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Pik Bube

Großbaustelle NOVA PAZOVA

 

Ein neues Arbeitskommando wurde ausgerufen. In Nova Pazova, dreißig Kilometer von Zemun entfernt, sollte ein Militärflugplatz errichtet werden, der den Anforderungen künftiger, düsenbetriebener Fluggeräte gerecht wurde. Die UdSSR, die, wie sich später herausstellte, hinter diesem Projekt stand, trat vorerst nicht in Erscheinung. Für die Planierung des Flugfeldes waren ganz erhebliche Erdbewegungen vorzunehmen. Diese Leistung sollte von deutschen Kriegsgefangenen erbracht werden.

Ich meldete mich noch aus dem Krankenrevier zu diesem Kommando. Mein linker Fuß war so weit wiederhergestellt, dass ich jeden Tag mit meiner 'Arbeitsfähigkeit' rechnen musste. Wenn ich von Zemun wegging, würde sich mein Problem mit Helmut von selbst lösen. Ich war ja auch vorher ohne ihn zurechtgekommen.

Der Abtransport ließ nicht lange auf sich warten. Vierhundert Mann, so hatte es geheißen, würden für dieses Kommando zusammengestellt. Also auf nach Nova Pazova.

Die Ausdehnung dieses Ortes haben wir nie erkunden können. Wir hatten unsere vorgeschriebenen Trampelpfade. Die Straßen waren sauber, die Häuser machten insgesamt einen ordentlichen Eindruck. Am Ortseingang, von Belgrad kommend, befand sich die Pfarrkirche. Die Dorfbewohner waren überwiegend oder sogar allgemein lutherischen Glaubens. Irgendwann habe ich mir das Innere dieser Kirche einmal angeschaut. Im mittelgroßen Kirchenraum waren Wirtshausstühle hochgetürmt, nahezu bis unter die Decke. Zwischen den zahllosen Stuhlbeinen hindurch hatte man noch soeben einen Blick auf die Altarwand. Dort stand, als Spruchband gestaltet: "Bis hierher hat uns Gott gebracht...". Sicher war es der zum Ausdruck gebrachte Dank der schwäbischen Vorfahren, hier, am Flusslauf der Donau, eine neue Heimat gefunden zu haben. Jetzt, in unserer Situation, wirkte der Textanfang dieses alten Kirchenliedes doch recht merkwürdig.

Unsere Unterbringung war sehr gut vorbereitet. Alles deutete darauf hin, dass hier auf längere Sicht geplant worden war. Die neue Unterkunft muss noch während des Krieges eine Grundschule gewesen sein. Jetzt hatte der Militärflugplatz Vorrang.

Ein breites, vergittertes Tor und eine kleine Nebentür gewährten Einlass auf einen von Gebäuden umgebenen Hof. Gleich linker Hand wurde die deutsche Lagerführung untergebracht. Das waren drei Personen: Der Lagerälteste und zwei Männer, die sich 'Antifaschistischer Ausschuss' nannten. Das waren ein erster und ein zweiter Vorsitzender.

Ich bin hier in Nova Pazova zum ersten Mal diesem Begriff und dieser Einrichtung begegnet. Was unter dieser Ausschusstätigkeit zu verstehen war, das blieb abzuwarten. Rechts vom Tor war das Krankenrevier mit der Unterkunft für Arzt und Sanitäter. Ein ehemaliger Oberstabsarzt der Luftwaffe versah die Krankenbetreuung. Im rechten Winkel zum Krankenrevier schloss sich ein Gebäude an, das drei Treppenstufen unter Normalniveau lag und nur einen gestampften Lehmboden besaß. Welche Funktion dieser Raum einmal im Schulbetrieb hatte, wusste man sich nicht vorzustellen. Jetzt war er jedenfalls unser Strafbunker. Über der Tür stand, aufs weiße Fachwerk gepinselt: FIRMA KLEMM & KLAU. - Kein Zweifel, das war ein Karzer für Internes. An diesen Bunker schloss sich die Küche an. Gleich bei der Küche und mitten auf dem Hof waren an zwei Plattformen große Stahlbehälter aufgestellt, die mit einer hochgezogenen Handpumpe verbunden waren. In den einen Behälter war der Wasserbedarf der Küche hochzupumpen. Der andere Wasserspeicher entleerte sich über einer langen Waschrinne. In ein langes Rohr waren beidseitig Löcher gebohrt, unter denen man sich über der Ablaufrinne waschen konnte. Neben der Küche kam in einigem Abstand ein weiteres Gebäude, welches vorerst zwecks besonderer Verwendung leer blieb. Zwischen diesen beiden Räumlichkeiten führte ein breiter Durchgang auf einen weiteren Hof. Hier schlossen sich rechts und geradeaus unsere Unterkünfte an. Zur Linken war dann noch, in einigem Abstand, die Latrine.

Die Pritschen in den Schlafräumen waren nur zweigeschossig. Die obere Pritsche hatte einen Abstand von einem Meter fünfzig zum Boden. Ich wählte kurz entschlossen Obergeschoss, Fensterplatz. Da wurde ich nur von einer Seite beschnarcht. Bei Tag hatte ich immer gutes Licht und frische Luft bei der Nacht. Die Nachbarn waren alles neue Gesichter. Vielleicht waren es die gespannten Erwartungen an die neue Situation, jedenfalls machten sie alle einen guten und aufgekratzten Eindruck.

Neben der Essensausgabe hing, wie inzwischen gewohnt, die Bimmelkartusche, das feierliche Geläut, das uns zur Arbeit oder zur Verpflegungsausgabe rief.- Jetzt im Augenblick rief sie uns zur Informationsausgabe zusammen.

Der Lagerälteste, ein recht sympathischer Mann, machte uns mit dem vorgesehenen Tagesablauf vertraut. Schon um fünf Uhr in der Früh wurde geweckt, und dem schloss sich gleich die Frühstücksausgabe an. Durch diese Regelung verteilte sich der Betrieb etwas an der Waschrinne; oder nennen wir sie Waschanlage. Die einen rieben sich vor dem Tee oder dem Mehlsüppchen den Schlaf aus den Augen, die restlichen taten's hinterher. Für die Wassersparer gab es nichts zu überlegen. Um fünf Uhr fünfundvierzig sammelte man sich am Lagertor zur morgendlichen Zählung. Anschließend, um sechs Uhr etwa, war Abmarsch zur Baustelle. Der Anmarsch betrug drei bis sechs Kilometer. Dem entsprach die Ausdehnung des ersten Bauabschnitts. Der Arbeitsauftrag war bekannt. Arbeitsgerät, wie Loren, Schienengerätschaft, Hacken und Schaufeln, waren bereits in zwei Geräteschuppen deponiert. Zum Schluss die übliche Frage nach den einschlägigen Spezialisten. Es wurden natürlich keine Lorenexperten oder Gleisbauinspektoren gesucht. Das waren wir ja allemal. Hier brauchte man technische Zeichner und Vermessungstechniker. Ich reagierte impulsiv auf technischer Zeichner. Sehr viele andere übrigens auch. Wenn man wusste, wo ein Strich beginnt und wo er aufhört, warum sollte man dann kein technischer Zeichner sein. In Geometrie hatte ich einstmals gute Noten. Aber wen interessierte das jetzt noch, nachdem ich mich als technischer Zeichner gemeldet hatte. Man lernte nie aus.

Die Arbeitsgruppen sollten erst vor Ort zusammengestellt werden. Das Essen wurde selbstverständlich herausgebracht. Wegen der Ausdehnung des Arbeitsgeländes war eine Mittagszeit von zwei Stunden angesetzt. Sie wurde in gewohnter Form an- und abgeläutet.

Die Rückführung ins Lager würde um siebzehn Uhr beginnen. Erneute Zählung auf der Baustelle und noch einmal am Lagertor. Dann hatten wir Zeit bis neunzehn Uhr, wenn zur Essenausgabe geläutet wurde. Bis man uns das zweite Mal durchgezählt hatte, war es dann auch so weit. Den Rest des Tages verbrachte man im Schneidersitz auf der Pritsche. Der Samstag war normaler Arbeitstag.

Über den Sonntag konnten wir frei verfügen. Gewerkschaftsfunktion hatte der Antifaschistische Ausschuss ganz offensichtlich nicht. Was mir aber auffiel, war, dass weder der Kommandant noch seine Wachleute auf der Bildfläche erschienen. Es sah ganz so aus, als ob dieser 'ANTIFA' die lagerinterne Disziplinierung übertragen war. Ganz klar, Disziplin musste sein. Ich vermisste die Wachmannschaft nicht.

Um es gleich vorwegzunehmen: Die Zählung war schon fast eine Tragödie. Ich möchte hier nicht missverstanden werden. Ich will, weiß Gott, den Jugoslawen nicht die Kunst des Zählens absprechen. Ich nehme an, dass dies die Anweisung des Kommandanten war, um das Zählergebnis in dieser Form täglich zu den Akten nehmen zu können. Wer weiß. Zwei Mann zählten, zwei Mann schrieben. Sie schrieben nicht, sie machten Striche: Vier Striche senkrecht, ein Strich quer dadurch. Das fünf mal nebeneinander und vier mal untereinander, ergaben haargenau hundert Mann. Wenn das Endergebnis der beiden Strichmänner übereinstimmte, hieß es "dawei!", entweder auf den Heimweg oder in die Unterkunft. Stimmten die Zählergebnisse nicht überein, dann begann man wieder von vorne, - bis es stimmte.

