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Beim Jugoslawischen Roten Kreuz

 

Mein Arbeitseinsatz beim Jugoslawischen Roten Kreuz, dem JRK, war anfangs wieder eines dieser Außenkommandos, zu denen man in der Frühe durch einen Wachmann hingeführt und am Nachmittag wieder abgeholt wurde. Diese Rot­kreuz-Dienststelle war zentral in der Altstadt, an der Uliza Simina, gelegen, gar nicht weit vom heutigen 'Platz der Republik' entfernt.

Das Arbeits- und Transportkommando, es waren nur sechs Landsleute, exi­stierte seit längerer Zeit. Ich war, wie sich gleich herausstellte, eine schwache Verstärkung. Wer sich in dieser Kolonne besonders hervortat, war Hermann, unser Kraftfahrer. Er machte das aber auf ange­nehme Weise. Er war mit allen Wassern gewaschen. Ja, er war so ausgekocht, dass sogar die Jugoslawen ihm voll und ganz vertrauten. Das sollte was heißen!

Unsere Arbeit bestand darin, Lebensmittellieferungen und andere Hilfs­güter der UNRRA auf dem Güterbahnhof auszuladen und in den Lager­räumen des JRK zu stapeln oder Hilfsgüter-Kollektionen an die Empfän­ger innerhalb der serbi­schen Sektion auszuliefern.

UNRRA, das war die Abkürzung des englischen 'United Nations Relief and Rehabilitation Administration'. Diese Einrichtung wurde 1943 als interna­tio­nale, später der UN unterstellte Organisation zur Betreuung der Flücht­linge und ver­schleppten Personen in den von den Alliier­ten besetzten Gebieten gegründet. Die UNRRA organisierte auch die Hilfssendungen im Rah­men des 'Children-Fund', einem Kinderhilfswerk für Europa, das ebenfalls über das JRK abge­wic­kelt wurde.

Meine Kollegen hatten hier an ihrem Arbeitsplatz auch Unterkunft und Verpfle­gung, die bedeu­tend besser als im großen Donaulager war.

Beaufsichtigt wurden wir von einem Zivilisten, der sich von uns 'Chiko' rufen ließ. "Genosse Chiko" natürlich. An ihm war absolut nichts auszuset­zen. Man sagte ihm zwar nach, dass er der OZNA zuarbeite, aber das war nicht zu bewei­sen. Natürlich nahmen wir uns vor ihm in acht. Viel­leicht war das aber auch eine von den Jugoslawen gesetzte Warnboje, damit wir auch wirk­lich ständig auf der Hut sein sollten. Wenn es so gedacht war, dann funktionierte diese Methode.

Chiko, dem selbstverständlich auch die Arbeitseinteilung oblag, ent­schied, dass ich erst einmal mit den leichteren Aufgaben beginnen soll­te.  Zu diesen leich­te­ren Verrichtungen zählte, wen sollte es wundern, die Betreuung der Textilla­ge­rung. Es handelte sich dabei um amerikani­sche Kleiderspenden.

Da gab es Wäsche und Bekleidung modernsten Zuschnitts. Vorne durchge­knöpfte Oberhem­den. Wo hatte man so etwas schon gese­hen? Ich kannte bis dahin nur Herrenhemden, die bis zum Brustbein auf­zuknöpfen waren. Ja, genau wie das heute noch bei Nachthemden üblich ist. Dann Mäntel mit 'aus­reißbarem' Futter. So lange Reißverschlüs­se waren mir im Leben noch nicht begegnet. Aber was hatte ich auch schon gesehen?

Was die Lagerung dieser Textilien betraf, so hatte Chiko ein verblüffen­des System entwickelt. Alles wurde auseinandersortiert und in Säcke gestopft. Waren die Säcke voll, wurden sie zuge­bunden und gewogen. Auf den Verschlussetiketten war dann etwa zu lesen 12,8 kg Hosen, 9,2 kg Sakkos, 14,5 kg Oberhemden oder 1,8 kg Büstenhalter. Bei komplet­ten Anzügen wur­den also die Röcke von den Hosen getrennt, auf dass sie sich nie wieder begegneten. Jedem, dem es an einem Sakko fehlte, musste man deshalb nicht gleich noch eine Hose dazugeben. Und wenn? Schließlich ließ sich alles kombinieren.

