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Auf Wiedersehen in Sofia

Neue Freunde und junge Genossen

 

erzählt von

Peter J.Kurtenbach

 

1970

 

Unsere diesjährige Urlaubsplanung umfasste den Zeitraum vom 1. bis 29. August. Mit von der Partie waren wieder Ursula, Klaus und Günter. Die 'Gro­ßen' hatten diesmal keine gemeinsamen Urlaubspläne. Sie vertrieben sich, so weit sie Urlaub hatten, ihre Zeit zu Hause und legten ihr Spargeld für eine spätere größere Unternehmung, für Anschaffungen oder, wie  Maria, für die Finanzierung ihres Führerscheins zurück.

Unsere Zwischenstopps in Österreich und Jugoslawien waren wieder Lienz, Bregana und Alexinac.

In Sofia war die Freude über unsere Ankunft groß. Nicht nur bei Mami B.. Auch in der Ami Bue, bei Troschanowis, waren wir inzwischen gern gesehene Gäste. Dort erfuhren wir allerdings, dass Lily sich mit ihren beiden Töchtern am Schwarzen Meer aufhielt. Sie hatten in einem staatlichen Ferienheim in Kiten eine Unterkunft gefunden. Kiten war nicht weit von Primorsko entfernt. Also würden wir uns in den nächsten Tagen dort treffen. Oma Drumeva versprach, dass sie unser Erscheinen avisieren werde.

Frau B. war momentan auch allein. Franzl sei in der Provinz und werde in der kommenden Woche wieder zurück sein. Also haben wir uns fürs erste nur ganz kurz in Sofia aufgehalten. Gewohnt haben wir wieder auf dem Camping­platz in Vranja, wo es uns im Jahr zuvor recht gut gefallen hatte. Wir konnten auch wieder den gleichen Bungalow beziehen, in dem wir im vergangenen Jahr gewohnt hatten. Dieser war besonders günstig zu den Wasch- und Toilet­tenan­lagen gelegen. Was die Toilette betraf, da hatte ich gleich am ersten Morgen mein Erlebnis.

Die hier installierten Stehklosetts waren zwar nicht gerade bequem, aber unsympathisch waren sie uns, der Hygiene wegen,  auch nicht. Das, was ich zu erledigen hatte, war getan, also zog ich an der Strippe der Wasserspülung. Das war dann eigentlich schon das Erlebnis: Das Fallrohr, das vom Wasser­kasten in das Klobecken führte, hatte irgend jemand abmontiert und stand in der Kabi­nenecke, wo es auf keinen Fall hingehörte. Der gesamte Inhalt des Wasserka­stens ergoss sich über meinen Schädel. Im Bruchteil einer Sekunde war ich nass wie eine Ratte. Da ich mich noch zu rasieren hatte, blieb mir wei­teres Waschen trotzdem nicht erspart. Die Kinder hatten natürlich ihren Spaß, als sie von Papas Missgeschick erfuhren. Mein Schätzchen, das sich nun ver­dächtig tief über den Kaffeefilter beugte, ließ auch keine Traurigkeit erkennen. Wie heißt das Sprichwort: 'Wer den Schaden hat, spottet jeder Beschreibung', oder so ähnlich.

Die nächste Story schloss sich eigentlich gleich an. Ich hatte noch für das Früh­stück einzukaufen: Frischmilch, Butter und etwas Schafskäse.

Beim Kiosk war mein 'Pavilonski Natschalnik' gerade dabei, drei junge Männer aus der DDR zu vergackeiern. Dass dieser Kerl im Grunde seines Herzens auch ein wenig Schuft war, das war mir von Anfang an klar. Jetzt ärgerte es mich sogar. Die drei Burschen wollten weiter nichts als Milch, Butter und eine Obst­konserve. Mein Spezi verstand kein Wort. Die drei Ostberliner, wie sich noch herausstellte, waren schon schier verzweifelt. Wie will man Butter, Milch und Obst durch Handzeichen verständlich machen? Als es mir dann zuviel wurde, habe ich auf Bulgarisch verlauten lassen, dass es nun allmählich genug sei.

Diese Rüge machte meinen Freund sichtbar verlegen. Als die Burschen dann ohne weitere Anstrengungen bedient wurden, war ihnen klar, dass ich da inter­veniert hatte. Also bedankten sie sich, auf Deutsch, wie hätte es anders sein sollen.  Meinem 'Natschalnik' habe ich dann noch klar gemacht, dass ich die DDR auch nicht mag, was mit den jungen Burschen aber nichts zu tun habe.

Zu unserem Bungalow zurückgekehrt, stellte ich fest, dass die drei Ostberliner unsere direkten Nachbarn waren. Da sie nicht blind waren, sahen sie dann auch gleich, dass mein Auto ein westdeutsches Kennzeichen trug. Das erklärte natürlich alles.