Die Arbeit ließ sich ganz gut an. Die Gesamtbauleitung hatte ein Zivilist. Kovac war sein Name, was zu deutsch Schmied heißt. Er war ein schon etwas älteres Männlein mit einem Oberlippenbart. Herr Kovac war ein typischer k+k-Vertreter, und er sprach auch ein etwas böhmisches Deutsch. Er kam jeden Tag mit seinem Einspänner auf die Baustelle. Er war ein rundum lieber und freundlicher Mensch. So, wie er sich darstellte, konnte er nur 'Poldi' heißen, und so nannten wir ihn auch. Nur unter uns natürlich.

Fünf Mann bildeten eine Lorenkolonne. Fünf dieser Loren eine Arbeitsgruppe, deren Tagesleistung insgesamt ermittelt wurde. Dieses Tagesergebnis wurde von unseren Geometern ausgemessen. Sie kamen immer zu Dritt. Zwei hantierten mit dem Bandmaß, der dritte machte die entsprechenden Aufzeichnungen. Dazu muss natürlich gesagt werden, dass sich diese Bandmaßspezialisten nie als Kontrolleure aufgespielt haben. Was es da zu vermessen gab, war eindeutig. Leistungsnormen waren für den Anfang noch nicht festgelegt. Da wollte man wohl erst Erfahrungswerte sammeln.

Es ging insgesamt recht zivil zu. Poldi machte täglich seine Rundfahrt, um sich über den Fortgang der Arbeiten vor Ort zu informieren. Ich habe noch sein freundliches "Servus Leute" im Ohr. Manchmal saß auch eine schon etwas ältere Dame bei ihm in der Kutsche. Ob es vielleicht seine Frau gewesen ist?

*

So, wie der Winter sich hier oft mit einem plötzlichen Temperatursturz ankündigte, so setzte sich im Frühjahr auch rasch die Sonne durch. Die warme Jahreszeit war ganz ohne Zweifel weitaus angenehmer als der Winter; mit der wohltuenden Wärme zogen aber auch die Krankheiten ins Lager ein.

Ich bekam prompt wieder meine Ruhr, obwohl ich mich so sehr mit dem Essen inachtnahm. Für die Darmkranken hatte man ein Krankenrevier außerhalb des Lagers eingerichtet; vermutlich wegen der Infektionsgefahr. Ich wollte nichts einreißen lassen und begab mich sofort in Behandlung. Natürlich konnte da nicht viel behandelt werden. Nach einer Woche Wassergrieß und halbverkohlten Brotscheiben gab es automatisch Vollkost: Bohnensuppe mit Rauchfleischeinlage. Ehe diese Bohnen den ersten Furz auf die Beine brachten, schiss ich wieder Blut und Wasser. Nachdem ich das zweimal durchexerziert hatte, meldete ich mich wieder zur Arbeit. Zeitweilig gelang es mir, mit gerösteten Maiskörnern den Durchfall zu beruhigen. Eine Konservendose mit Drahtbügel trug ich ständig bei mir. Da es Mais in Fülle gab, auch für uns Gefangene zugänglich, benutzten wir jede Arbeitspause dazu, über einem diskreten Maisstrohfeuerchen Maiskörner zu rösten. Die gerösteten Körner rochen und schmeckten auch gut.

In den Krankenrevieren herrschte bald Hochbetrieb. Neben der Ruhr und der Dystrophie machte sich auch eine schlimme Karbunkulose breit. Solche Geschwüraufbrüche hatte ich zuvor noch nie gesehen. Da trat ein ganzes Bündel Eiterkanäle dicht beieinander aus. Es war ganz schlimm anzuschauen, und die Patienten litten unter heftigen Schmerzen. Unser Arzt behandelte diese Karbunkel mit dicken Kamillenauflagen, indem der Kamillensud auf die offenen Geschwüre aufgetragen wurde. Die Betroffenen mussten sich auf eine langwierige Prozedur gefasst machen. Wenn sie Pech hatten, sammelten sie sich auch noch die Krankheiten ihrer Pritschennachbarn ein. Das standen dann die wenigsten durch. Die Todesfälle wurden immer häufiger. Ich habe in all der Zeit viele Kameraden sterben sehen oder ihnen dabei beigestanden. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke fällt mir auf, dass ich nie erlebt habe, dass wir einen von ihnen beerdigt haben. Sie waren am nächsten Tag ganz einfach nicht mehr da.

Ansonsten lief der Lagerbetrieb reibungslos. An der Küche gab es auch nicht diese unwürdigen Nachschlagszenen. Das Küchenpersonal richtete sich am Abend auf die jeweiligen Erfahrungsmengen ein. Ob da jetzt etwas mehr Graupen oder mehr Wasser in den Kessel kam, das merkte doch niemand. Von den Essensresten fütterte unser Wachpersonal, wie wir einmal erfuhren, eine Sau. Das musste sich bei unserem Hunger ein Mensch vorstellen! Tagsüber, auf der Baustelle, gab es grundsätzlich keinen Nachschlag, weil der Küchenwagen von Arbeitsgruppe zur Arbeitsgruppe zog.

Der Lagerbunker war inzwischen auch belegt; die Firma KLEMM & KLAU gegründet. Es wurde Brot gestohlen; Brot für Zigaretten. Zwei Stück pro Portion galt mittlerweile als 'Harte Währung'.

Eigentlich waren es immer dieselben, die Brot stahlen und dabei auch überführt wurden. Aber man ging dieses Risiko ein. Es waren immer wieder diese Menschen ohne Gesicht. Hatte man den Dieb, auf welche Weise auch immer, überführt, trat der zweite Antifa-Vorsitzende in Aktion. Er war wohl der Mann fürs Grobe. 

Der Delinquent wurde durch die Unterkünfte gezerrt und immer wieder bis zur Bewusstlosigkeit verdroschen. Es gab regelrechte Spezialisten, die ihr Stück Feldfernkabel stets griffbereit hielten. Der arme Hund wurde über die obere Pritsche gezogen. Unten im 'Erdgeschoss' zog man seine Beine lang. Es war wie bei einer Operation. Man konnte nur die Arschbacken treffen. Wenn sich der Delinquent nicht mehr muckste, sprach man ihm mit einem Kochgeschirr Wasser erfrischend zu, und zwei Vollzugsbeamte, die es immer und überall zu allen Zeiten gibt, schleppten ihn mit Eifer in die nächste Unterkunft, wo alles wieder von vorne begann. Wenn die so Verdroschenen an den darauffolgenden Tagen wieder auf den Beinen stehen konnten, mussten sie auf den beiden Plattformen der Pumpstationen von früh bis spät den Wasserbedarf hochpumpen. Dagegen war nichts einzuwenden. Schaute man von unten zur Plattform hoch, konnte man mitunter einen blutunterlaufenen Hintern sehen, der kaum noch als ein solcher zu erkennen war. Als man mir einmal Brot gleich für zwei Tage stahl, war ich auch dafür, dass diese Leute gehörig bestraft würden. Zu solchen Traktuhren wäre ich aber niemals zu bewegen gewesen.

An einem Sonntagmorgen verteilte der Erste Antifa-Vorsitzende Papier und Schreibzeug. Man stelle sich das vor! Nach einem Jahr Lagerhaft durften wir ein erstes Lebenszeichen an unsere Angehörigen auf den Weg bringen. Selbstverständlich nahm die ANTIFA diese Vergünstigung als ihren Erfolg für sich in Anspruch.

Jeder bekam einen Bleistift, den man hernach behalten durfte. Zuerst mussten wir aber einen Lebenslauf aufschreiben und abgeben. Es wurde nicht danach gefragt, wo und wann man geboren, welche Schul- und Berufsausbildung man erworben hatte. Hier ging es ausschließlich um Militärisches - zwei Jahre nach Kriegsende. Wir mussten die Namen und Bezeichnungen unserer Militäreinheiten auflisten und deren Kampfeinsätze, mit Ort und Zeitpunkt näher beschreiben. Außerdem mussten wir von jeder der genannten Einheiten drei Zeugen namentlich aufführen. Auf eine so hinterfurzige Idee wären die Jugoslawen selbst wohl nie gekommen. Diese Lebensläufe hatten, wie vorauszusehen war, für viele ganz verheerende Folgen. Verschwieg man einen Truppenteil, der irgendwann und -wo in Repressalien oder Exekutionen verwickelt war, dann war man prompt von einem ehemaligen Kameraden ohne Argwohn als Zeuge benannt worden. Dieser Betreffende hatte jene, oft scheußlichen Torturen ja nicht selbst veranlasst. Es war damals, weiß Gott, schon schlimm genug, an solchen Vorgängen beteiligt zu werden.