Chiko sorgte auch dafür, dass ich mich vernünftig ankleiden konnte. Ich hatte mir einen Sakko in mittlerem Grau ausgesucht, mit Reißverschlusstasche im Innenfutter. Allein dieses Reißver­schlusses wegen hatte ich mich für diesen Rock entschieden. Er war aber auch noch in einem sehr guten Zustand. Ich hatte überhaupt den Eindruck, dass alles so gut wie neu war. - Jetzt brauchte ich noch eine Hose. Ich sollte sie mir aussu­chen.

Ich hatte in einem Regalwinkel einen Stapel fabrikneuer kanadischer Marine­ho­sen entdeckt. Einem so fein strukturierten Kammgarn war ich noch nie begeg­net. Es gab da aber ein Problem. Diese Hosen waren vorne mit einem gewalti­gen Latz versehen. Was eine bayrische Leder­hose im Vergleich zu bieten hat, das hätten diese Kanadier auf Anhieb nicht einmal gefunden. Wenn man an den Marinehosen die seitlich angebrachten Knöpfe öffnete..., - aber ich schätze, das war nur auf hoher See erlaubt. - So wollte ich jedenfalls nicht her­umlaufen. Es schien mir offensicht­lich, dass auch Chiko nichts mit diesen Bein­kleidern anzu­fangen wusste. Ich vermute das. Wieso waren sie sonst nicht schon in irgendeinem dieser Hosensäcke gelandet. Ich hatte keine Mühe, Chiko drei dieser vertrackten Exemplare abzuschwatzen. Darüber konnte er nur den Kopf schüt­teln.

Ich wusste im Donaulager einen Schneider, für den es kein Problem sein würde, aus solchen Beinkleidern Hosen zu schneidern. Warum ich gleich drei dieser Hosen an Land zog? Die erste war für mich. Die zweite war der Schnei­derlohn für die Änderungen, und die dritte hatte ich ver­an­schlagt, um diesen blödsinni­gen Hosenlatz umrüsten zu können. Als ich mit diesen Hosen bei unserem Schneider erschien, als er diesen Stoff sah und mein Angebot ver­nahm, hat er sich vor Freude mit mir besoffen. Ja, diese gelegentlichen Licht­blicke, die brachten es. Vierzehn Tage später hätte man mich einmal sehen sollen: Hell­blaue Schlägermütze, der Rest, der mir von der Luftwaffe geblieben war, mittel­grauer Sakko (mit Innenreißverschluss) und eine maßgeschnei­derte, dunkel­blaue Kamm­garnhose. Wenn ich in einem Schaufenster meinem Spie­gelbild begeg­nete, mochte ich mich kaum noch von ihm trennen. Als Schand­fleck blie­ben nun noch meine Schuhe, die bereits beschriebenen Opanken von Bata. Aber das Glück hatte wohl wieder mal ein Einsehen. Zu dieser Hose gehörten vernünftige Schuhe.

Chiko gab in unserer Kolonne bekannt, dass das 'Kombinat Obst und Gemü­se', 'Voce i P˜vrce', wie es im serbischen so klangvoll heißt, Transportarbeiter für die Nachtschicht suchte, und zwar nur für die Nachtschicht. In der nächsten Zeit waren in zunehmendem Maße Wag­gons mit ver­derblichem Obst zu entla­den. Dafür wurden Leute gesucht. Aber wer wollte schon in der Nacht arbeiten, es sei denn, dass man sich ein Paar Schuhe anschaffen wollte. Ich meldete mich als Einziger.

Ab sofort bekam ich über Chiko jeweils Nachricht, in welchen Nächten ich gefragt war. Da ich mich tagsüber nicht sonderlich anzustrengen hatte, war das erträglich.

Im Textillager gab es eines Morgens überraschend lautstarken Streit. Da stand eine Zigeunerin, schwarzgrau gewandet, und verlangte was Anständiges anzu­ziehen. So konnte letzten Endes jeder kommen. So ähnlich muss sich Chiko auch erklärt haben. Dann hörte man, wie Stoff zerriss, und die Zigeunerin stand splitternackt vor ihm. Ihr vordem 'Grauschwarzes' verhüllte zerrissen ihre gleichfarbigen Füße. Was blieb Chiko jetzt anders übrig, als dieses resolute Weib auf die Schnelle einzu­kleiden.

