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Pik Bube

Entlassung und Heimkehr

 

Am Sonntag danach war ich bereits nach Hause unterwegs.

Unser Aufenthalt auf dem Kalvarienberg war nur von kurzer Dauer. Es vergingen zwei Tage, bis man uns am Bahnhof in Güterwaggons verlud.

Unser Transport umfasste ca. zweitausend Kriegsgefangene, von denen etwa vierhundert Österreicher waren. Mit roten Fahnen, Transparenten, Bildern von Tito, Stalin und Marx zogen wir im Fußmarsch zum Bahnhof Semlin (Zemun), wo uns ein 'reich geschmückter' Güterzug mit geschlossenen Waggons erwartete. Am Bug der Lokomotive flatterten zwei gekreuzte Fahnen: die rote Fahne der UdSSR und die blau-weiß-rote Trikolore mit dem roten Stern im weißen Mittelfeld. Die Waggons waren reich mit Birkenzweigen geschmückt und natürlich mit sozialistischen Parolen, wie: 'Wir danken Marschall Tito!' - 'Es lebe Marschall Stalin und die KPDSU!' - 'Es leben die Völker Jugoslawiens!' - 'Für Frieden, Freiheit und Brot!' - 'Nieder mit dem Marshallplan!' - Da hatte sich unsere ANTIFA wieder einmal mächtig ins Zeug gelegt.

Ohne Halt und Unterbrechung fuhren wir bis Jesenize. Doch dann ging es mit einem Mal nicht mehr weiter. Es gab wohl Grenzprobleme; vielleicht mit der englischen Besatzungsbehörde.

Nach Stunden vergeblichen Wartens durften wir endlich die Waggons verlassen, um auszutreten und die Beine zu bewegen. Natürlich kam auch bald die Parole auf, dass es wieder zurück nach Belgrad ginge. Möglich war zu dieser Zeit noch alles. Dann aber hieß es endlich:

"Hajde, utchi!" - Wir fuhren nicht nach Belgrad. Als wir den finsteren Tunnel hinter Jesenize passierten, wusste jeder: Wenn es jetzt wieder hell würde, dann waren wir in Österreich.

So schön und großartig ist es in meinem ganzen Leben nie wieder hell geworden!

In Villach hielt unser Zug. Beamte von der Eisenbahn und vom Grenzschutz, blitzsaubere Rotkreuz-Schwestern, alle wirkten sie, als kämen sie frisch aus der Reinigung, so adrett und tip-top.

Mit unserer Transportdekoration war hier kein Staat mehr zu machen. Alle, die uns in Empfang nahmen, schüttelten verständnislos den Kopf. Niemand hat darüber lachen können. Es hatte sich wohl schon herumgesprochen, was diese ANTIFA-Aktivisten für schräge Vögel waren. Diese merkwürdigen Dekorationen ließen da auch keine Zweifel mehr aufkommen. Armes Deutschland! -

Wir mussten sofort die Waggons verlassen und uns nach Besatzungszonen gruppieren; nach der englischen, der amerikanischen, der russischen und der französischen Besatzungszone. Ich war in der letzteren beheimatet. Das Entlassungslager für meine Zone befand sich in Neu-Ulm. Dort also musste ich hin.

Aber noch waren wir in Villach. Auf dem Bahnsteig erwarteten uns viele Frauen und alte Männer, die uns Fotografien von Soldaten entgegenhielten. Sie standen da, wie die Krüppel am Wege, von der geringen Hoffnung getrieben, dass vielleicht irgendwer Auskunft über einen dieser Verschollenen geben könne. Man konnte an diesen Leuten nicht vorübergehen, ohne sich aufmerksam die Fotos zu betrachten. Was hätten sie sonst wohl denken mögen.

Wie viele Jahre liefen sie nun schon zu den Zügen, den Krankentransporten, und wie lange würden sie da noch hoffend und fragend herumstehen? Das ganze Elend dieses verfluchten Krieges kroch mir wieder ins Bewusstsein.

Kräfte vom Roten Kreuz führten uns an die Züge, die aber auch mit der jeweiligen Besatzungszone gekennzeichnet waren. Die Schwestern teilten frisch dampfenden Kaffee und Gebäck aus. Alle hießen sie uns freudestrahlend willkommen; fast so, als ob wir diesen Krieg gewonnen hätten. - Hatten wir, die †berlebenden dieser Tragödie, dies nicht auch auf unsere Weise?