Wenige Stunden später rüsteten sich unsere Nachbarn zum Aufbruch. Einer der Burschen kam zu mir, ob ich den Weg zum Rila-Kloster kenne, und wie die Straße dorthin beschaffen sei. Da ich den Weg zum Rila-Kloster aus verständ­li­chen Gründen nie vergessen werde, konnte ich diesem Jungmann versi­chern, dass die Straße dorthin völlig unproblematisch sei. Ja, und dann wollten sie noch ans Schwarze Meer. Ob ich ihnen da einen Tip geben könne. Ich konnte. Sie sollten sich von Burgas aus nach Süden orientieren. Kurz vor Pri­morsko gebe es eine Abzweigung zu dem Zeltplatz 'Perla'. Einen besseren Zeltplatz würden sie an der gesamten bulgarischen Schwarzmeerküste nicht wieder fin­den. Im übrigen würden sie dort auch vielen ihrer Landsleute begeg­nen. Ich holte meinen Campingführer vom ADAC aus meiner Kartentasche und zeigte ihm die Beschreibung dieses Platzes. Beim Anblick dieses Cam­ping-Nachwei­ses für den Südostraum flippte der junge Mann fast aus. Nein, so etwas Tolles hatte er noch nie gesehen. - Na, wer mich kennt, wird's schon erraten: Ich habe ihm diesen Campingführer geschenkt. Ich kannte mich ja eh in dieser Gegend aus. Diese Burschen konnten sich noch wie die Kinder freuen. Also dachte ich, dass ich ja doch nicht so übel bin.

Wenige Stunden später waren die Kerle startklar. Der Beifahrer hatte die Scheibe heruntergedreht, als der Fahrer den Zündschlüssel betätigte. Also sagte ich, dass wir uns dann auf dem Campingplatz 'Perla' vielleicht in den nächsten Tagen schon wiedersehen. Der Fahrer schaute mich mit freundlicher Verachtung an, als er meinte : 'Das kann schon sein, aber es muss nicht sein.' - Was will man dazu sagen? -

Schon tags darauf sind wir auch in Richtung Schwarzes Meer aufgebrochen. Unterwegs wollten wir aber erst noch in Veliko Târnovo Station machen. Wir hatten es im vergangenen Jahr dem Zeltnachbarn Noew versprochen. Und so haben wir es dann auch gemacht.

Noewis haben sich sehr über unseren Besuch gefreut. Sie stellten uns sogar ihr Schlafzimmer zur Verfügung. Einen Parkplatz besaßen sie selber nicht. Nach Târnovo fährt man tunlichst mit einem winzig kleinen Auto, und auch dann bleibt das Parken problematisch. Die nächsten drei Tage habe ich schon vor dem Frühstück nachgeschaut, was aus meinem armen Auto geworden ist. Gewiss wird es alle Ängste mit mir geteilt haben, aber es ist ihm nichts passiert. In Târ­novo war es in den Tagen entsetzlich heiß. Das hat dazu geführt, dass Ursula schon am ersten Abend einen Kreislaufkollaps erlitt. In unserer Borda­potheke war natürlich für alles etwas. In diesem Falle hat sich Liesel für Effortil Perlon­getten entschieden. Trotzdem haben die Noewis freundlicherweise nach einem Arzt gerufen. Es war eine Ärztin, die schon recht bald nach Ursula schaute. Eine bessere Therapie wüsste sie auch nicht zu empfehlen, wobei sie schon froh sei, wenn sie an ein solches Medikament überhaupt heranzukom­men wüsste. Ich fragte die Ärztin, was wir ihr schuldig seien. Nichts, überhaupt nichts, der Krankendienst sei im sozialistischen Bulgarien unentgeltlich, und Medikamente habe sie ja nicht zur Verfügung stellen brauchen. Was blieb mir wieder, als mit einer Flasche 4711 Echt Kölnisch Wasser 'Danke schön' zu sagen. Die Noewis brachten die Ärztin noch bis an die Straße. Dort haben sie sich noch eine Weile mit dieser Frau unterhalten. Als sie zurückkamen, erzähl­ten sie uns, dass diese Ärztin verlauten ließ, dass sie bei ihren Krankeneinsät­zen noch nie so beschenkt worden sei. 4711 Kölnisch Wasser kenne sie noch von ihren Eltern. In Sofia habe es damals eine Abfüllstelle dieser westdeut­schen Firma gegeben.  - Na, wem erzählten sie das.

Als Noewis erfuhren, dass wir nur drei Tage bleiben wollten, waren sie sehr ent­täuscht. Sie hatten geglaubt, dass wir unseren gesamten Urlaub bei ihnen ver­bringen würden. Sie hatten sich schon ein umfangreiches Besichti­gungspro­gramm zurechtgelegt.  

Als wir das orthodoxe Gotteshaus der Stadt besichtigen wollten, fanden wir es ver­schlossen. An einer Straßenecke des Kirchplatzes entdeckte ich eine Miliz-Sta­tion. Was ich mir dabei gedacht habe, in diesem Zusammenhang die Dien­ste der Miliz in Anspruch zu nehmen, weiß ich heute selbst nicht mehr. Jeden­falls zeigten sich die diensttuenden Milizionäre überaus diensteifrig. Einer der Uni­formierten schwang sich gleich in den bereitstehenden Jeep und brauste wie die Feuer­wehr davon. Es vergingen nur Minuten, da war dieser offene Gelän­dewagen wieder zurück. Auf einem der Rücksitze saß der Küster, wie man ihn bei uns nennen würde. Wie ein Häuflein Elend kauerte er auf dem Hintersitz.

'Peter, ist dir klar, was du diesem armen Schlucker angetan hast?'