Hatte man also die Zugehörigkeit zu einer solchen Militäreinheit verschwiegen, dann konnte man sein Testament machen. Mitten in der Nacht wurde man von zwei Wachmännern aus dem Schlaf geholt. Als Marschverpflegung gab es ein Brot und ein halbes Kochgeschirr Marmelade. Den Braunen, wie den Roten, muss die Denunziation wie eine heilige Pflicht erschienen sein. Wenn es in der Heimat ähnlich zuging, dann würde sich nicht viel geändert haben.

Ich hatte, Gott sei's gedankt, nichts zu verbergen. Es hätte aber genauso anders sein können. Misstrauisch, was ich sonst eigentlich nie war, machte ich mir von meinem Lebenslauf eine Abschrift. Und siehe da, nach einem halben und nach einem ganzen Jahr, mussten wir wieder unsere Lebensläufe aufschreiben, um wohl letzte Widersprüche aufzudecken.

Es war dann auch wieder die ANTIFA, die eines Tages DIN A5-Vordrucke austeilte, auf deren Vorderseite man Absender und Empfängeranschrift aufschreiben konnte. Auf der Rückseite durften wir unser erstes Lebenszeichen nach Hause vermelden. So ganz haben wir der Sache nicht getraut. Als dann aber eines Tages Antwort von zu Hause kam, hatte für uns ein neuer Lebensabschnitt begonnen. Von nun wusste man von unserer Existenz. Jetzt wurde entweder gestorben oder man kam irgendwann nach Hause.

Mein erstes Lebenszeichen ging natürlich an meine Eltern. Als ich Rückantwort erhielt, dauerte es etwas, bis ich in der Anschrift Vaters Schriftzüge erkannte; so sehr hatten sie sich verändert.

Niemand solle sich jetzt vorstellen, dass ich mit Spannung und Freude hastig diesen Brief geöffnet hätte. Weit gefehlt. Dies war die erste Nachricht nach fast zwei Jahren. Auf dem gesamten Rückzug hatte uns ja auch keine Post aus der Heimat erreicht. In diesem Brief würde ich erfahren, wer noch und wer nicht mehr lebte. Hinzu kam, dass sich die Absenderanschrift geändert hatte. Also war auch unser angemietetes Einfamilienhaus offensichtlich den Bomben zum Opfer gefallen. Ich musste allen Mut zusammennehmen, um Vaters Brief zu öffnen.

Meine Eltern, meine beiden Schwestern, mein Bruder, alle hatten sie den Krieg überlebt. Auch mein Schätzchen und ihre Eltern lebten noch.

Mein Vater hatte gleich die Buschtrommel gerührt und meine Lageranschrift rundgeschrieben. Jetzt wusste auch meine Liesel, dass ich noch lebte. Sie hatte nie daran gezweifelt.- Na, wenn sie so manches gewusst hätte.

Sogleich setzte ich mich in den Schneidersitz und schrieb meiner Liebsten, die mir während der Kriegszeit wohl an die Tausend Feldpostbriefe geschrieben hatte.

Mein Briefpapier stammte aus einem Buchführungsfolianten. Den Briefumschlag hatte ich mit nicht allzu viel Geschick aus einer Portland-Zementtüte zurechtgeschneidert, genauer: aus meiner Portland-Matratze. - Dieses, mein erstes Lebenszeichen liegt vor mir. Es wurde am 18.6.1946 geschrieben. Hier ein Auszug:

"Gesundheitlich geht es mir bis auf momentane Zahnschmerzen noch gut. Schreibe mir bitte so oft es Dir möglich ist, und füge Deinen Briefen jeweils einen Bogen mit Umschlag bei. Hier ist die Beschaffung von Briefpapier fast unmöglich ... Ich kann Euch von hier wenig erzählen. Wie soll es einem Gefangenen schon gehen. Ich möchte nur wissen, wie lange man uns hier noch festhält. Wir dürfen den Mut nicht verlieren, und die gegenseitige Gewissheit, dass wir noch leben, muss uns im Augenblick genügen, so schmerzlich auch die Trennung ist. Ich will alles gerne ertragen, wenn ich nur gesund bleibe und Euch alle später gesund in der Heimat antreffe ...

Schreibe mir bitte, wann Du zu Kriegszeiten die letzte Post von mir bekommen hast. Lebt Gretl noch und wie geht es ihr? Hoffentlich schreibt mir mein Bruder bald einmal, was 1944 dort im Herbst für ein Familiennachwuchs zu verzeichnen war. Die letzte Post, die ich überhaupt von Euch erhielt, war noch vom August 1944. Seitdem habe ich nichts mehr gehört ..."

So schlicht und einfach meldete man sich nach zwei Jahren zurück.

*

An diese Zahnschmerzen erinnere ich mich noch genau und auch an das, was tags darauf geschah.

Das war das erste Mal, dass ich in meiner Gefangenschaft Zahnschmerzen hatte. Und was für welche! Dazu kam, dass wir zu dieser Zeit so verwanzt waren, dass man sich in der Nacht kaum noch auf den Pritschen aufhalten konnte. Man spürte, wie sich die Wanzen aufs Gesicht fallen ließen, und man schmeckte es, wenn sie sich in die Löcher der Brotportionen verkrochen hatten. Meine Haut reagierte sehr empfindlich auf Wanzenbisse, so dass ich am Morgen von Kopf bis Fuß voller schmerzender Quaddeln war. Hatte man dieses Viehzeug beim Brotkauen zerbissen, so hatte man ganz penetrant den Geschmack von ranzigem Marzipan auf der Zunge. - Pfui Teufel!

Es war Sommer. Man konnte also leicht im Freien übernachten. An diesem 18. Juni haben wir das auch praktiziert. Es wurde eine verdammt unruhige Nacht. Am späten Abend kam ein Sturm auf, der den roten Sand aufwirbelte. Man musste fest die Augen zukneifen und sich etwas über den Kopf ziehen. Dazu, wie schon gesagt, meine Zahnschmerzen. Gegen Morgen machte sich einer von uns auf den Weg zur Latrine. Kurz vor dieser Scheißbaracke wurde er von beiden Posten angerufen:

"Kamerad, kum cher!"

Warum sollte er nicht. Als er nahe an den Zaun trat, krachte ein Schuss. Unser Kumpel sackte ohne Laut zusammen. Einer von uns rannte, so schnell er konnte, zur Küche und betätigte wie wild unser Kartuschengeläut. Er lärmte, bis alles zusammenlief. Als wir unseren Kameraden aufnahmen, war er bereits tot. Man hatte ihn in den Unterleib getroffen. Er war in ganz kurzer Zeit verblutet.

An den folgenden Tagen wurde diese Angelegenheit dienstlich abgehandelt. Eindeutiger Befund: Fluchtversuch. - Ein Mord aus Lust und Langeweile. - Kein ANTIFA-Protest!

Als nach dieser schrecklichen Nacht der Morgen heraufstieg und ich mein Brot nehmen wollte, war es nicht mehr da. Mein Brot für zwei Tage.

Gegen Mittag bimmelte die Kartusche. Das Krankenrevier teilte mit, dass momentan ein Sanitäter, ein Dentist im Lager sei. Wer also Zahnschmerzen habe ...

Es war wirklich nicht zu fassen. Da hatte ich in der Gefangenschaft zum ersten Mal schmerzhafte Probleme mit meinen Zähnen, und schon war ein Dentist zur Stelle. Im Nu hatte sich eine lange Warteschlange gebildet, die alle zum 'Zahnarzt' wollten.

Die Zähne wurden allesamt ohne Betäubung gezogen. Man hielt sich mit beiden Händen kräftig am Stuhlsitz fest und sperrte den Mund auf. Ein kurzes Krachen und das war's dann schon. Neben dem Stuhl stand ein Eimer, in dem sich die Zahnfäulnis ansammelte. Ich war momentan meine Schmerzen los.

*

Der neu aufgenommene Postdienst verlangte natürlich Reglementierungen. Eine Aufgabe für die ANTIFA. Die Postvorschriften ließen dann auch nicht lange auf sich warten:

   1.   Ein Brief mit maximal sechzig Zeilen pro Monat.

   2.   Alle Post  unverschlossen in den Postkasten der
         ANTIFA einwerfen.

Da bekamen unsere beiden Antifaschisten ganz schön was zu tun. Es genügte ja nicht, allemal die Zeilen durchzuzählen. Auf die rechte Gesinnung kam es an. Da wurden Worte, ganze Sätze eingeschwärzt, oder ganze Briefe unterschlagen. Als ich einmal nach Hause schrieb, dass wir nunmehr sechshundert Gramm Brot pro Tag bekämen, war dies schön säuberlich auf 'siebenhundert' abgeändert. Die Wehrunwürdigen beim alten Oberst Klotz schickten ihr Privates noch verschlossen, und zumindest vom Bataillon unkontrolliert, nach Hause. Uns, den Wehrlosen, räumte man diese Persönlichkeitsrechte nicht mehr ein.