In Neu-Ulm ging es etwas verhaltener zu. Beim Wetter würde man sagen: kühl und trocken. †ber was hätten sich die Franzosen auch freuen sollen? - Sie wollten alles Mögliche von uns wissen. Wir wurden verhört und befragt, ob wir wichtige Aussagen oder Berichte abzugeben hätten. Was war für uns im Augenblick schon wichtig. Wie die drei Affen hatten wir nichts gehört und nichts gesehen. Da gab es also auch nichts zu berichten.

Schon am frühen Morgen des folgenden Tages brachte man uns zur Bahn. Alle hatten wir unseren Entlassungsschein und unsere Fahrkarte nach dem Heimatort.

Bis zur planmäßigen Abfahrt meines D-Zuges war noch Zeit. Das reichte, um meinen Bruder anzurufen, der als Eisenbahner über das bahneigene Telefonnetz direkt anzuwählen war. Ein freundlicher Beamter der Fahrdienstleitung vermittelte mich zu ihm durch. Dann hörten wir nach viereinhalb Jahren wieder einmal unsere Stimmen. Ich nannte ihm die Ankunftszeit meines Zuges in Andernach. Dort wollte ich mit der Fähre über den Rhein setzen und mich von Leutesdorf erneut melden. - Während ich wenig später mit dem D-Zug auf den Rhein zurollte, telefonierte mein Bruder durch die Gegend und setzte Boten in Marsch. Das war ja nicht wie heute, wo fast jedermann telefonisch anzuwählen ist. Natürlich verständigte mein Bruder auch das Schätzchen.

Ach ja, von meinem Gepäck habe ich überhaupt noch nichts gesagt. Da kann man sehen, wie unwichtig diese Dinge im Augenblick geworden waren. Ich hatte mir in Belgrad zwei Holzkoffer anfertigen lassen. Das waren meine Gepäckstücke. In meinem ersten Koffer hatte ich meine Ausgehgarnitur. Die guten Schuhe trug ich an den Füßen. Was hatte ich eigentlich meinen Eltern mitgebracht. NescafŽ und Kakao (!) waren auf jeden Fall dabei. Aber sonst fällt mir nichts mehr ein. Für mein Schätzchen waren sechs Paar Marken-Strümpfe 'pure silk' eingepackt. So etwas kannte Liesel wohl schon über Jahre nicht mehr. Von diesen sündigen NYLONS hatte ich ja noch keine Ahnung. Der restliche Platz war mit Schokoladentafeln (aus Amerika) ausgestopft. Es werden bestimmt zwanzig Tafeln gewesen sein.

Der andere Koffer war voller Zigaretten der Marke MORAVA. Es müssen weit mehr als zweitausend Stück gewesen sein. Zigaretten waren in Jugoslawien nicht teuer. Die mazedonischen Tabake sind weltbekannt. Das Geld für die Beschaffung hatte ich mir bei 'Voce i P˜vrce' in der Nacht verdient. Dana hatte mir die Zigaretten in mehreren Schüben zusammengetragen.

Gute Dana, wie lange wirst du noch um deine Freiheit zittern müssen? Wann wirst du deine Eltern wiedersehen?

Was die Zigaretten hier jetzt für einen Wert besaßen, davon hatte ich keine Vorstellungen. Ganz sicher galten sie noch als Mangelware.

Die Koffer waren beide nicht schwer. So war der Weg vom Bahnhof Andernach zur Rheinfähre nicht von Bedeutung. †ber eines hatte ich mir aber keine Gedanken gemacht. Von den Franzosen war mir zwar eine Fahrkarte, aber kein Pfennig Geld ausgehändigt worden. Jetzt stand ich auf der Fähre, bereits mitten auf dem Rhein, da wollte der Fährmann seine dreißig Pfennige haben. Dreißig Pfennige, wo sollte ich die hernehmen? Ich sagte ihm, dass ich auf dem Heimweg aus der Kriegsgefangenschaft sei und kein Bargeld besäße. Ja, wie ich dann aber diese Fähre benutzen könnte.