In den ersten Augusttagen erhielt ich die schriftliche Erlaubnis, mich nun auch im Stadtgebiet von Belgrad frei und ohne Bewachung bewegen zu dürfen. Nicht nur das. Es war mir sogar erlaubt, mich von vier Mitge­fangenen aus dem Donaulager begleiten zu lassen. Das sah ganz nach steiler Karriere aus. Aus­gestellt war diese 'Potwrda' vom JRK. Sie schloss mit der jetzt übli­chen Gruß­form 'Smrt faschismu - sloboda narodu', was nicht anders heißen kann als 'Tod dem Faschismus - Freiheit dem Volke'. - Da wurde es einem ganz warm ums Herz.

Die Kollegen, mit denen ich fortan und vor allem an Sonntagen durch die Stra­ßen Belgrads pro­menierte, waren außer Adolf noch Bernd Halle­kamp und Peter Vollmer, beide vom Chor. Die Letztgenannten waren tolle Kerle. Dass sie über­haupt noch lebten, grenzte schon an ein Wun­der.

Bernd Hallekamp ist nach der Kapitulation den ganzen Weg von Ljubl­jana bis auf den Kalvarien­berg von Zemun zu Fuß gelaufen. Zum Glück hat man ihm die Schuhe gelassen. Dort auf dem Kalvarienberg ange­langt, war er schon nicht mehr richtig im Kopf. Sein Zustand wechselte stän­dig zwischen Ohn­macht und Delirium. Da täglich für die Neuan­kömmlinge Platz zu schaffen war, wurden allmorgendlich die ganz und die dreiviertel Toten buchstäblich auf die Kippe gekarrt. Ob Bernd, in diesem Hang liegend, mit einem Mal kalte Füße bekom­men hatte oder was sonst geschehen war, er hatte plötzlich einen kla­ren Kopf. Und als er sah, in welch schlapper Gesell­schaft er sich befand, hat er seine ganze Energie mobilisiert, um sich in irgendeine Baracke dort oben zurückzu­melden. Er ist, wie man sieht, durchgekommen.

Bernd war eitel, und das stand ihm auch zu. Er verfügte über einen makellos blonden Locken­kopf. Als man ihm diese blonde Pracht abschnitt, glaubte er, dass er nun schon wieder sterben müsse. Zum Glück besaß er eine graue, unmilitärische Baskenmütze, mit der er seine Blöße bedecken konnte. So ohne alles wollte er auf keinen Fall herum­laufen. Um jedem kundzutun, was er von dieser Glatzköpfigkeit hielt, hat er ganz fein säuberlich und exakt verteilt, rund um die Mütze den Aus­spruch des alten Götz v.Berlichingen aufgestickt. So wusste es jeder: Alle Welt konnte ihn einmal. Diese Mütze trug er auch jetzt noch, wo er mitt­lerweile zu seinen Locken zurückgefunden hatte.

'Kalvarienberg' hieß dieser Hügel oberhalb von Zemun schon immer. Also nicht erst seit Kriegs­ende. Nach den schrecklichen Vorgängen jener Zeit hätte man dieses Hügelgelände aber auch nicht zutreffender benennen können.

Peter Vollmer war Kammersänger. Wollte es auch wieder einmal sein. In unse­rem Chor trat er als Bass-Solist auf. Er sah recht respektabel aus und war über­durchschnittlich groß. Das Reso­nanzvolumen seines Brustkorbs lag näher beim Kontrabass als beim Cello.

Peters Militäreinheit war nahe bei Triest der Tito-Armee in die Hände gefallen. Nach der Waf­fenniederlegung mussten alle wieder ihre Fahr­zeuge besteigen. Motorisierte Tito-Einheiten begleiteten sie auf die istri­sche Küste zu. -

Peter hat seine bösen Vorahnungen in hochprozentigem Schnaps ertränkt und ist bald in tiefe Bewusstlosigkeit abgetaucht. Seine Kamera­den verstauten ihn fürsorglich auf mehreren Woll­decken unter eine Sitz­bank. Wie sonst hätte er so gut versorgt dort aufwachen können. Aber wo waren seine Kameraden? -

Die gab es nicht mehr. Sie hatten schon alles hinter sich. Jetzt, wo die Sonne schon tief über dem Meer stand, waren die Jugoslawen dabei, den deutschen Fahr­zeugpark aufzuneh­men, zu ordnen und entsprechend abzustellen. Peter ist die ganze Nacht wie um sein Leben gerannt. Er wollte bei seiner unaus­weichli­chen Gefangennahme möglichst weit von diesem grässlichen Ort ent­fernt sein.

