, die Mütter voller Sorgen, was würde auf sie zukommen, diese Frage stand in allen Gesichtern.

Unser Hotel war nur für den Sommer eingerichtet, wir hatten keine Heizung und nun sollten diese Menschen hier leben – wie sollte das gehen.

Es ging.

In einen Trakt kamen die Erwachsenen, in den anderen die Kinder. Jungen und Mädchen wurden getrennt und bewohnten verschiedene Etagen.  Ein Stockwerk wurde als Krankenstation, wir sagten damals noch Lazarett, eingerichtet und nach und nach beruhigte sich die Sorge.

Es gab eine Kleiderkammer, die das Nötigste zum Anziehen bereit hielt und auch Schuhe. Schuhe brauchten alle.  Im Esssal wurden lange Tische aufgestellt, an die bis zu drei Familien passten. Es gab drei Mahlzeiten am Tag – für viele hier war das unvorstellbar und bei der Bekanntgabe, glaubten sie, sich verhört zu haben.

Hinter dem Esssaal entstand ein Aufenthaltsraum, der sogar beheizt werden konnte.

Meine Lieblinge saßen am ersten Tisch links, das war Frau Friese mit ihren beiden Kindern Tilly und Wulf aus Schlesien, der Vater war im Krieg vermisst.  Dann die Familie Lohmann, Vater, Mutter und Sohn Georg aus Russland und die Upsals aus Bessarabien. Auch dort gab es einen Sohn der Koka hieß.  Diese Tischordnung ergab sich am ersten Tag, eigenartig war nur, dass ausgerechnet diese Kinder und keine anderen, später die höhere Schule besuchten.   Ich war stolz auf sie, sie waren es, die innerhalb des Ortes in angenehmster Weise auf unser Haus aufmerksam machten.

Frau Friese hatte keinen Beruf, spielte aber wunderbar Klavier.  Der Heimleiter, der das erfuhr, bat sie an einem Abend im Essraum ein wenig zu spielen und zwar vor Publikum.  Frau Friese ließ sich das nicht zweimal sagen. Seit der Ausbombung im Jahr 1942 hatte sie kein Klavier mehr gesehen – einige Stücke konnte sie immer noch auswendig.  Notenhefte hatte man hingelegt, sie blätterte und probierte das eine oder andere Musikstück.

Für den kleinen Obulus von 10 Franken, den sie ab nächsten Tag heimlich zugesteckt bekam, zahlte sie einen Petroleumofen an, der nun am Abend in ihrem winzigen Zimmer Wärme verbreitete und den ganzen Flur verpestete. Es stank entsetzlich.

Tilly fand die Mutter oft mit dem runden Ofen zwischen den Beinen und dem Oberkörper über diesem, sich gerade noch wach haltend, vor.

Mutti, du fällst noch mal in den Ofen rein, pass bloß auf !

Ich bin so furchtbar müde und der Rücken tut so weh, als ob ich durchbrechen würde, sagte Frau Friese, fast entschuldigend.

Sie hatte Arbeit in einer Lingerie gefunden, einige Hotels waren wieder auf Fremdenverkehr eingestellt und bereit, diese Frauen ohne Beruf für geringe Bezahlung einzustellen. Dort hängte sie die schweren nassen Bettbezüge auf, die langen Tafeltücher, die gesamte Tischwäsche.

Vom Schwimmbad aus, sah man die Laken auf den Wiesen, direkt an der Aare, im Winde wehen.  Das Mangeln der Wäsche und das schrankfertige Zusammenlegen ging zu zweit recht gut. Frau Porter und Frau Friese arbeiteten Hand in Hand, das führte zur Lohnerhöhung.

Der Petroleumofen konnte durch Abzahlung zum Eigentum avancieren.

 

Im Aufenthaltsraum gab es ein großes Radio, es sah einem Schrank ähnlich. Vor diesem hockten die älteren, das Gesicht dicht am stoffbespannten Lautsprecher. Dieser Kasten ging ununterbrochen. An verschiedenen Tischen wurde Karten gespielt und dahinter kamen die Tische mit den Kindern, die hier ihre Hausaufgaben erledigten.

 

Ich versuchte alle meine guten Kräfte Tilly, Georg und Koka zu geben.   Wulf hatte es leichter, der war erst in der 5. Klasse und fing mit französisch an. Aber Tilly und Koka mussten drei Jahre Französisch nachholen, Georg war zwar gleichaltrig, ging aber erst in die 7. Klasse, weil er zusätzlich noch Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache hatte.

Es war erstaunlich, wie diese Kinder sich bei dem Lärm der dort herrschte, konzentrieren konnten.   Ich bewunderte und liebte sie.