Ja, inzwischen machte ich mir ähnliche Gedanken. Was mochten seine Lieben daheim momentan für Ängste ausstehen, nachdem man den Mann so urplötz­lich aus dem Hause geholt und mit ihm abgedampft war. Natürlich bedankte ich mich bei den Milizionären. Das war ja wohl das Mindeste. Der Küster schloss mit zittriger Hand das schwere Kirchenportal auf und verkroch sich dann in die Ecke der hintersten Sitzbank. Unser schlechtes Gewissen hat uns die Besichti­gung dieses Gotteshauses etwas verleidet. Zum Fotografieren war es eigentlich auch zu dunkel in der Kirche. Wie sich später herausstellte, sind doch ein paar brauchbare Fotos entstanden. Dann haben wir uns aber dem Küster zuge­wandt. Und diesmal war ich wirklich froh, dass ich mich etwas der bulgarischen Sprache bedienen konnte, So war ich immerhin in der Lage, mich bei diesem Mann in aller Form zu entschuldigen. Ich habe ihm eine Zwanzig-Leva-Note zugesteckt, was seinen Puls momentan wieder ansteigen ließ. Trotzdem, irgendwie hatte ich uns allen die gute Laune verdorben.

Tags darauf,  wir befanden uns bereits auf dem Wege nach Burgas, bekam ich wieder mit der Miliz zu tun. Diesmal wollte dieser Beamte aber etwas von mir. Wir fuhren aus einem Ort heraus, als ein LKW die Fahrbahn und die Sicht ver­sperrte. Also setzte ich meinen Blinker, um dieses Gefährt zu überholen. Jetzt erst gewahrte ich das gelbe Dienstfahrzeug der KAT, der bulgarischen Straßenpolizei. Der Beamte stritt sich gerade mit dem Fahrer eines tschechischen PKW's. Als er mich sah, hielt er auch mir die Kelle hin, damit ich rechts heran­fuhr und anhielt. Der wütende Tscheche ging mit beleidigenden Ausdrücken nicht gerade zimperlich um. Der Milizionär ließ sich das sogar bieten und gab nach einem kurzen Disput dem Tschechen den Weg frei. Als ich fragte, warum er mich anhalte, wies er auf ein Verkehrsschild hin, dass ein Überholverbot anzeig­te. Ich machte den Milizionär darauf aufmerksam, dass ich ja noch etwa dreißig Meter von diesem Schild entfernt sei. Ganz egal. Ich hatte den Blinker zum Überholen gesetzt, und er wollte sich jetzt nicht auch noch mit mir her­umstreiten. Er riss aus seinem Quittungsblock zehn Zwei-Leva-Quittungen. Ich erinnerte mich an den gestrigen Tag und an den armen Küster und hielt artig den Mund. Liesel konnte es sich nicht verkneifen, diese Quittungen in kleine Schnipsel zu zerreißen, um sie ihm vor die Füße zu zerstreuen. Dem Milizionär hat das in keiner Weise imponiert.

Wir waren froh, als wir endlich bei der Rezeption des Zeltplatzes Perla eintra­fen. Der Campingplatz war um diese Zeit stark belegt. Wir fanden einen Stell­platz in unmittelbarer Nähe einer Toilettenanlage. Das war natürlich gar nicht nach unserem Geschmack. Im Restaurant meldeten wir uns gleich bei Nikola, der uns trotz allen Gedränges einen bevorzugten Tisch reservierte.

Gleich am nächsten Tag haben wir uns nach Kiten auf den Weg gemacht, um mit Lily und den Mädchen zusammenzutreffen. Das Hauspersonal dieser staat­lichen Ferieneinrichtung zeigte sich betont unfreundlich, nachdem man sich vergewissert hatte, dass wir keine DDR-Bürger waren. Aber was soll's. Rumi und Maria hatten schon Ausschau nach uns gehalten und uns nun auch gleich entdeckt. Beide holten ihre Mutter noch dazu, und dann machten wir gemein­sam einen Bummel durch den Ort und an den Strand. Die Strandanlagen waren hier längst nicht so gepflegt und einladend wie in Perla. In den Folgeta­gen machten wir es so, dass uns die beiden Mädchen ein Stück Landstraße entge­genkamen, Treffpunkt war dann eine Tankstelle. Von dort nahmen wir sie dann mit auf unseren Platz. Lily war in Kiten mit zwei Kolleginnen von SOFIAPRESS zusammen. Bei denen konnte sie sich unmöglich zu Westtouri­sten absetzen. Dafür hatten wir auch Verständnis. Inzwischen kannten wir die Verhältnisse ja etwas.

Die Mädchen trafen wir nun jeden Tag an der besagten Tankstelle. Wir haben in den folgenden zehn Tagen sehr viel Freude aneinander gehabt. Natürlich trafen wir auch wieder Bekannte vom Vorjahr, die Ehepaare Burdin und die Tschipewis. Nasko, der Bademeister vom Vorjahr war nicht mehr da. Er diente inzwischen bei der bulgarischen Kriegsmarine. Schade, unsere Kinder hatten sich schon sehr auf ein Wiedersehen mit ihm gefreut. So blieben Rumi, Maria und unsere Kinder die ganze Zeit überwiegend unter sich. Ich fand in den Tagen Kontakt zu einem Facharbeiter aus der DDR. Er kam alle Jahre  hier­her, um sich auf diesem Campingplatz mit seiner Schwester zu treffen, die mit ihrer Familie in München wohnte. Die beiden Familien hatten sich, soweit es ging, regelrecht eingeigelt, rundum mit Sichtschutzplanen abge­schirmt. Dieser Mann hat mir doch so manches deutlich gemacht, über das ein Westler sich kaum Gedanken macht.