Ich hatte zu dieser Zeit aber ganz andere Probleme. Meine Ruhr plagte mich sehr. Wenn es ganz schlimm kam, arbeitete ich mit nacktem Hintern. So schonte ich meine spärliche Bekleidung. Der Verlust an Blut und Flüssigkeit drückte mehr und mehr auf meine Leistungsfähigkeit. Meine Kumpels halfen mir über den Tag, so gut es eben ging.

Inzwischen hatte man auch Leistungsvorgaben erlassen. Das hat sich aber nicht ausgezahlt. Wir wurden gut behandelt. Dafür wollten wir auch Entsprechendes leisten. Damit hätte man sich begnügen sollen. Jetzt wurde gemogelt, und das hatte irgendwann ernste Folgen.

Bei Arbeitsbeginn am Morgen mussten wir an beiden Grenzpunkten einen Erdklotz stehen lassen. Mit Hilfe dieser Niveaumarkierung waren am Nachmittag ganz einfach die bewegten Kubikmeter zu ermitteln. Also gingen wir dazu über, die Niveaumarkierungen kunstvoll nach vorne umzusetzen. Die Abtragsbreite war für jede Arbeitskolonne auf fünfundzwanzig Meter festgelegt. Die Fünf spielte bei allen Zählungen und Erfassungen eine hervorragende Rolle. Beim Mogeln waren wir nicht kleinlich.

Der ganz große Krach blieb nicht aus. Alle Vermessungen und Berechnungen stimmten vorne und hinten nicht mehr. Dahintergekommen ist man nicht. Wen es hart traf, das war unser guter 'Poldi'. Hart insofern, weil es bei militärischen Projekten wohl keine Irrtümer gab. Plötzlich war eine russische Gesamtbauleitung auf dem Plan. Man sprach von Sabotage. Von 'Poldi' sprach niemand mehr.

*

Mit meiner Ruhr wurde es so schlimm, dass ich nach Belgrad ins Lazarett eingeliefert wurde. Das war nun wirklich ein Lazarett. Wir lagen auf Strohsäcken in Etagenbetten. Die Verpflegung war ausgezeichnet. Ein Lazarett, so recht zum Vorzeigen.

Durch den ständigen Blutverlust stellte man bei mir einen ungewöhnlich niedrigen Hämoglobin-Spiegel fest. Hautverletzungen wollten nicht aufhören zu bluten. War dieser Blutfluss angetrocknet, zog sich eine dünne Rotspur über eine farblose Klebe. Aufgrund der Laborbefunde verordnete mir der Arzt bis auf weiteres täglich eine Portion kurzgebackener Leber. Sie wurde mir nicht nur verordnet, ich habe sie zu Mittag auch bekommen. Die wenigsten haben mir abgenommen, dass das mit rechten Dingen zuging.

Es gab hier tatsächlich so manches, was kaum zu glauben war. Da gab es zum Beispiel eine geschlossene Abteilung. Das war keineswegs eine Station für Verrückte. Etwas verrückt waren wir inzwischen ja alle. Hier waren unsere Typhus-Kranken eingegattert.

Wenn ganz in der Früh der Morgen dämmerte, wickelten sich dort vereinzelt ganz merkwürdige Geschäfte ab. Da wurden gegen Zigaretten Stuhlabstriche verscherbelt. Wenn nach der Morgenvisite diese Abstriche untersucht waren, nahmen die Dinge ihren Lauf. Der Betreffende landete noch am gleichen Tage auf der Isolierstation. Die Unvernunft trieb seltsame Blüten.

Diese Art Russisches Roulett war von der Hoffnung getragen, dass bald, oder irgendwann, ein Krankentransport zur Repatriierung zusammengestellt werde. Allein die Aussicht, dass man, vorerst jedenfalls nicht, ins Arbeitslager zurückgeschickt wurde, rechtfertigte offenbar alle eingegangenen Risiken.

Mir ging es gut wie lange nicht mehr; aber ich musste etwas gegen meine Langeweile tun. Vor allem fehlte mir die Post, die uns nicht aus dem Lager nachgeschickt wurde. Also lenkte ich mich ab. Ich organisierte und veranstaltete einen Kurzschriftlehrgang. Ich stieß dabei auf ein überraschend großes Interesse. Die Lazarettverwaltung begrüßte offensichtlich mein Vorhaben und stellte uns Papier zur Verfügung. Dabei akzeptierten wir auch alte Zeitungen. Auf den großen Seiten der BORBA oder der POLITIKA machten wir schwungvoll unsere Lockerungsübungen, die sehr positiv aufgenommen wurden. Große Kreise reduzierten wir allmählich zum Buchstaben S, weit ausholende Wellenlinien ergaben am Ende jeweils ein M oder ein N, wie es gerade passte. Als wir dann zu richtigen Wortbildungen übergingen, flossen die Kurzschriftkürzel flott und elegant aus der Hand. Ich war ein wenig stolz auf die von mir angewandte Methode.

Mein Aufenthalt im Lazarett dauerte drei Wochen. Am Tag meiner Entlassung erlebte ich in der Frühe noch eine böse Überraschung. Als ich aus dem Bett stieg, hatte ich dicke Beine. -  Dystrophie. Was nun?

Nein, ich wollte zurück nach Nova Pazova. Dort wartete ohne Zweifel etliches an Post auf mich. Also verschwieg ich meine Feststellung und fuhr am gleichen Tage zurück ins Lager.

In den Wochen meiner Abwesenheit waren mehrere Briefe von meinem Schätzchen eingetrudelt; meine Eltern hatten mir geschrieben, und ein lieber Brief meines Bruders wartete auf mich. Dieser Posttag war wieder einmal ein Fest.

Aber dann traf mich ein Hammer. Zwei oder drei Tage, nachdem ich das Lazarett verlassen hatte, war der gesamte Krankenbestand repatriiert, also nach Hause transportiert worden. Es war der erste Krankentransport aus Jugoslawien. Meine dystrophierten Beine an meinem Entlassungstermin sollten ganz offensichtlich meine Rückfahrkarte in die Freiheit sein. - Ich habe es nicht übers Herz gebracht, dieses Unglück nach Hause zu berichten.

Nach zwei oder drei Tagen waren die Ödeme an den Beinen wieder verschwunden. Allerdings muss ich dazu sagen, dass ich in dieser Zeit so wenig Flüssigkeit als möglich zu mir genommen habe. Trotzdem war's recht eigenartig.

*

Im Dezember 1946 bekamen wir einheitliche Bekleidung. Es waren braun eingefärbte, amerikanische Uniformen: Feldblusen, Hosen, Mäntel und Tropenhemden. Auch neues Schuhzeug wurde ausgegeben, typische jugoslawische Opanken. Die Sohlenschale war aus Gummi, das Obermaterial aus gummiertem Gewebe. Es waren sogar Markenschuhe. Das Firmenzeichen BATA war auf der Sohle eingegossen. Diese Fußbekleidung war im Gegensatz zu unseren bisherigen Holzsohlen flexibel. Außerdem konnte man in der Winterkälte mehr Papier um die Füße packen.

Die ANTIFA gab neue Postvorschriften aus. Wir durften jetzt im Monat nur noch einen Brief mit dreißig Zeilen und zwei offene Karten schreiben. Dreißig Zeilen pro Monat, was blieb da noch übrig?

Kurze Zeit später war Weihnachten. Der Heilige Abend und das Weihnachtsfest, das waren Tage, wo man alles anstellte, um bald in den Schlaf zu finden. Heilig Abend, Punkt Mitternacht, läutete die Lagerkartusche. Die Weihnachtsbotschaft: Kochgeschirr aufnehmen und bei der Küche erscheinen. Na, das musste zu dieser Stunde doch etwas ganz besonderes sein. Etwas besonderes war es schon: Eine Schöpfkelle süßen Grieß. Als die beiden Antifa-Vorsitzenden auf diese Schnapsidee gekommen sind, müssen sie doch stockbesoffen gewesen sein. Wir haben also unseren süßen Grieß genossen, und kaum einer wird es wohl fertiggebracht haben, hinterher wieder einzuschlafen. Das Selbstbewusstsein unserer ANTIFA nahm merklich zu.

Von meinen Eltern und von meinem Bruder erhielt ich am Silvesterabend je ein Paket. Mein Vater hatte es in ein altes Luftwaffenhemd eingenäht. Aus diesem Hemdenstoff hat mir später ein Schneider eine flotte Schlägermütze fabriziert, die mir zudem recht gut stand. Mein Bruder schickte mir eine dunkelblaue Trainingsbluse, die sich in diesem Winter noch sehr bewährte. Und all die anderen schönen Dinge. Das war doch etwas anderes als süßer Grieß.

Diese Paketsendungen mussten im Amtszimmer der ANTIFA abgeholt werden. Sie waren schon geöffnet, wenn man sie uns vorlegte. Das verleitete natürlich zu allerhand Vermutungen. Niemand zweifelte daran, dass diese Liebesgaben aus der Heimat hier gewissermaßen durch den Zoll gingen. Warum hätte man sich sonst solchen Verdächtigungen ausgesetzt.