"Loß dä Jung en Ruh un jew dem endlich en Kaat. He heste ding drej Jrosche." (Lass diesen Jungen in Ruhe und gib ihm endlich eine Karte. Hier hast du deine dreißig Pfennige.)

Natürlich kannte ich diesen Mann nicht, der nun dem Fährmann das geforderte Geld gab und jetzt auch von den anderen Fahrgästen lebhaften Zuspruch erhielt. Ich bedankte mich, schnallte meinen Zigarettenkoffer auf und gab ihm zum Dank zwei Zwanziger-Schachteln Zigaretten. Es wurde momentan ganz still auf der Fähre. Bis dann der Fährmann meinte, dass er mich für so viele Zigaretten auch mitgenommen hätte.

Als ich in Leutesdorf den Dienstraum des Fahrdienstleiters betrat, wusste dieser gleich Bescheid. Mein Bruder hatte mich bereits angekündigt. Jetzt nahm er, ohne dass ich erst darum bitten musste, das Telefon zur Hand und meldete meine Ankunft.

Mit den Bahnverbindungen war es zu dieser Zeit noch sehr spärlich. Am ehesten würden wir uns wiedersehen, wenn er sich gleich zu Fuß auf den Weg mache. Zwei Fahrräder würde er mitbringen; auch wegen des Gepäcks.

Der Kollege meines Bruders vertrieb mir die Zeit, indem er mir allerhand lustige Geschichten erzählte, in die mein Bruder meistens mit verwoben war. Es machte mir überhaupt große Freude, mit welch freundlichem Respekt er von ihm sprach.

"Wenn ich mich nicht täusche, dann kommt da hinten Ihr Bruder."

Nein, er täuschte sich nicht. Ganz in der Ferne trabte er mit zwei Fahrrädern an. Die beiden Drahtesel sah man schon von weitem über den groben Schotter des Gleiskörpers hoppeln.

Ich ließ meine Koffer an der Station zurück und eilte ihm entgegen. Dann sah ich, dass er weinte, vor Freude über unser Wiedersehen. Er musste immer wieder stehen bleiben und sich die Augen klar wischen, damit er nicht über seine eigenen Beine stolperte. Dann lagen wir uns in den Armen.

Nach einer Weile waren wir uns wieder so vertraut, dass wir die Feststellung machten: Wir haben uns überhaupt nicht verändert. Wir luden meine Koffer auf die Räder. Ich bedankte mich bei seinem freundlichen Kollegen, und dann radelten wir erst einmal zu einem kleinen Weinort, nach Hammerstein, das an unserem Wege lag. Dort hatte mein Bruder mich einer 'Heckenwirtin' vorzustellen, einer Witwe, die einen bescheidenen, aber gepflegten Weinbau betrieb. Diesem angeschlossen, unterhielt sie noch eine kleine Weinstube. Mein Bruder hatte ihr in den vergangenen Jahren oft von mir erzählt, ihr gelegentlich sogar Briefe von mir gezeigt. Das Versprechen stand, dass sie bei meiner Heimkehr ihre beste Flasche aus dem Keller heraufholen würde. Diese war nun fällig.

Ich weiß nicht genau, ob es bei dieser einen Flasche blieb. Ganz deutlich ist mir in Erinnerung, dass wir beide hernach nicht mehr Rad fahren konnten. Bei Gleichgewichtsstörungen Fahrräder schieben und die auch noch mit Gepäck beladen, das sollte sich keiner so einfach vorstellen. Aber wir hatten doch wohl schon ganz andere Dinge im Leben gemeistert.

Bei meiner Schwägerin und ihren beiden Kindern löste sich auch die Spannung des Wartens und Erwartens, als wir etwas umständlich ins Ziel gingen. Bis zur nächsten Zugverbindung machte ich wieder meine ersten Erfahrungen mit der rheinischen Küche. Jetzt, wo sich schon einiges an Spannung in mir gelöst hatte, verspürte ich einen mächtigen Hunger.

In der Dunkelheit des Abends fuhren wir mit dem Zug gemeinsam zu den Eltern. Vater, meine Schwester und mein Schätzchen holten mich am Bahnhof ab. Vater, der in zwei Tagen seinen siebenundsiebzigsten Geburtstag zu feiern hatte, ließ es sich nicht nehmen, meine Holzkoffer nach Hause zu tragen. Es war ein Weg von zehn Minuten.