"Wenn Sie hierher in Urlaub fahren, wählen Sie die bequemste Route, und die geht ohne Zweifel über Jugoslawien. Für uns gibt es Jugoslawien überhaupt nicht. Wir bekommen unseren Weg, ein Stück durch Russland, den Rest durch Rumänien, vorgeschrieben. Dieses Stück Russland ist in jeder Beziehung das Allerletzte. Die Straßen ein einziger Morast, wenn es etwas geregnet hat. Und die Bevölkerung? Kein Interesse. Wir haben bei uns Russen mehr als genug. Dann kommt man an die rumänische Grenze. Die haben nur auf uns gewartet. Da müssen wir unser Zelt- und Reisegepäck deklarieren. Deklarieren, das heißt den ganzen Kofferraum ausladen und alles Stück für Stück auflisten. Auf diese Liste kommt dann auch der Einreisestempel. Dann heißt es wieder Kof­ferraum beladen. Und es ist ja nicht so, dass wir da allein wären. Da sind ganze Völker­scharen, die so bis zu den Knien zwischen ihren Klamotten stehen und an ihrer Liste pinnen. - Am gleichen Tag fährt man dann bei Giurgiu aus Rumänien wieder heraus. Dann geht das Spiel wieder von vorne los. Da ver­gleichen die rumänischen Zöllner unsere Liste mit den mitgeführten Klamotten. Fehlt dann etwas oder findet man etwas, was nicht auf der Liste steht, dann sind gleich alle Puppen am tanzen. Wenn wir hier auf dem Zeltplatz eintreffen, dann möchten wir erst mal unser bisschen Zelt aufbauen und keinen Menschen mehr sehen. Und dann das Geld. Wenn ich mich hier mit meinem Schwager unter­halte, dann erfahre ich, dass er das Dreifache von dem verdient, was ich als Facharbeiter in der DDR bekomme. Stehen wir am Wechselschalter, dann bekommt er für hundert DM etwa fünfzig Lewa und ich für meine Mark gerade zwanzig Lewa. Das gibt einem dann den Rest. Wenn Sie in ein, zwei Wochen wieder nach Hause fahren, haben Sie hier einen preiswerten Urlaub verlebt und haben sich dabei leidlich gut erholt. Ich werde auf meinem Weg nach Hause in Rumänien wieder genüsslich schikaniert, und die nächsten sechs Monate denke ich an nichts anderes mehr, als was wir doch für arme Schweine sind. Trotz­dem komme ich jedes Jahr hierher, um mich mit meiner Schwester zu treffen. Auf deutschem Boden ist das nicht denkbar."

Wir haben uns in den Folgetagen noch etliche Male getroffen, aber jedes Gespräch, das uns an unsere politischen Situationen hätte erinnern können, peinlich vermieden. Und das war nicht einfach.

Und dann trafen wir auch noch unsere drei Berliner Ost. Der freundliche Bei­fah­rer stand plötzlich im Zelteingang. Er war schon den ganzen Vormittag auf der Suche nach mir. Er habe nämlich einige Fragen.

"Wir haben für unser Zelt keine Platzgebühr gezahlt. Was wird's wohl geben, wenn wir damit auffallen?"

"Ja, mein Lieber, das weiß ich natürlich auch nicht. Hier hast du einen Park­schein, den ihr euch ins Fenster legen könnt. Das sieht dann wenigstens nicht mehr so nach Beschiss aus."

"Na, prima! - Was ich noch fragen wollte: Haben Sie vielleicht etwas Lesestoff aus dem Westen für uns?"

 "Was soll's denn sein?"

"Ich hatte schon 'mal an den Readers Digest gedacht. Haben Sie so etwas dabei?"

"Kannst du haben, aber was wird euer freundlicher Fahrer dazu sagen?"

"Was der Ihnen in Sofia gesagt hat, das sollten Sie vergessen, und ich möchte mich auch noch dafür entschuldigen. Wissen Sie, das Auto gehört seinem Vater. Dem verdanken wir, dass wir überhaupt 'individuell' nach Bulgarien rei­sen durften. Also nichts für ungut."

*

Die Kinder hatten in den Tagen viel Spaß miteinander. Klaus und Maria über­bo­ten sich in Mutproben, im Tauchen und im Wettschwimmen. Wenn das nichts zu bedeuten hatte.

Durch das tägliche Hinundherfahren zwischen Perla und Kiten hatte ich inzwi­schen meinen Tank leer gefahren. Ich füllte ihn an der großen Tankstelle, wo wir mit den  Mädchen all die Tage verabredet waren. Leider habe ich mir dabei die falsche Tanksäule ausgesucht. Das 83-Oktan-Benzin schmeckte meinem Ford nicht. Er spielte gleich den Beleidigten. Nein, 93 Oktan war wohl für ihn das Mindeste. Auf dem Campingplatz fand ich einen Bulgaren, der überglück­lich schien, mir diese Tankfüllung ohne Bezahlung abnehmen zu dürfen. Also steckte er sich einen Schlauch zwischen die Lippen, sog das Benzin an, und führte diesen Schlauch in seinen Tankstutzen. Dann spuckte und würgte er, bis er Mund und Rachen mit 0-Oktan reichlich nachgespült hatte. Ich musste statt dessen meinen Reservekanister in Anspruch nehmen, um dann bei erster Gelegenheit meinen Brennstoffbedarf für die Rückfahrt nach Sofia aufzufüllen.    

Als wir nach Sofia zurückfuhren, blieben die Mädchen noch zwei Wochen bei der Mutter in Kiten. Wir haben uns aber auch nur noch drei Tage in Sofia auf­gehalten. Diesmal war Mami B. doch arg zu kurz gekommen. Aber Franzl haben wir angetroffen. Er hatte uns zur Mittagszeit im ungarischen Restaurant ausgemacht. Bei der Gelegenheit stellte er uns seine Freundin vor. Mami selbst konnte dieses Weib nicht ausstehen. Wie wollten sie dann aber mitein­ander hantieren? Seit Mami durch unser Dazutun einiges an Kleidern besaß, schloss sie vor dem Verlassen der Wohnung Kisten und Kasten ab, damit ihr dieses Weib nichts aus dem Hause trage. - Nun waren die politischen Ver­hält­nisse doch schon schlimm genug, warum musste man sich dann auch noch unterein­ander so strapazieren.