Mein Gott, das lag alles schon so weit zurück. Drei Jahre waren seitdem ver­gangen, und nun promenierten wir, fast unbeschwert, durch die Grünanlagen des Kalemegdans, der alten Festung Belgrads.

An diesem Sonntag machten wir uns schon sehr früh auf den Weg. Zu Mittag wollten wir einmal gepflegt in einem Restaurant essen, wie freie Bürger, koste es, was es wolle.

Mein JRK-Arbeitsplatz befand sich, wie schon erwähnt, nahe beim Platz der Republik. Im Okto­ber 1944 schlug ich mich auf diesem Gelände eine ganze Woche lang mit Serben und Russen herum. Das Haus, in dem wir uns mit sechs Mann festgesetzt hatten, lag genau dem National­theater gegenüber. Nach dem Kriege wurde an dieser Stelle ein Speiserestau­rant errichtet. Von dem Haus, das vordem dort stand, war ja auch nicht viel übriggeblieben. Ich habe den dreien dann eine Episode erzählt, über die ich inzwischen lachen konnte:

Auch während der damaligen Straßenkämpfe musste ab und zu etwas War­mes gegessen und getrunken werden. Für diesen Verpflegungsgang machten sich immer zwei Mann auf den Weg. So war man jeden dritten Tag an der Reihe. Unsere Küche lag nahe beim Hochhaus Albanija. Durch ein weiträumi­ges Tex­tilhaus, das in dieser Luftlinie lag, hatte eine russische Pak ein Loch durch alle Wände geschossen. Dieses Panzerab­wehrgeschütz stand direkt neben dem Natio­naltheater, an der Fran­zuska. Wir beäugten uns gegenseitig von früh bis spät, bis es dann wie­der einmal krachte. Nun gut; mit diesem Meisterschuss ins Kaufhaus hat­ten die Russen uns eine Gasse gebrochen, die fast bis zur Küche reichte. Jetzt brauchten wir nicht mehr die Straße lang. Es galt nur noch eine Straße zu überqueren.

Während mein Kumpel den Kaffeekanister auf den Rücken schnallte und sich das Brot unter den Arm klemmte, nahm ich die sechs Kochge­schirre in Emp­fang und hing sie mit den Tragebügeln zu je drei Batterien zusammen. So konnte ich sie in eine Hand nehmen. Die drei Wurstkon­ser­ven klemmte ich mir unter den anderen Arm.

Es war schon idiotisch, dass ein Offizier unserer Einheit auf die Idee kam, aus­gerechnet mit uns zusammen in Richtung Nationaltheater vorzuge­hen. Aber was wollten wir machen. Jetzt mussten wir zu dritt diese Straße überqueren. Bei seinem Spurt über die Straße passierte nichts. Als dann der Kaffeeholer folgte, knallte es. Jetzt war da erst nichts mehr zu machen. Die Russen, die sich mitt­lerweile auf dieses Verpflegungs-Dop­pel eingestellt hatten, mochten meinen, dass sie damit unsere Aktion abhaken konnten. Ich hoffte es. Trotz­dem ver­weilte ich noch etwa eine viertel Stunde in meiner Deckung. Dann folgte mein eleganter Spurt zu einer Garagenzeile, die mir wieder Deckung bieten würde. Und dann passierte es.-

In der Nacht hatten uns die Russen mit Granatwerferfeuer eingedeckt. Uns war nichts passiert. Die Einschläge hatten aber die Asphaltdecke zu kleinen Mond­kratern aufblühen lassen. Über so ein Gebilde musste ich stolpern und lang auf die Schnauze fallen. Den Kochgeschirren war nichts passiert. Ich hatte sie wie eine Fahne hochgehalten. Aber die Konserven kullerten über den Asphalt.

Ich rappelte mich auf, so schnell es ging, und schoss die Konserven wie Fuß­bäl­le zu den Gara­gen hinüber. Die Schüsse aus den Häusern zu meiner Rechten kamen einen Moment zu spät.