Tilly bekam die Gelbsucht und musste auf der Krankenstation im Bett bleiben. Georg schob ihr kleine Zettel unter der Tür durch und dann sprang sie ganz schnell aus dem Bett, damit niemand vor ihr sehen konnte, was Georg schrieb.

Die beiden hatten sich wohl gern – dann kamen keine Zettel mehr – Tilly war ganz unglücklich, ich litt, weil ich ihr nicht sagen konnte, dass Georg  inzwischen auch die Gelbsucht hatte.

 

Der Esssaal schloß an einer Längsseite mit einer Veranda ab, die überhaupt nicht genutzt wurde.  Von Außen konnte man durch die Veranda hindurch in den Esssaal gucken.  Eines Tages wurde die Vorführung eines Filmes angekündigt, ich weiß es noch genau, es war ãDer weiße TraumÒ .  Ein Film, der in erster Linie auf dem Eis spielte, ein Revuefilm, trotzdem durften die Kinder ihn nicht sehen.

Das wollten sie nicht wahrhaben und so setzten sie sich trotz der Kälte in der Hocke vor die Veranda.   Nur die Köpfe guckten über den Sims und so konnte man wenigstens undeutlich die flackernde Leinwand im Esssaal erkennen.

Plötzlich ging das Licht an – alle rannten sofort davon – aber die Köpfe oberhalb des Simses waren noch zu erkennen gewesen.

Am nächsten Tag hieß es antreten beim Heimleiter – die Arme ausgestreckt, Handflächen nach oben und dann gab es kurze brennende schmerzende Schläge mit dem Lineal.

An solchen Tagen ging es mir sehr schlecht und ich litt an Magenkrämpfen.

 

Von den Sonnabenden habe ich noch nicht erzählt – das war ein einziges Arbeiten.  Im Speiseraum lag Parkett, wertvolles Parkett, das musste gespänt werden.  Jedes Kind bekam ein rechteckiges Stück Stahlwolle, flach und ungefähr so groß wie ein Fuß, nur breiter. Auf diesen Fladen stellte man einen Fuß und gab sein ganzes Gewicht darauf und dann wurde gerieben, rauf und runter, bis das Holz ganz sauber blieb.

 

Georg und Tilly spänten immer in einer Reihe, und wenn Tilly einen Krampf im Bein hatte oder keine Kraft mehr, dann half er ihr.   Tilly half ihm dafür beim Schreiben und sie ließ ihn auch in der Schule nicht im Stich.  Er hatte keine Freunde und Tilly stand ihm bei, wo sie nur konnte.

Ich glaube, die  beiden liebten sich, aber oft stritten sie auch. Und einmal, da schmetterte der Georg der Tilly einen Tischtennisball genau und mit Absicht an die Stirn.

Da drehte sie sich wütend um und sagte, mit dir spreche ich ein ganzes Jahr nicht mehr.

 

Irgendwann hörte ich, wie sie morgens sagte – 14 Jahr und sieben Wochen, dann ist der Backfisch ausgekrochen – ich ahnte, was das bedeuten sollte.

Tilly war nachdenklich, sie wartete, dass ihr Haare unter den Achseln wachsen würden oder dass sich ihr Körper entwickeln würde. Sie wusste, dass andere Mädchen eine ãPeriodeÒ hatten, aber zu ihr kam nichts und nur ich kannte ihren Kummer.  Sie war sehr gewachsen in letzter Zeit aber immer noch schrecklich mager, obwohl sie für zwei aß.

 

Dann kam die Zeit, wo sie alle Doppelkopf spielen lernten. Ein Junge aus der Nachbarschaft, der in Tillys Klasse ging, kam manchmal dazu. Es war inzwischen Sommer und man konnte draußen sitzen.

Was war der Georg eifersüchtig, seine Augen blitzten und er schrie Tilly an – warum spielst du nicht Kreuz, wo du genau weißt, dass ich Kreuz steche, du blöde Kuh.   Koka sticht auch, du Blödmann – kam zurück.

Re und keine 90 – alles musste er auf die Spitze treiben, dieser Georg.

Beim Frühstück am nächsten Tag ging Frau Lohmann dazwischen, als er wieder von dem versauten Kreuzstich anfing.

Tilly hatte irgendwo im Heim gehört, dass Frau Lohmann eine Bolschewikin sei und sie wusste nicht, was das ist.

Ich weiß es auch nicht, neue Worte erschließen sich mir nur, wenn ich sie öfters und in verschiedenen Zusammenhängen höre.

Nachdem Tilly ein ganzes halbes Jahr – ein Jahr war ihr zu lang – mit Georg nicht gesprochen hatte, fragte sie ihn,  ob seine Mutter eine Bolschewikin sei.