Auf dem Campinggelände hatten wir zu guter Letzt noch ein merkwürdiges Erlebnis. In der Nacht waren zwei Mercedes-Fahrzeuge mit deutscher Zoll­nummer angekommen. Die beiden Fahrer hatten gleich neben uns einen Bun­ga­low bezogen. An dem einen Fahrzeug fiel uns auf, dass die Windschutz­scheibe auf der Beifahrerseite eingedrückt war. Dieser Wagen musste also einen Unfall gehabt haben. So war es denn auch. Der betroffene Fahrer war ein Türke, der in Gelsenkirchen ein Reisebüro unterhielt. Der arme Kerl war am Boden zer­stört. Er erzählte uns, dass er auf der Strecke zwischen Grenze und Sofia einen Mann überfahren hatte. Das Unfallopfer hatte sich auf dem Zebrastreifen der sechsspurigen Fahrbahn befunden, und er habe ihn ganz einfach überse­hen. Die Miliz hatte seinen Pass eingezogen, sein Auto sei beschlagnahmt. Er käme nicht einmal mehr an den Inhalt seines Kofferraums. Nun warte er dar­auf, dass die Polizei ihn abholen würde. Wir haben ihm noch Handtuch und Seife überlassen, damit er sich wenigstens etwas pflegen konnte. Ansonsten konnten wir ihm nur noch etwas Glück bei der anstehenden Gerichtsverhand­lung wünschen. Er überlies uns noch seine Visitenkarte, mit der Bitte, dass wir nach unserer Rückkehr nach Köln die Gelsenkirchener Ruf­nummer wählen möchten um seine Angehörigen zu benachrichtigen. Sein Name: Ali Airan. - Airan nennt sich übrigens auch ein erfrischendes Getränk, das durch die Tür­ken seiner Zeit  auf dem Balkan weite Verbreitung fand. Das ist ein mit Mine­ralwasser aufgequirlter Joghurt, dem man, wenn man hat, einige Eiswürfel unterrührt.    

Wie schon gesagt, blieben wir nur drei Tage und verabschiedeten uns dann bis zum nächsten Jahr.

Die Rückfahrt über Alexinac, Bregana und Lienz verlief reibungslos. Inzwi­schen kannte man diese Auto-Put ja auch schon auswendig.

**

 

Was ist die Welt doch klein!

1971

 

In Sofia war die Freude groß, als wir pünktlich, wie die Schwalben wieder einflogen, aber wir machten allen gleich zu Anfang klar, dass wir uns erst wieder einmal nur drei Tage in Sofia aufhalten würden. Für Pri­morsko/Perla hatten wir ganze zwölf Tage eingeplant. Diese Zeit haben wir dann aber auch in vol­len Zügen genossen. Diesmal waren auch die Platzver­hältnisse günstiger. Nikola reservierte uns wieder seinen besten Eckplatz und teilte einen rothaarigen Kellner für uns ein, der für die Zeit unserer Anwesen­heit für uns zu sorgen hatte. Der Bur­sche war ein Prachtkerl. Wir haben ihm das dann auch in der Sprache, die jeder Kellner versteht, deutlich zu erkennen gegeben.

Wir hatten einen sehr günstigen Stellplatz gefunden. Unser Zelt stand unter Krüppel­eichen direkt an der Böschung, die zum Sandstrand herunterführte. Da ist uns erst einmal ein sehr sympathisches Ehepaar aus Schleswig/Holstein aufgefallen. Wir haben sie in den späteren Jahren  noch einige Male getroffen, aber deren Adresse haben wir uns nie erfragt. Schade. - -

Dann machten wir die Bekanntschaft mit zwei bulgarischen Ehepaaren, deren Adressen ich mir aber festgehalten habe. Das war erst einmal der Direktor der bulga­rischen Akademie der Wissenschaften, ein Professor Jordan Malinowski, und ein Herr Manew, einstmals Leiter der Sofioter Abfüllstation der Firma 4711 in Köln. Jetzt fabrizierte er Zahnpasta in irgendeinem Kosmetik-Kombinat. Als er hörte, dass ich schon seit über zwanzig Jahren bei der Firma 4711 mein Brot verdiene, ist er buch­stäblich ausgeflippt.

"Was ist die Welt doch klein! - Lebt unser Exportleiter, Herr Rüschmeier noch?"

"Der lebt nicht nur, der ist sogar noch im Dienst."

"Bestellen Sie ihm und seiner Gattin doch recht herzliche Grüße von uns."

"Das besorge ich herzlich gerne."

Frau Manewa war eine sehr kultivierte Dame französischen Zuschnitts. Wir wurden gleich freundlich und herzlich in die bulgarische Prominentenrunde auf­genommen.

Auch Professor Malinowski beherrschte die deutsche Sprache perfekt. Zum Unter­schied zu seiner Gattin. Ihre Fremdsprache war Englisch.

Wir haben in der Folgezeit viel beisammen gesessen, und auch mein Schätz­chen hatte ihre Freude an diesen Bekanntschaften, was heißen will, dass Alko­hol nur in Maßen genossen wurde.