Ein etwas entfernter Pritschennachbar schaute mir andächtig beim Auspacken zu.

"Stell dir vor, Pit," ulkte er, "um ein Haar hätte ich heute auch Post bekommen."

Ich wusste, dass sein Vater im Osten vermisst, Mutter und Schwester von den Russen verschleppt worden waren. Ein Verwandter, der im Raume Niedersachsens angelandet war, hatte ihn über das Rote Kreuz ausfindig gemacht und ihm die Vorgänge in der Heimat geschildert.

"Was heißt hier um ein Haar?"

"Ja, mein linker und mein rechter Nachbar haben heute beide Post bekommen."

"Komm setz dich zu mir, du Pfeife, jetzt feiern wir Silvester."

Dieser Ostpreuße war ein wortkarger Geselle. Das Reden und Erzählen musste ich besorgen. Also brachte ich ganz verrückte Klopse aus meiner Sofioter Soldatenzeit. Dass ich an der Banja Baschi-Moschee in Uniform Schuhe geputzt und im Stadtpark, damals dem Boris-Garten, heute 'Park der Freiheit', geröstete Kürbiskerne verkaufte. "Semki molja - Semki molja" hatte ich in die Gegend posaunt. Noch viele verrückte Dinge sind mir eingefallen. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so lustig gestimmt war.

Es dauerte nicht lange, da fanden sich weitere Gäste ein. Ein ganz besonders netter Bursche aus der Nachbarschaft überraschte uns mit ganz ungewöhnlichen Fähigkeiten: Er las aus der Hand, zuerst Vergangenes, damit man ihm Zukünftiges auch abkaufte. Hernach deutete er Handschriften. Das gab eine Gaudi. Er las aus meiner Hand, dass ich Mitte April, also vor der Kapitulation, in Gefangenschaft geraten sei. Das stimmte. Er prophezeite mir viele Kinder und ein gutes Einkommen. Mit den vielen Kindern könnte er bei meinen Sechs recht behalten haben. Mit dem guten Einkommen - ich weiß nicht. Ich finde, dass ich ewig zu wenig Geld besessen habe. Dann deutete er die Handschrift meiner Braut. Soviel Gutes hörte man natürlich gern. Meinem Ostpreußen kündigte er baldige Post an, die tatsächlich schon sehr bald eintraf. Ich weiß nicht mehr von wem; sie muss aber sehr bedeutsam für ihn gewesen sein. Es war nicht zu glauben!

Bis in die halbe Nacht haben wir auf diese Weise Silvester gefeiert. Zum Schluss sollte ein jeder sein bisher beschissenstes Erlebnis aus der Gefangenschaft zum Besten geben, um sich wohl darauf zu besinnen, wie gut es uns im Augenblick ginge. Das Beschissenste waren bei mir die Gräber von Klenak. Ich bin mit meiner Schilderung aber nicht weit gekommen.

"Pit hör auf damit! Ich kann's nicht hören, darf nicht daran erinnert werden."

Wer das mit heiserer Stimme ausstieß, war der eben noch so lustige Hellseher.

"Ich bin damals dabei gewesen. Was glaubst du, wie oft ich die noch halben Kinder in meinen Alpträumen schon ausgegraben habe. Bei dir haben sie wenigstens nicht mehr geschrieen."

Mein Gott, was hatte ich jetzt angestellt? - Was ich in Wirklichkeit angerichtet hatte, das sollte ich erst noch erfahren.

Der Neujahrstag verlief ruhig. Das Kontrastprogramm vom Vorabend stand noch irgendwie im Raum. Ich hockte mich hin und schrieb einen Brief an mein Liebstes. Dabei kreierte ich eine neue Masche, die sofort überall Nachahmung fand. Ich schrieb meine dreißig Zeilen quer. Jetzt war ich einmal gespannt.

In der folgenden Nacht kamen die Posten und holten unseren Hand- und Schriftdeuter ab. Einer aus unserer Runde musste ihn an die ANTIFA verpfiffen haben. Für den Rest meiner Gefangenschaft habe ich den Ort Klenak nicht wieder in den Mund genommen. Es wurde nicht mehr wie vorher.

Das neue Jahr begann mit klirrendem Frost, und der eisige Ostwind jagte harsch über eine vierzig bis fünfzig Zentimeter hohe Schneedecke. Mit Erdbewegung tat sich zu dieser Zeit natürlich nichts mehr. Trotzdem trieb man uns hinaus auf die Baustelle. Wir mussten, irgend einem Irrsinn entsprungen, unsere Lorenschienen schneefrei halten.

Das frühmorgendliche Antreten mit der ersten Zählung war die kritische Zeit des Tages. Draußen auf der Baustelle konnte man sich bewegen. Hier in der frühen Dunkelheit hüpften wir mit eisig kalten Füßen auf der Stelle. Dieser sinnlose Hickhack hat einigen von uns schwere Erfrierungen eingebracht.

Der Frost und die ungewöhnlichen Schneemassen hatten im zehn Kilometer entfernten Nachbarort Stara Pazova zu einem gefährlichen Dammbruch geführt. Teile des Ortes waren in höchstem Maße überschwemmungsgefährdet.

Ein Konvoi schwerer Militärlaster erschien in der Früh am Lager, um uns zum Katastropheneinsatz zu schaffen. Vor einem großen Schuppen mussten wir herunter von den Fahrzeugen und Gerät aufnehmen. Den Rest des Weges machten wir zu Fuß.

Die Wachmannschaft kam mit den Fahrzeugen, war also nicht aus unserem Lager. Sie gebärdete sich, als hätte sie ein Rudel Affen beisammenzuhalten. Es wurde nur geschrieen. Als ich, meine Hände tief in den Hosentaschen wärmend vergraben, auf den Geräteschuppen zuging, schnauzte mich so ein Scharfmacher an:

"Nimm gefälligst deine Flossen vom Sack!" -

Mein Gott, sollte das etwa ein Jugoslawe sein? - Ich fand keine Zeit, darüber nachzudenken. Alles bewegte sich nur noch im Laufschritt.

Inzwischen waren wir alle mit Schaufeln ausgerüstet. Wir kamen an einer langen Kanalböschung zum Einsatz. Die Schneemassen sollten in mehreren Etagen aus dem Hanggefälle hochgeschaufelt werden. Es wurden Arbeitsgruppen gebildet und Felder abgesteckt.

Ein Schimmelreiter in Uniform ritt am Kanal auf und ab und ließ seine Peitsche niedersausen, wenn jemand eben mal sein Kreuz streckte. So eine wilde Jagd hatte ich, weiß Gott, noch nicht erlebt. Als unser Gruppenältester das uns abgesteckte Feld als geräumt meldete, bekam er gleich eins übergezogen. Er hatte es versäumt, um neue Arbeitsanweisungen zu bitten. Jetzt wusste er's.

Diese wilde Schaufelei ging ohne Pause bis in die Dunkelheit. Erst als das Licht nicht mehr ausreichte, wurde das Gerät zurückgebracht. Die zehn Kilometer bis zum Lager mussten wir zu Fuß zurücklegen. Dabei tat sich ein großes Problem auf.

Die meisten von uns waren mittlerweile hochgradig nachtblind. Ich gehörte auch zu diesen Blindgängern. Ja, so konnte man es ohne Übertreibung nennen.  Man sah nichts, absolut nichts mehr. Nicht einmal den Schnee.

Wir bildeten lange Ketten, indem wir uns hintereinander an den Schultern des Vordermanns festhielten. Am Anfang und am Schluss eines jeden 'Konvois' marschierten die Kameraden mit den intakten Augen. So wurden wir Blinden ins Lager zurückgeführt. Das hört sich sehr simpel an. Wer's einmal versucht, zehn Kilometer mit verbundenen Augen im Kielwasser eines Vordermanns zu gehen, der wird tropfnass in Schweiß gebadet ins Ziel gelangen; und genau so trafen wir im Lager ein.

Die Nachtblindheit ist die Folge eines andauernden Vitamin A-Mangels. Trotz der gebackenen Leber im Belgrader Lazarett hatte ich auch meine Nachtsichtfähigkeit eingebüßt. Das Einzige, was die nachtblinden Augen noch in der Dunkelheit ausmachen konnten, waren die brennenden Glühbirnen in unseren Unterkünften. Man sah und erkannte diese Lichtquellen schwach orangerot, ohne dass von ihnen irgendeine Helligkeit ausging. Sie schwebten wie ein kleiner orangeroter Lampion in der Dunkelheit. Ihre Lichtabgabe nahmen unsere Augen nicht mehr wahr.

Dass es aber mit meinen Ohren noch stimmte, das bestätigte sich schon gleich am Morgen in der Früh. Da waren sie wieder, die Militärlaster und diese Schreihälse. An meinem Fensterplatz war das sowieso nicht zu überhören.