Und dann stand ich in der Küchentür meiner Mutter gegenüber; in einer Wohnung, die mir noch fremd war. Mutter saß wie früher schon immer in ihrer warmen Ofenecke und trug ihr bestes Kleid. Ihr Gesicht zeigte rote Flecken der Aufregung. Sie stand nicht auf. Sie ließ mich zu sich kommen. Sicher zitterten ihre Beine. Ich hatte ja auch ganz weiche Knie. Nun endlich stand ich vor ihr und habe lange ihre Hände gehalten. Reden konnten wir eine ganze Weile nichts. Jetzt sah ich auch Vater und meine Liesel beim Licht der Lampe. Auch mein Vater hatte sich in den Jahren eigentlich kaum verändert. Was meine Liesel betraf, vielleicht war es die Entwöhnung, jedenfalls fand ich sie schöner denn je.

Jetzt deckte sie mit meiner Schwester eilig den Tisch. Es war ein Festmahl vorbereitet worden. Bald saßen wieder alle am gedeckten Tisch: Meine Eltern, meine Schwester, mein Bruder mit seiner Familie und meine gute, treue Braut.

Was haben wir uns erzählt? An eine ganz eigenartige Situation erinnere ich mich noch genau:

Ich sagte so in der Unterhaltung, ohne jetzt darin etwas besonderes zum Ausdruck bringen zu wollen, dass es mir all die Jahre nicht gelungen sei, auch nur ein einziges Mal von zu Hause und den Lieben zu träumen. Es waren das alles traumlose Nächte gewesen. Nicht einmal die Angst war mir im Traum begegnet.

Ja, ein einziges Mal hatte ich ein ganz kurzes Traumbild: Ich sei die Straße auf das Stadttor zugegangen. An diesem Tor fand ich den größten Teil des Daches abgedeckt. Dann sei ich aber in ein mir völlig fremdes Haus hineingegangen. Ich wusste, dass dies die Wohnung eines Kollegen meines Vaters war. Walldorf hießen diese Leute. Dass ich gerade auf dieses Haus zugegangen war, darüber hatte ich mir eigentlich keine Gedanken gemacht. Für mich war nur wichtig, dass ich, für einen Augenblick nur, die Gestalt und das Gesicht meiner Mutter vor Augen hatte. Sie stand in einer Diele neben einem Tisch, auf dem Bettzeug gestapelt war.

Es wurde ganz still am Tisch und in der Runde. Hatte ich irgend etwas Dummes gesagt? - Aber an diesem Traumbild war absolut nichts Dummes. - Dann erzählte Vater, wie unsere Mietwohnung durch eine deutsche Stuka-Bombe unbewohnbar geworden war, und dass sich sein Kollege Walldorf angeboten hatte, unsere Familie fürs Erste aufzunehmen, bis eine dauerhafte Lösung gefunden war. So, wie Mutter bei diesem Bettzeug stand, genau so hätte ich ihr begegnen können.

Am nächsten Morgen blieb Mutter im Bett. Sie hatte sich mit aller Energie auf den Beinen gehalten, bis ich endlich wieder heimgefunden hatte. Wie ich dann erfuhr, war sie hoffnungslos an Krebs erkrankt. Jetzt wollte sie gottergeben ihren Tod erwarten.

Sie hatte aber noch ein langes Sterben vor sich. Vielleicht, weil sie sich ihm vorher mit so eiserner Energie widersetzt hatte.

Bis zu ihrem Tode habe ich geglaubt, dass ich ihr ein halbwegs guter Sohn gewesen sei. Als sie dann aber nicht mehr lebte, wußte ich, dass ich ihr vieles, sehr vieles schuldig geblieben bin.

Mein Vater hat noch einige Jahre gelebt. So hat er bald mit uns Hochzeit gefeiert und auch noch einige unserer Kinder kennengelernt. Aber nun hatte mich der Beruf in eine andere Stadt verschlagen, so dass wir uns nur gelegentlich sahen. Als er, neben unserer Mutter, seine letzte Ruhe fand, da hatte ich längst wieder festen Boden unter den Füßen, einen sicheren Arbeitsplatz und eine (wachsende) Familie dazu.

 

 

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