Professor Malinowski hatte seit einiger Zeit einen Kontakt nach Westdeutsch­land und zwar zu den Bayerwerken in Leverkusen. Er hatte eine Filmbeschich­tung entwickelt, die er den Bayerwerken, bzw. AGFA zur Auswertung angebo­ten hatte. Die Ver­handlungen liefen noch.

Was den 'Westen' betraf, so hatte er zwei Fragen, für die er nach einer plau­siblen Erklärung forschte:

"Die westlichen Wirtschaftssysteme funktionieren doch nur aus einem ständi­gen Wachstum heraus. Was ist, wenn solche Zuwachsraten nicht mehr reali­sierbar sind?"

Eine so berechtigte Frage, wusste ich nicht zu beantwor­ten. Es fiel mir nicht schwer, ihm dies einzugestehen.

"Über was reden Sie in Westdeutschland, wenn Sie sich nicht über Politik unter­hal­ten?"

Diese Frage konnte ich dann schon eher beantworten:

"Natürlich reden wir auch über Politik, aber nur dann, wenn wir uns über sie ärgern. Ansonsten gibt es bei uns andere Themen genug: Was macht die Familie? - Wie kommen die Kinder in der Schule zurecht? Wo waren Sie im letzten Jahr in Urlaub? - Wie läuft es in der Firma? - Usw., usw., usw. Es gibt so viele Fragen: Was halten Sie davon, wenn wir uns einmal zu einer Grill-Party zusammensetzen?"

"Da ist bei uns ja doch einiges ganz anders, nicht wahr, Herr Manew? Für uns gibt es hier, von der Politik abgesehen,  eigentlich nur zwei Themen: Wo kann ich mir im Augenblick etwas ganz Bestimmtes besorgen oder käuflich erwer­ben, und wo verbringen wir unseren nächsten Urlaub; am Meer oder in den Bergen?"

Herr Manew schaute sich erst einmal kurz um, ehe er mich befragte:

"Sagen Sie, was ist eigentlich in euren Bundeskanzler gefahren? Was hat der da drüben auf der Krim diesen Mistkerl von Breschnew abzuküssen? Habt ihr das inzwi­schen auch schon nötig?"

Was sollte ich dazu sagen? - Was in unseren Medien so hochgejubelt wurde, sah man in einigen Ländern des Ostblocks ja wohl doch etwas anders. Dann erklärte mir Herr Manew, was da so vor sich geht, wenn etwa ihr Schiwkow den KP-Chef aus Moskau brüderlich abküsst. Das geht dann so: Schiwkow fragt Bre­schnew ins rechte Ohr: "Genosse Generalsekretär, werde ich im Amt verblei­ben?" Breschnew flüstert dann in's linke Ohr: "Es liegt nichts gegen Dich vor." Dann Schiwkow, sichtbar erleichtert, wieder ins rechte Ohr: "Ich tu auch weiter­hin alles, was Du von mir ver­langst."

"Ihr solltet euch immer überlegen, wie dieses sozialistische Ritual auf unsere Bevöl­kerung wirkt, deren einzige Hoffnung ihr im Westen seid. "

"Damit sagen sie mir nichts Neues. Sie müssten erst einmal die Tschechen hören, was die uns seit der russischen Intervention im vergangenen Jahr hier um die Ohren geben. Da hat es ja hier auf dem Platz schon handfeste Prüge­leien zwischen Tsche­chen und deutschen Urlaubern gegeben. Da werden auch keine großen Unter­schiede zwischen Ost und West gemacht, eben wegen dieser Bilder von der Krim, die über die Medien verbreitet wurden. "

Da waren wir also schon wieder bei der Politik. Um wieder zu fröhlicher Urlaubs­stimmung zurückzufinden, lag mir dann doch gleich noch ein DDR-Witz auf der Zunge: Betritt also ein DDR-Bürger irgendwo ein Geschäft und fragt in gewohnter Bescheidenheit: "Entschuldigen Sie viel­mals, gibt es hier keine Hemden?" Kommt die Antwort: "Nein, hier bei mir gibt es keine Schuhe, keine Hemden gibt es nebenan."

Ich hatte das Glück, dass man diesen Witz noch nicht kannte. Man lachte sich schlapp und ging zu freundlicheren Themen über.

Wir waren heilfroh, dass wir von diesen beiden Ehepaaren so sympathisch auf­ge­nommen wurden.

Der Umgang mit den Schleswig-Holsteinern war natürlich politisch völlig unbe­lastet. Wir trafen uns bei den Mahlzeiten im Restaurant und alberten und blö­del­ten, wie  einem das nur im Urlaub gelingt.

Da fällt mir noch ein, dass eines Tages eine Kellnerin an unserem Zelt auf­tauchte.

"Entschuldigen Sie bitte die Belästigung, aber mein Kind, das ich hier bei mir habe, scheint mir sehr krank. Jedenfalls hat es sehr hohes Fieber und nimmt keine Nah­rung mehr zu sich. Können sie mir vielleicht helfen, wo Sie doch in Westdeutschland über sehr wirksame Medikamente verfügen?"

Liesel hat ihr ihre Treupel-Zäpfchen überlassen, ein fiebersenkendes Mittel, beson­ders für Kleinkinder geeignet. Schon am nächsten Morgen stand sie an unserem Zelt und tat so, als ob ein Wunder geschehen sei. Zum Dank schenkte sie meiner Liesel einen kleinen Tischläufer, den sie in den letzten Sai­sonwochen in ihrer Unterkunft während ihrer Freizeit gestickt hatte. Wir mussten dieses Geschenk natürlich annehmen, was uns nicht schwer gefallen ist, haben wir uns doch auch mit dieser jungen Mutter, der Stoijanka Malinowa Stankowa, aus Burgas, gefreut. – Ach ja, was sagt uns der Name dieser dankbaren Mutter? Stoijanka, das ist natürlich ihr Vornahme, Malinowa verrät, dass ihr Vater ein Herr Malinow war, was in der bulgarischen Sprache auch Himbeere heißt. Stankowa sagt uns, dass sie einen Herrn Stankow geheiratet hat. So kompliziert einfach ist das bei den slawischen Völkern.