Ich fühlte mich noch vom Tag zuvor total kaputt. Es kam noch dazu, dass sich in meiner linken Hand eine große Blase gebildet hatte. Als ich mich, Linkshänder, der ich bin, an der Pritschenleiter festhielt, um auf den Boden abzusteigen, riss diese prallgefüllte Blase auf. Der ganze Handteller brannte wie Feuer. Und damit sollte ich mich wieder unter diese tollwütige Bande wagen? Nie und nimmer! Ich wickelte mir einen Lappen um die Hand und legte mich wieder hin. Jetzt sollte einmal kommen, was da wollte.

Dieser Mut ersparte mir natürlich nicht, eine hieb- und stichfeste Erklärung zu erfinden, mit der ich Eindruck schinden konnte. Mit meiner Handverletzung brauchte ich es gar nicht erst zu versuchen.

Die Idee kam momentan und schien mir ausgezeichnet, wenn ich dabei die Nerven behielt:

Als ich fünfzehn war, litt ich eine lange Zeit an einer Muskellähmung an beiden Beinen, die sich erst nach vielem Hin und Her als eine Nervenentzündung herausstellte. Diese Lähmung war keineswegs schmerzhaft, aber ich konnte nicht laufen. Ich tapste unter ständiger Anstrengung so vor mich hin. Meine Absicht, mich im Laufschritt zu bewegen, kam bei meinen Beinen überhaupt nicht an. Die einzige Möglichkeit, einmal etwas schneller voranzukommen, bot mir noch das Fahrrad. So einfach ging das aber auch nicht. Von der obersten Treppenstufe vor der Haustür konnte ich das Rad besteigen. Saß ich einmal auf dem Sattel, dann machte alles Weitere keine Schwierigkeiten mehr. Fast alles, muss ich sagen. Beim Absteigen besaß ich keine Kraft, mich abzustützen. Ich kam dann immer unter dem Fahrrad hervorgekrochen.

Unser Hausarzt war lange Zeit ratlos. Er schickte mich von einem Facharzt zum nächsten Spezialisten. Da wurde eine Augendiagnose erstellt, Gehirnströme gemessen, ein Nervenarzt konsultiert. Es war am Ende so weit, dass der Hausarzt versuchte, meine Eltern damit vertraut zu machen, dass ich ja sonst geistig völlig normal sei. Körperliche Einschränkungen würden sich mit der Zeit in gewisser Weise mit neuen Fähigkeiten kompensieren. Was mir am Ende geholfen hat, das waren zwei Schachteln eines Lecithin-Präparates, die mir die Mutter meines Schulfreundes empfahl. Wir haben es versucht. Nach vier Wochen lief ich wieder ganz normal.

Was so viel ärztlicher Kunst und Beobachtung widerstanden hatte, das sollte mir jetzt hier mal einer nachweisen. Also entschied ich mich für eine Beinmuskellähmung. Ich glaube, ich habe im Moment schon meine Beine überhaupt nicht mehr gespürt. Na, wer sagt's denn. Mit dieser guten Ausrede in Kopf und Herzen bekam ich sogar noch ein Schläfchen auf die Pritsche.

Gegen zehn Uhr am Vormittag rollte wieder eines dieser Militärfahrzeuge vor. Erst Schreie und Rabatz am Lagertor. Dann fegte die Meute durch die Unterkünfte und durchs Krankenrevier und trieb alle mit Schlägen und Fußtritten auf den Hof zusammen. Sogar unsere Dickbäuche, unsere Dystrophiker, kamen angewackelt und begriffen nicht, was da geschah. Sie hatte man doch bisher stets in Ruhe gelassen. Es waren an diesem Morgen wohl zu viele im Lager zurückgeblieben. Das konnte natürlich nicht gut gehen.

Ich tapste also im absoluten Leerlauf. Wenn ich das heute durchhielt, dann stand mir noch ein interessanter Poker mit unserem deutschen Lagerarzt bevor.

Die Sanitäter stiegen mit auf das Fahrzeug. Uns halfen sie dabei. Zu dritt haben sie mich nach oben gehievt. Dankbaren Blickes drückte ich meinen Helfern die Hand. - Aber das war bis jetzt noch nicht viel mehr als eine Kostümprobe. In Stara Pazova spielte die Musik.

Man setzte uns wieder am Geräteschuppen ab. Ganz selbstverständlich wurde auch Werkzeug an uns ausgegeben, egal wie ramponiert wir aussahen. Meine linke Hand hielt ich noch in diesen Lappen gewickelt. So konnte ich mir die Schmerzen am ehesten verkneifen, und es kam auch keine Kälte in die Wunde. Die kaputte Hand sollte ja auch niemand sehen. Man wäre vielleicht misstrauisch geworden. Jetzt hieß es "Dawei, dawei, dawei!!" Auf ins Operationsgebiet!

Nun musste es sich zeigen, ob ich mich übernommen hatte. Was sich hier darbot, war eine Schweinerei. Die Leute wurden ohne Beachtung ihrer Gebrechen vorangeprügelt. Einer unserer Sanitäter muss mich mit sicherem Blick für einen seiner schwersten Fälle eingestuft haben. Während ich mich kraftlos voranschleppte, wich er nicht von meiner Seite. Er redete flehentlich auf mich ein, jetzt nur nicht schlapp zu machen.

Ich machte nicht schlapp. Einer unserer Schwerkranken ging jammernd zu Boden. Er weinte und bettelte die Posten an. Die aber hatten ihre Textilkoppel abgeschnallt und schlugen erbarmungslos auf den am Boden Liegenden ein.

Am Ziel angelangt, nahm uns der Schimmelreiter vom Vortag grimmig in Empfang. Unser Anblick konnte ihn wahrhaftig nicht begeistern. Er wurde plötzlich sanft. Jetzt bekamen seine Wachleute den Kopf gewaschen. Die beiden, die orgastisch auf unseren Kumpel eingedroschen hatten, waren inzwischen auch angelangt. Sie kamen allein.

Die Sanitäter mussten Maisstroh für die Kranken zusammentragen. Wir brauchten mit keiner Arbeit zu beginnen. Nach und nach setzten wir uns nieder. Die Dicken und die Spindeldürren, die mit offenen Frostzehen und die mit aufgequollenen Karbunkel krochen eng zusammen und zitterten in dieser hundsgemeinen Kälte, während sie still in sich hinein jammerten und fluchten.

Bis jetzt war ich erstaunlich gut über die Runden gekommen. Wie sollte das aber heute weitergehen? Dieser Unmensch konnte uns doch nicht den ganzen Tag dieser eisigen Kälte aussetzen. Und wie sollten wir am Abend wieder ins Lager zurückkommen?

Ein Posten trat an mich heran. Ich solle zum "Komesär" kommen. Der Mann mit dem Schimmel war also ein Kommissar. Was mochte er von mir wollen? Hatte er mich etwa von gestern wiedererkannt? Ich war gespannt.

"Setz dich." Er wies auf die Maisstrohbündel. "Wie alt bist du?"

"Fünfundzwanzig."

"Wo warst du Soldat?" Wir duzten uns also.

"Bis September vierundvierzig in Bulgarien, im Oktober in Belgrad. In Vinkovci war der Krieg aus."

"Warst du ein Nazi?"

"Was für eine Antwort erwartest du von mir?"

"Eine ehrliche."

"Als Hitler unser Präsident wurde, war ich zwölf Jahre alt. Da hatte ich ganz andere Dinge im Kopf. Als ich mit achtzehn Soldat wurde, hat mich kein Mensch mehr nach meiner Gesinnung gefragt. Meine Eltern waren keine Nazis, wenn du das meinst. Sie waren aber auch keine Kommunisten. Mein Vater war ein Patriot."

Der Schimmelreiter schaute mich fest an. Meine Offenheit schien ihn nicht zu stören.

"Deutschland ist kaputt."

"Deutschland ist so kaputt, wie du es dir überhaupt nicht vorstellen kannst."

"Das seid ihr doch selber schuld."

"Ich bin überhaupt nichts schuld. Ich habe euch auf dem ganzen Rückzug nicht einmal ein Hühnerei weggenommen. Schuld, was hat das heute noch zu bedeuten? Vor einer Stunde haben zwei von deinen Leuten einen schwerkranken und wehrlosen Mann erschlagen. Wer ist schuld? Deine Leute, die mit Lust zugeschlagen haben, oder du, weil du die Kranken aus dem Lager herausgetrieben hast? Wann hören wir einmal damit auf, jeden Tag von Schuld zu reden, während wir ständig neues Unrecht fabrizieren. Nimmt das denn nicht einmal ein Ende?"

"Meine Männer sind einfache Leute. Sie haben im Krieg alle irgendeinen Angehörigen verloren. Es packt sie schon die Wut, wenn sie euch nur sehen. Was kannst du machen? - Wenn in einer Stunde das Lageressen kommt, fahren die Kranken zurück ins Lager."