Georg wurde puterrot und sagte gar nichts, wahrscheinlich handelte es sich dabei um etwas unanständiges, auf jeden Fall wollte nun Georg ein halbes Jahr nicht mehr mit Tilly sprechen.  Aber sie wusste nicht warum., nur weil sie nach einer Bolschewikin gefragt hatte......

 

Am Ende des Sommers verkündeten Lohmanns bei Tisch, dass sie einen Ausreiseantrag nach Amerika gestellt hatten, es könne schnell gehen, sagte Frau Lohmann.

Georg wurde ganz blass, ich ahnte, dass er nichts davon gewusst hatte.  Mein nächster Blick ging zu Tilly, die guckte nach unten und war ganz still.

 

Ganz überraschend sprach jetzt auch Herr Upsal – er habe es nicht sagen wollen – es sei ja auch noch ungewiss – aber sie hätten eine Auswanderung nach Kanada beantragt.

Frau Friese nahm ihre Kinder an der Hand und verließ den Frühstückstisch.

Keine 14 Tage später konnten auch Frieses etwas verkünden. Das rote Kreuz hatte den Vater ausfindig machen können, er lebte also, er lebte in russischer Gefangenschaft,  wie die sich freuten, das werde ich nie vergessen.

 

Noch bevor es Winter wurde, verließen die Lohmanns unser Haus. Es ging von heute auf morgen, zu packen war ja nichts, man besaß so gut wie gar nichts.

 

Tilly weinte, sie weinte noch lange, immer abends im Bett, immer erst, wenn die anderen Mädchen schon schliefen, damit keiner etwas merkte.

Als es auf den Sommer zuging wurde sie 16.   jetzt war sie ein richtiger Backfisch, sie blutete alle vier Wochen, keine Bluse passte mehr und einen Badeanzug hatte sie auch nicht.

Sie hatte die Sekundarschule durchlaufen und das zweitbeste Abgangszeugnis.  Zur Abschlussfeier sollte sie den Ring ihrer Mutter tragen.  Frau Friese bestand darauf, sie steckte Tilly den Ring an den Finger, einen Aquamarin mit Brillanten umrandet.

Es war beschlossene Sache, dass Tilly für ein Jahr nach Lausanne gehen würde.   Ich sah sie im Garten sitzen. Sie hatte einen großen Marmeladeneimer vor sich und darin verbrannte sie etwas, es roch fürchterlich.

Was denn, die ganzen Zettel von Georg und auch Fotos lagen dort im Feuer, sowas aber auch -  und ganz zum Schluss schmiss sie noch die Doppelkopfkarten in die Flammen.

Na ja, sie hatte keine Schublade, keinen Schreibtisch, kein eigenes Zimmer, wo sollte sie das auch alles lassen ?

Wieder liefen ihr die Tränen über das Gesicht, vielleicht auch deshalb, weil Georg nicht ein einziges Lebenszeichen von sich gegeben hatte.

 

Drei Tage später verließ Tilly unser Haus, sie ging die Niesenstraße runter in Richtung Bahnhof, ganz allein -rechts hatte sie einen kleinen Koffer und links ein Taschentuch –, Frau Friese und Wulf würden wohl direkt zum Bahnhof kommen.

 

Trauern durfte ich nicht lange, meine Aufgabe ist es , hier für eine gute Atmosphäre zu sorgen, auf mein eigenes Befinden kann keine Rücksicht genommen werden.

Wie immer, war alles im Wandel. Nach und nach leerte sich unser Gebäude, viele Familien wanderten aus, einige gingen in ihre Heimat zurück und einige bekamen innerhalb des Ortes eine Bleibe. 

Frau Friese wurden zwei Zimmer im Dachgeschoss eines alten Bauernhauses angeboten, die sie dankbar annahm.

 

Dass ich das Jahr 1952 überleben konnte, grenzt an ein Wunder. Mein Hotel wurde total renoviert.  Nur in den dicksten tragenden Wänden war ein Vegetieren möglich.

Alles wurde erneuert, große Fensterscheiben kamen ins Haus und dann war es wichtig, die vielen Mäuse, die sich hier seit Jahren wohl fühlten und vermehrten, aus dem Haus zu bringen.   Selbstverständlich wurde auch eine Heizung eingebaut – Klimaanlagen, wie wir sie jetzt haben, kannte man damals noch nicht.

 

 

Mich entzückte  vor allen Dingen die pompöse Drehtür, die von außen ins Foyer führte.  Die Scheiben aus Panzerglas und echte Wildschweinborsten an der unteren Kante, um den Schmutz aufzufangen.

 

Dann kam das erste Personal, junge Leute aus Italien und Spanien, der maitre de cuisine aus Lausanne – ich dachte flüchtig an Tilly – aber nein, die konnte er wirklich nicht kennen.