*

Nach Sofia zurückgekehrt, gab es viel zu erzählen. Dr.Troschanow kannte sowohl Herrn Malinowski, wie auch Herrn Manew. Herr Malinowski sei ein all­seits hoch angesehener Wissenschaftler. Da er sich bisher politisch in keiner Weise engagiert habe, sei es schon sehr bemerkenswert, dass man ihn trotz­dem zum Direktor der Akademie gewählt habe. - Aber jetzt etwas ganz ande­res: Wir beide, Troschan und ich,  seien doch in diesem Jahr fünfzig Jahre alt geworden. Er habe die Absicht, an einem der nächsten Tage eine gemein­same Geburtstags-Nachfeier zu organisieren. Dem stand ja eigentlich nur noch die Straßenverkehrsordnung entgegen: Alkohol­grenze 0,00%.

Diese nachgeholte Geburtstags-Fete hat er an ein bulgarisches Traditions-Restau­rant festgemacht, das sich 'Owtschárnik', also Schafsstall, nannte. Diese folkloristi­sche Lustbarkeit war in dem Dorf Simeonowo, am Fuße des Witoscha-Gebirges, gelegen. Von hier hatten wir auch einen sehr kurzen Heimweg zu unserem Motel, das sich 'Gorubljane' nannte und gleich neben dem Camping­platz Vranja lag, von dem hier schon die Rede war. Troschan wollte uns an jenem Abend typische Natio­nalgerichte anbieten, aber da hat er uns doch etwas falsch eingeschätzt. Das geba­ckene Hirn von jungen Läm­mern, dieses 'Mósk', (gesprochen: Mosek), ist er an uns nicht losgeworden. Mit den gefloch­tenen Lammdärmen in Knoblauchsoße hatte er auch kein Glück. Erst bei der Lammzunge konnte er mit uns rechnen. Da haben wir alles vorher Verschmähte genüsslich nachgeholt. Bei der Zunge spricht man in der bulgari­schen Sprache von 'Esík'. Das ist aber auch der bulgarische Begriff für Spra­che. Da gibt es noch andere Beispiele, wie etwa an der Tankstelle. Fragt der Tank­wart mit dem Zapfhahn in der Hand: 'Puno?' , so will er fragen, ob er volltanken soll. Puno heißt im Deutschen aber auch 'viel'. Noch lustiger erscheint uns der bulgari­sche Begriff 'Máßlo'. Máßlo steht für alles, was Fett­augen auf die Suppe bringt, also für Butter, für Fett und auch für Öl. - In der Zeit, von der hier die Rede ist, waren die Armaturen­bretter des russischen 'Lada' noch cyrillisch beschriftet. Man wollte den Auto­bauern nicht eingeste­hen, dass die Masse der produzierten Karossen in das westliche Ausland exportiert wurde. Das war verständlich, wenn man bedenkt, dass ein russischer Autobauer bei 'Lada' einen Kaufan­spruch anmelden musste, der erst nach Jah­ren zu einer Auslieferung führte. Also las man bei der Anzeige, wo bei uns ganz schlicht und einfach 'Öl' zu lesen steht, das cyrillische Wort 'Maßlo'. Natürlich wird es auch dem einfältig­sten Russen niemals eingefal­len sein, die Ölwanne mit Butter oder Schmalz zu füllen, und auch nicht mit dem Öl, in dem er seine Mehl­schwitze anrührte. So simpel und logisch sich die sla­wischen Sprachen in dieser Weise darstellen, leicht zu erlernen sind sie trotz­dem nicht - zumindest für mich nicht.

Da bin ich doch jetzt ganz von unserer Geburtstagsfeier abgekommen. Troschan und ich, der 21er Jahr­gang, den es im Zweiten Weltkrieg doch arg erwischt hat. Dabei soll völlig vergessen bleiben, dass Troschan vom 6.September 1944 bis zur Kapitu­lation im Mai 1945 mein Feind war. Er hätte mich doch glatt erschie­ßen müssen, wenn ich ihm damals schon über den Weg gelaufen wäre.

Für die Mami B. hatten wir uns diesmal etwas ganz Besonderes ausge­dacht, und Troschan wollte uns dabei behilflich sein, weil es da Probleme geben könnte. Frau B. sollte einmal für einige Tage aus ihrem stinkenden Dreck­loch heraus. Wir wollten sie für eine Woche in ein Motel auf halber Höhe des Witoschagebirges einquartieren. Dieses Motel nannte sich 'Tischija Kt' . Dieses kaum aussprechbare Wort sollte einen nicht abschrecken. Zu deutsch heißt das nämlich 'Stiller Winkel'.