Ich habe mich für diese Fürsorge sehr bedankt. Dann sprachen wir über alles Mögliche. Von zu Hause, und von meinen Eltern sollte ich ihm erzählen. Ich hatte sie vor drei Jahren zum letzten Mal gesehen. Ich sprach von der starken Bindung, die ich zu meinem Vater empfand, der nun schon sechsundsiebzig Jahre alt sei. Es wäre mein größter Wunsch, ihn eines Tages noch lebend zu Hause vorzufinden. Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre des verflossenen Jahrhunderts hatte er seine aktive Militärzeit abgeleistet. Aus dieser Zeit stünden wahrhaftig gewaltige gerahmte Gruppenfotos auf dem Dachboden. Ich könne mich nicht erinnern, dass uns in unseren Mietwohnungen jemals so große Wände zur Verfügung standen, dass wir diese monströsen Fotografien hätten aufhängen können. Es sei wohl von Anfang an Speichermüll fürs Vaterland gewesen.

Ich erzählte von meiner Mutter, einer frommen Frau, die, wenn sie sich gesund fühlte, keinen Tag ohne morgendlichen Gottesdienst in der benachbarten Krankenhauskapelle begann. Meine jüngere Schwester hatte mir in einem Brief nach hier berichtet, dass wir bald nach der Invasion amerikanische Einquartierung hatten. Irgend so ein Boy war von meiner Mutter dabei ertappt worden, als er sich meine Mandoline unter den Nagel reißen wollte. Zu dieser Zeit hatte man noch kein Lebenszeichen von mir. Also wurden alle Gegenstände, die sich mit meiner Person verbanden, vorsorglich zu Reliquien erhoben. Natürlich auch diese Mandoline. Als Mutter feststellte, dass dieser Kerl das Musikinstrument nicht bereitwillig herausgeben wollte, drehte sie ihm die Mandoline kurzerhand aus den Händen und schlug sie ihm so heftig auf den Schädel, dass die Trümmer mit surrenden Saiten um seinen Hals hingen.

Der Kommissar hatte seinen Spaß an dieser Episode; aber so ganz mochte er sie mir doch nicht glauben, weil meine Mutter dies überlebt haben soll.

Der Küchenwagen kam und nahm uns nach der Essenausgabe mit zurück ins Lager.

Das also war dieser gefürchtete Schimmelreiter. Irgendeiner hat einmal gesagt: Feinde, das sind die Freunde, die man noch nicht kennt. Hoffentlich steckt da ein Funken Wahrheit drin. Es müssen ja auch nicht gleich alle Freunde werden. Zwischen Freundschaft und blinder Wut gibt es ja eine Menge erträglicher Zustände.

Der Katastropheneinsatz in Stara Pazova war fast schon vergessen, da musste ich immer noch meine Beinmuskellähmung zur Schau tragen. Vorerst war das noch ein großes Thema für unseren Lagerarzt. Er war ein rundum anständiger Kerl, aber hier sah er sich herausgefordert; nicht um mich zu überführen, sondern um mich zu heilen. Woher hätte er wissen sollen, dass beides so dicht beieinander lag. Und überhaupt ging mir diese Tapserei allmählich auf den Geist. Ich latschte kraftlos unvermeidliche Wege, und irgendwie verlor ich auch den Kontakt zu meinen Kumpels. Die wunderbare Heilung wäre also längst fällig gewesen. Aber allzu Wunderbares konnte man sich hier nicht leisten.

Von Arbeitsunfällen abgesehen, kamen unserem Lagerarzt immer nur die gleichen Krankheitsbilder unter: Durchmarsch oder Ruhr, Nachtblindheit oder Skorbut, Dystrophie oder Karbunkulose und neuerdings noch die nasse Bartflechte und hochgradige Erfrierungen. Da war ich mit meiner Muskellähmung schon fast ein Trost für ihn. Der Ausstieg war also gewagt.

Die ANTIFA ließ mich wissen, dass zwei Pakete eingetroffen seien. Das war ein Paket von meiner Braut und eines von meiner älteren Schwester, die seit einem Jahrzehnt im Krankendienst tätig war. Der Inhalt ihres Paketes bildete den Grundstock für meine, mit großer Sorgfalt geführten Apotheke. Erst wollte man mir die Medikamente überhaupt nicht aushändigen. Mein Bluff, dass meine Eltern eine Apotheke besäßen, bewog sie, diese Quelle nicht zuzustopfen. Selbstverständlich versicherte ich, dass ich unseren Lagerarzt über meine bescheidenen Bestände informieren würde. Das hätte ich aber ohnehin getan.

Was mir mein Schätzchen schickte, das schmeckte und qualmte. Das machte auf ganz andere Weise gesund.

Dieser Tag hielt aber noch eine andere Überraschung für mich bereit. Helmut Tietze stand plötzlich vor meiner Pritsche. Er und Heinz Feller waren zur Auffüllung von Zemun nach hier versetzt worden. War das eine Freude! Ich schickte ihn, auch Heinz Feller herbeizuholen, um dieses Wiedersehen zu feiern. So gut wie jetzt war ich schon lange nicht mehr mit Leckereien sortiert.

Helmut erkundigte sich nach meinen Beinen. Er hatte davon gehört. Ich sagte ihm, dass ich keine Schmerzen habe und wohl Geduld brauche. Aber von Krankheiten wollten wir jetzt auch nicht reden.

Meine Liesel hatte mir schöne aktuelle Fotos geschickt. Sie eigneten sich so recht zum Vorzeigen.- Es war wieder wie in alten Zeiten.

Bei solchen Palavern war es selbstverständlich, dass sich auch andere hinzugesellten. Da fiel oft was zu rauchen oder zu knabbern ab. Diesmal fragte mich ein schon etwas älterer Knabe, ob ich ein Medikament besäße, womit er seine lästigen Geschwüre behandeln könne. Meine Schwester hatte mir RIVANOL-Tabletten geschickt. So glaubte ich, ihm tatsächlich helfen zu können. Ich erklärte ihm ausführlich, dass und wie er diese Tablette mit abgekochtem Wasser auflösen müsse. Die so entstehende gelbe Flüssigkeit solle er dann für Umschläge benutzen. Er könne sich darauf verlassen, dass dies eine sehr wirksame Behandlung sei. Als ich diesen Pfeifenkopf einige Tage später fragte, ob er auch diese Umschläge mache, meinte er, das sei alles viel zu umständlich gewesen. Er habe diese Tablette einfach in einer Portion Graupensuppe aufgelöst. Das sei überhaupt kein Problem gewesen. Was sollte man mit solchen Kerlen anfangen?

Fast pünktlich zu meinem sechsundzwanzigsten Geburtstag erhielt ich von meinem Schätzchen ein weiteres Paket. Es enthielt in der Hauptsache eine tadellose Wolldecke. Zum Ende meines zweiten Gefangenenwinters kam ich endlich in den Besitz einer Wolldecke. Bisher war ich darauf beschränkt, mich in der Nacht mit meinem Uniformrock zuzudecken, schön mollig übers Gesicht gezogen. Das war jetzt vorbei. Allmählich brauchte ich einen Koffer.

Der Geburtstag hielt noch eine Überraschung für mich bereit. Meine Freunde hatten sich wieder ins Zeug gelegt, Helmut Tietze, Heinz Feller und ein Berliner namens Theo Koll. Letzterer hatte mir unbemerkt eines meiner neuen Fotos von meiner Liesel ausgespannt und bei einem Maler eine entsprechende Portraitzeichnung anfertigen lassen. Dazu erhielt ich noch ein Päckchen Zigaretten. Die Malerei war ganz ausgezeichnet gelungen. Meine Freude war nicht zu beschreiben. Freunde in der Not. - Sie haben mir zu keiner Zeit gefehlt. Das ist zweifellos auch ein Grund, wieso ich alles Erlebte ohne jede Bitterkeit wegstecken konnte.

Am anderen Ende meiner Pritschenetage litt und wimmerte ein Kamerad ununterbrochen unter starken Schmerzen. Den Lagerarzt ließ man nicht an ihn heran. Was war der Grund?

Dieser Kumpel, so viel wusste ich schon seit geraumer Zeit, hatte den Winter über Brot in kleine Würfel geschnitten und in einem Leinensack getrocknet und gesammelt. Er wollte bei erster Gelegenheit türmen, also fliehen. Anstatt diese Absicht vor allen zu verbergen, wusste es eigentlich jeder, der in seiner Nähe seinen Schlafplatz hatte. Vielleicht steckte auch etwas Renommiersucht dahinter, aber bei so vielen Mitwissern konnte sein Vorhaben schon gar nicht mehr gelingen. Seit der letzten Silvesternacht hätte er auch wissen müssen, dass wir uns vor Spitzeln hüten mussten.

In den letzten Februartagen hat er dann seine Flucht von der Baustelle aus gewagt. Seinen Komplizen war es gelungen, die Wachmannschaft bei ihren aufwendigen Zählungen zu täuschen. Die abendliche Rückkehr ins Lager verlief ohne Komplikationen. Wie sich dann später herausstellte, hat unser Lagerkommandant doch von dieser Flucht gewusst und unverzüglich die Spur des Flüchtigen aufnehmen lassen. In der Nähe von Sombor hat man ihn gefasst, als dieser schon glaubte, ungarischen Boden erreicht zu haben.