Wir eröffneten mit dem Ball des örtlichen Tennisclubs und es hätte schöner nicht sein können. Ein 5-Gänge-Menue, ein Somelier, der die Gäste beriet, eine Tanzkapelle, die extra aus Zürich angereist war, die Damen in bildschönen Abendroben, die Herren im Smoking oder Frack.

 

In allen Schweizer Zeitungen wurde kurz darüber berichtet.  Ich hatte wieder ein Hotel, und was für ein Hotel – vier Sterne und 47 Zimmer – das würde Freude machen.

In der ersten Zeit kamen besonders viele Engländer, aber dann Menschen aus aller Herren Länder, ja, wir waren international.

Am Liebsten hielt ich mich in den Wänden der Bar oder des Speisesaals auf, dort herrschte immer eine ganz besondere Atmosphäre.   Kerzen standen auf den Tischen, täglich frische Blumen, blütenweiße Servietten, sie wissen das ja alles, was soll ich noch erzählen.   Meine Sprachkenntnisse erweiterten sich, inzwischen verstand ich schon die Schweden.

 

Dann kam das Jahr 1994, ein Jahr mit einem sehr heißen Sommer und es war Juli.  Enrico polierte die letzten Gläser an der Bar. Er wollte fertig sein, wenn die ersten Gäste vom Golfen eintrudelten. Solange er allein war, pfiff er leise vor sich hin.  Aber diesmal kam schon vor 17 Uhr eine Dame auf ihn zu, nicht mehr ganz jung, so um die 6O und die bestellte ein Glas Sekt, nein zwei, denn auch er sollte eins haben.

Enrico, hervorragend geschult, weiß, dass er bei einzelnen Damen Ausnahmen machen darf – aber er wird aus dem Gast nicht ganz schlau – spricht deutsch ohne Akzent, aber auch schweizerdeutsch, das hat er eigentlich noch nie erlebt.   Ich wusste sofort, die Stimme kenne ich, man wird mir verzeihen, dass ich sie nicht sofort zuordnen konnte – wissen sie, ich höre hier so viel und so oft wechseln unsere Gäste.  Vorübergehend konnte ich nicht verstehen, was geredet wurde, aber dann ging doch Enrico tatsächlich mit dieser Dame in die anschließenden Räume, in denen der Coiffeur und die Manicure untergebracht waren.   Dann hörte ich ein Lachen, die Dame bricht in ein schallendes Gelächter aus, das war unser Aufenthaltsraum, der einzige Raum, der geheizt wurde, hier haben wir drei Jahre französisch nachgeholt, können sie sich das vorstellen ?

Tilly, das war meine Tilly, was hatte ich mit ihr doch durchlitten, diese ganzen Vokabeln....

Nun ging das Fragen los, Enrico, die anderen Kellner, der Somelier, alle kamen und wollten wissen, wie das damals aussah.

Nur der Nachtportier, den Tilly dann abends kennenlernte, hatte mal gehört, dass hier ein Auffanglager gewesen sei, er hatte das aber für ein Gerücht gehalten, ein Hotel und dann Flüchtlinge, das passte so gar nicht zusammen.

Tilly erzählte und erzählte, wie sicher sie sich hier gefühlt hätte, endlich keine Bombenangriffe mehr, keine Nächte in Luftschutzkellern, keine Angst, dass über Nacht die Russen kommen, endlich Ruhe und Geborgenheit.

Tilly hatte sich für eine Nacht einquartiert – welche Ironie des Schicksals – im Grand-Hotel sitzen, von hinten und vorne bedient zu werden und zu wissen, dass man einst die Böden gespänt hatte.

Sie  dachte an ihre Mutter und an ihren Bruder und an all die anderen, die heute nicht da waren.  Frau Friese war 1985 gestorben, wie gern hätte Tilly sie heute eingeladen.  Sie aß das ganze Menue durch – sie aß für ihre Mutter mit.

In der Nacht schlief sie kaum.

Am nächsten Tag sah ich sie wieder die Niesenstraße hinunter gehen, langsam ging sie, sie drehte sich nicht um, in der linken Hand ein Taschentuch.

 

Ich war traurig – aber wie immer interessiert das niemanden – meine Aufgabe ist es, die Menschen hier glücklich zu machen, ihnen die Sorgen zu nehmen und ein angenehmes Klima zu schaffen – und das tue ich mit ganzer Hingabe.

 

Außerdem weiß ich, dass sie wiederkommen wird, es ist eine Frage der Zeit, ja die Zeit, die Dankbarkeit, die Treue, die Liebe, meine Wenigkeit, Ideale - ......... wissen sie noch, was ich zu Anfang sagte ?????

 

 

 

Nachzutragen wäre noch, dass ich inzwischen perfekt japanisch verstehe.

Jedoch weiß ich immer noch nicht, was eine Bolschewikin ist.


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