Troschans Befürchtung, dass sich bei unserer Einquartierung Schwierigkei­ten erge­ben könnten, waren berechtigt. Als wir dort oben, in etwa 1.500 Meter Höhe, mit der Rezeptionistin verhandelten, schien es erst einmal völlig ausge­schlossen, dass westdeutsche Pässe und eine bulgarische Kennkarte in einem Schlüsselfach abge­legt werden könnten. Troschan hat mit Engelszungen diese gewissenhafte Genossin becircen können, dass sich vielleicht doch noch ein anderer Weg finden ließ. Und der sah so aus: Wir belegten mit unseren Kin­dern Ursula, Klaus und Günter die Bunga­lows 12 und 14 und unsere Frau B. das Appartement Nr. 64. So, da hatte sie uns weit genug voneinander. Unser Troschan hat sich an jenem Nachmittag entsetzlich geschämt, wie er mir hin­terher gestand. Wie pflegte sein Schwie­gervater, der alte Opa Drumew, zu sagen: "Eine Schande, eine Schande!" - Ich habe unsere Mami zu ihrem Appartement beglei­tet, um ihre paar Utensilien zu tragen und mich von dem guten Zustand dieser Unterkunft zu überzeugen. Ich hatte die Miete ja immer­hin zu bezahlen. Aber da war nichts zu beanstanden. - Am nächsten Morgen in der Früh erfuhren wir von unserer Frau B., dass dieses Suppenhuhn von der Rezeption Punkt Mitter­nacht telefonisch bei ihr durchgeru­fen hatte, um sich zu überzeugen, dass diese dubiose Person nicht etwa noch im Bett dieses West­deutschen gelandet war.

Wir haben gut dort oben gelebt, im 'Stillen Winkel'. Das Restaurant lieferte aus­ge­zeichnete Speisen, und die Natur rundum war einmalig schön. Wir haben all das in vollen Zügen genossen. Ich erinnere mich noch gut, wie wir in einem lichten Wald- und Wiesenhang unsere Luftmatratzen ausgelegt hatten. Mami, Liesel und Ursula schwebten gewissermaßen auf der gesunden Luft der Wito­scha-Region, die wir in unsere Matratzen gefüllt hatten, während ich am laufen­den Band Witze erzählte. Mami B. hat Tränen des Lachens und der Freude darüber vergossen. Unsere beiden Knaben, Klaus und Günter, hatten ihre Hosen ausgezogen (um sie zu schonen) und waren in die umstehenden Bäume gestiegen, wo es überreife Mirabellen zu ernten gab. Da es in ihren Unterhosen keine Taschen gab, haben sie in frevelhafter Weise die fruchttra­genden Äste abgebrochen und zu uns heruntergeworfen. Als wir uns auf­raff­ten, um zurück zu unseren Unterkünften zu gehen, meinte Mami B.:

"Sollte ich in meiner Todesstunde an diesen Nachmittag zurückdenken, bin ich sicher, dass am Ende in meinem Gesicht ein Lachen stehen geblieben ist."

Leider ist sie ganz anders gestorben. Aber das haben wir an diesem Nachmit­tag nicht gewusst. Es ist schon ein Segen, dass uns der Blick in die Zukunft ver­wehrt bleibt. 

Wer möcht’s glauben: Wir kamen aus der Stadt zurück, als uns beim Motel Gorubljane, gleich bei unserem Camping-Gelände, ein ziemlich ramponierter Merce­des begegnete. „Das war Ali!“ - Der dies ausrief war unser Klaus - und er hatte sogar recht. Ali wohnte im Motel und war erst in der Früh aus dem Knast entlassen worden. Gleich danach hat er wieder einen Unfall gebaut. Diesmal aber ohne Personenscha­den.

„Oh, ich bin glucklich Sie wiederzusehen!“

Am darauffolgenden Morgen lud er uns zu einem Frühstück im Restaurant der Cam­ping-Anlage ein. Hauptbestandteil dieses Frühstücks war eine ganze Ter­rine gekochter Eier. Über die 365 Tage Sofioter Knast erzählte er kaum etwas. Er war immer wieder glucklich, uns als die allerersten Bekannten wenige Stun­den nach sei­ner Haftentlassung, wiederzusehen.

Auf der Rückfahrt nach Sofia musste ich unterwegs noch einmal meinen Tank auf­füllen. Der Tankwart, von einem Deutschen in seiner Muttersprache ange­sprochen, zeigte sich daraufhin ganz besonders diensteifrig. Leider öffnete er im Eifer des Gefechts einen Moment zu früh den Zapfhahn. Dieser Moment reichte aber aus, mich von Kopf bis in die Schuhe mit Super­benzin einzusauen. Er muss wohl gedacht haben, dass ich ihn jetzt erschlage. Diese Möglichkeit ist mir aber erst in Sofia in den Sinn gekommen, als wir bei unseren Freunden in der Ami Bue anlangten. Ich bin gleich unter die Dusche. Trotzdem sah ich aus wie ein Flusskrebs, den man soeben aus dem kochen­den Wasser gezogen hatte.   

Dann war die Zeit wieder vorbei, der Abschied stand an. Wir haben uns alle bei Troschanowis versammelt, von wo wir dann unsere Rückreise starteten.

An meinem ersten Arbeitstag im Büro versäumte ich es natürlich nicht, gleich die Grüße von meinem Zeltnachbar, Herrn Manew in der Exportleitung auszu­richten. Herr Rüschmeier mochte sich gerne an diesen ehemaligen 4711er erinnern.  Dieser Manew sei nicht nur ein gewitzter Manager gewesen. In Gesellschaft und bei Zusammenkünften galt er als ein höchst unterhaltsamer ‚Festgenosse’.

„Herr Kurtenbach, wenn Sie im kommenden Jahr wieder nach Bulgarien rei­sen, dann kommen Sie vorher bei mir vorbei, damit ich Herrn Manew eine kleine Freude mit auf ihren Weg geben kann.“

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