Dort, wo die Wachmannschaft untergebracht war, gab es vier oder fünf Stufen unter Straßenniveau auch so einen kleinen Raum mit gestampftem Lehmboden. Man konnte ihn mit der Räumlichkeit unserer Firma Klemm & Klau vergleichen. Dieses Souterrain nannten wir etwas dramatisch den Blutkeller, weil dort gelegentlich harte Straftorturen vollzogen wurden. Immerhin, die dort einmal ihren Buckel hinhalten mussten, hatten gegen diese makabre Bezeichnung nichts einzuwenden.

In diesem Raum nun hielt man unseren erfolglosen Flüchtling seit Tagen eingesperrt, während unsere Firma Klemm & Klau rund um die Uhr Wasser in dieses Gefängnis pumpen musste. Die letzten vierundzwanzig Stunden seiner Dunkelhaft hatte er auf der obersten Treppenstufe verbracht, auf der er aber auch schon mit seinem Hintern im Wasser saß; und das Ende Februar. Jetzt lag er wieder auf seinem Pritschenplatz und litt an schwerem Nierenbluten. Als man ihn endlich fortschaffte, brachte man ihn gleich ins Belgrader Kriegsgefangenenlazarett. Was aus ihm geworden ist, war nicht mehr zu erfahren.

Wenn man hier eine krumme Tour plante oder ausführte, durfte man auch seinen besten Freund nicht ins Vertrauen ziehen. Weniger aus Misstrauen. Man belastete ihn unnötig mit dieser Mitwisserschaft. Man musste damit rechnen, dass gerade offensichtliche Freunde besonders strapaziös ins Verhör genommen wurden. Da war es immer gut, wenn dieser oder diese wirklich nichts wussten.

Das war ja auch mein Problem mit meiner Muskellähmung. Mit Geschwätzigkeit hätte ich nicht nur mich gefährdet. Auf keinen Fall durfte ich die Glaubwürdigkeit unseres deutschen Lagerarztes beschädigen. Das hätte für alle unsere Kranken unübersehbare Folgen haben können. Aus dieser Malaise musste ich genau so überzeugend aussteigen, wie ich eingestiegen war. Dazu musste mir aber erst noch etwas einfallen.

Vorerst galt ich noch als arbeitsunfähig und konnte somit nur im Lagerbereich eingesetzt werden. Zu diesem Lagerbereich gehörten natürlich auch die Räumlichkeiten des Wachpersonals. In diesem Komplex befand sich eine Scheune, in der Maiskörner gelagert waren. Diese Frucht war nicht eingesackt und musste, um Platz zu schaffen, immer wieder hochgeschaufelt werden. Für diese Arbeit konnte man mich verwenden.

Mein Schaufelkollege war wesentlich älter als ich. Wir waren schon zusammen, als wir bei Vinkovci gefangengenommen und ins Gefängnis überführt wurden. Er war's, dem die russischen Panzerbesatzungen immer wieder so das Gesicht polierten, dass ich ihn zeitweilig auf den Beinen halten musste. Sein stets serviles Verhalten muss wohl auf die, welche jetzt das Sagen hatten, ungemein provozierend gewirkt haben. Auch jetzt, an diesem Vormittag, lag wieder etwas in der Luft, was mich zu äußerster Wachsamkeit veranlasste. Da gab es untrügliche Anzeichen, die gefährliche Eskalationen anzukündigen schienen.

Unsere beiden Posten veranstalteten im Augenblick aus Langeweile einen sogenannten Hahnenkampf. So etwas fing immer recht lustig und harmlos an, aber irgendwann wurde dann doch ein Kampf daraus, der Aggressionen auflud. Wenn sich derartiges ankündigte, spitzte ich die Ohren und es entging mir kein Wort, was dabei gesprochen wurde. Dafür war ich nun lange genug auf dem Balkan.

Und da bahnte sich auch schon etwas an. Ich konnte meinen Kumpel zwar noch warnen, aber nichts mehr verhindern.

Die beiden Posten forderten ihn auf, eine Maus mit den Händen zu fangen. Anstatt jetzt witzig und ablenkend darauf zu reagieren, nahm er verschreckt Haltung an und machte sich sofort hinter den Mäusen her, die hier, durch unser Schaufeln aufgestöbert, kreuz und quer durch die Scheune huschten.

Zugegeben, es sah weiß Gott komisch aus, wie dieser alte Sack auf seiner Jagd nach Mäusen in den Körnern versank. Je schneller und hektischer er sich bewegte, umso mehr steigerten sich die Wachleute in Rage.

Der Alte hatte es geschafft. Mit einer lebenden Maus in der Hand sprang er, fast triumphierend, auf seine Antreiber zu. Denen war das wohl viel zu schnell gegangen. Das war nichts. Da musste noch etwas folgen. Also forderten sie ihn auf, diese Maus hier und jetzt zu verspeisen. Ekel und Entsetzen standen im Gesicht des Alten. Er wollte die Maus weit von sich werfen. Es ging nicht. Sie hatte sich in ihrer Angst zwischen Daumen und Zeigefinger festgebissen.

Was, dieser Alte wollte die Maus nicht auffressen?! Jetzt war's aber gar kein Spaß mehr. Von einem Augenblick zum anderen wurde aus dieser blöden Kalberei tödlicher Ernst. Die beiden hatten sich bei dieser Hatz so in Rage geschrieen, und jetzt wollte dieser Krüppel von einem Kerl einfach nicht mehr mitmachen. Na, dem wollte man's zeigen. Die Wachmänner legten beide ihre Karabiner ab, nahmen den Alten an Armen und Beinen, warfen ihn eins, zwei, drei in die Luft und ließen ihn ungerührt mit dem Kreuz auf den Boden aufschlagen. Und wieder ging es eins, zwei, drei gegen die Decke und klatsch auf den Boden. Dieses grausige Spiel hatte die Aufmerksamkeit der Wachmänner so gefesselt, dass es mir gelang, die Scheune unbemerkt zu verlassen. Bis zur Unterkunft hatte ich nur über die Straße. Aber auch hier sollte mich nach Möglichkeit niemand sehen. In meiner Angst verkroch ich mich unter den Holzvorräten unserer Küche, bis das Arbeitskommando ins Lager zurückkehrte.

Über diesen Vorgang wurde im Lager kein Wort verloren. Die Frage, wo dieser Alte abgeblieben sei, blieb unbeantwortet. Und ich? - Ich hatte nichts gehört und nichts gesehen. Ich hatte meine eigenen Probleme. Ich hatte nicht einmal ein schlechtes Gewissen.

Was hätte ich tun können?  - Absolut nichts. Solche Eskapaden liefen immer auf zügellose Gewalt hinaus. Das musste man mittlerweile wissen. Wer auf solche Hahnjökeleien nicht elegant parieren konnte, war immer und überall in Gefahr. Jedenfalls noch zu dieser Zeit. - Und die ANTIFA? Die zählte in unseren Briefen die dreißig Zeilen nach. - Nein, von der Seite war nicht das Geringste zu erwarten.

Kurze Zeit später ereignete sich etwas, was fast wie eine Vergeltung aussehen mochte.

Immer häufiger gingen ältere Leute aus dem Ort an unserer Unterkunft vorüber und warfen in unbeobachteten Augenblicken irgend etwas durch die offenen Fenster. In der Regel waren es Zigaretten. Da ich von Anfang an einen Fensterplatz bezogen hielt, landete so manches unverhofft auf meinem Schlafplatz. So eine Packung Zigaretten machte natürlich die Runde.

Trotz aller Vorsicht waren diese Wurfsendungen beobachtet worden. Also ließ der Lagerkommandant den Gehsteig vor unseren Unterkünften durch Stacheldrahtspiralen absperren. Links und rechts vom Lagertor hatte er sogar Spanische Reiter aufstellen lassen. Das waren zwei gekreuzte Balken mit einer etwa zwei Meter langen Querverbindung. Auf diese Kreuzspule wurde weitmaschig und reichlich Stacheldraht aufgezogen. Diese Konstruktion besaß den Vorteil, dass man sie im Bedarfsfalle mühelos wegräumen oder wieder aufbauen konnte.

Dann geschah es, dass unser Kommandant, wie's seine Art war, stolz ins Lager einreiten wollte. Er ritt ein Bild von einem Pferd. Als sich Ross und Reiter gerade zwischen den beiden Absperrungen befanden, scheute das Pferd aus unerklärlichem Anlass, stieg auf und sprang wiehernd in eine dieser Sperranlagen hinein. Das Pferd versuchte sich wie wild aus dem Stacheldrahtgewirr zu befreien und riss sich dadurch umso schneller zu Tode. Auch der Kommandant hatte tüchtig was abbekommen und wurde von seinen Wachleuten abtransportiert. - An einem der nächsten Tage gab die Küche Bohnensuppe mit Pferdefleischeinlage aus.

Dem Kommandanten, so war die Meinung, habe dieser Sturz zugestanden. Um das schöne Pferd tat es uns leid, zumal es so elend verendet war.

***

Fortsetzung: Einmal Beli Potok und zurück

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