Im Quartier herrschte Aufregung. Nicht etwa wegen meiner unglückli­chen Bauchlandung. Hier lag unser Kaffeeholer auf einem Tisch und streckte den nackten Hintern gegen die Zimmer­decke. Was war geschehen: Dieser Schuss,

der ihm nachgefeuert wurde, hatte getroffen. Allerdings nicht den Mann, son­dern den Kanister. Einschuss, Ausschuss, aus beiden Löchern war der heiße Kaffee über den Hintern des Trägers gelaufen und hatte diesen ganz gehörig verbrüht. Ihm hatte es gereicht. Noch am Abend ist er mit gepudertem Gesäß über die Save ins nächste Lazarett geschafft worden. Für ihn war Bel­grad kein Thema mehr.

Da war noch etwas. Als wir von diesem Textilhaus Besitz ergriffen, waren die Regale zum Teil noch gefüllt. Ich erinnere mich, dass beachtliche Stapel Damenschlüpfer in einer Regalwand lagen. Wir haben sie gleich am ersten Abend ausgeräumt und mitgenommen. Bevor wir bei den Russen unsere Hausbesuche machten, zogen wir diese Schlüpfer zwei- oder dreifach über die Stiefel. Jetzt waren wir so leise, wir hätten zu den russischen Nachbarn unbe­merkt aufs Klo gehen können.

Doch zurück zu unserem Sonntagsbummel. In den Gärten des Kale­megdan wurde irgend etwas gefeiert. Überall hatte man Buden aufge­baut, an denen Wein, Bier und andere Getränke ange­boten wurden. Anderenorts wurde gegrillt und gebrutzelt. Da wurden Küftetas, Tsche­waptschit­schi und Pesche­nizi, Brat­würste, angeboten. Und natürlich fehl­te auch, wie überall auf dem Bal­kan, die­ses Burek nicht, eine der ange­nehmen Erinnerungen an die Tür­ken­herrschaft. Das war ein in (zu viel) Öl gebackener Blätterteig. Er war immer mit etwas gefüllt, mit Hackfleisch, mit Schafskäse oder mit Kürbisstückchen. Alle diese Buden waren dicht umlagert. Überwiegend von jungen Leuten.

An anderer Stelle war eine recht große Fläche glatt betoniert und diente als Tanzboden. Ein großes Orchester hatte sich nach seinem orchestralen Pro­gramm zu kleinen Tanzkapellen gruppiert und spielte abwechselnd zum Tanz auf. Peter und Bernd hätten zu gerne einen hin­getanzt, aber es war ganz deut­lich zu erkennen, dass sich die jungen Damen nicht getrauten. Diese braunge­färbten Amijacken verrieten zu deutlich unsere Herkunft. Beachtung fanden wir schon. Da wurde mit den Augen munter hin- und zurückgezwinkert. Aber mit Anfassen war nichts. - Fast hätten wir noch unseren Restaurantbesuch ver­passt, aber dafür waren wir ja eigens in die Stadt gegangen.

Das Kalemegdanspektakel war vorüber. Chiko hatte wieder das Sagen. Ich bekam eine neue Arbeit übertragen, die auch als leichte Arbeit ein­zustufen war. Trotz der Mühelosigkeit ging mir diese Beschäftigung gewaltig gegen den Strich. Es ging um folgendes:

In den Staaten wurden an den Schulen große Spendenaktionen organi­siert. Viele, sehr viele Kinder, packten mit großer Sorgfalt und offensicht­licher Begeisterung Päckchen mit allen mögli­chen Dingen des täglichen Bedarfs. Dazu liebe, zu Herzen gehende Briefe mit bunter Malerei an einen 'unbekann­ten europäischen Freund'. Über Adressenmaterial ver­fügten diese Kinder natür­lich nicht. Ihre 'Freunde' mochten Gott weiß wo leben, in Jugosla­wien, in Griechenland, auch in Deutschland und überall.

Alle Kinder, deren Geschenksendungen über das Jugoslawische Rote Kreuz geleitet wurden, haben auf ihre Briefe nie eine Antwort erhalten. Sie konnten das auch nicht. Ich habe, zumindest über eine ganze Zeit, ihre Päckchen geöff­net und all die schönen Briefe in einem großen Kar­ton gesammelt. Allein die kindlichen Malereien hätten einer Ausstellung gut gestanden. Das jugo­slawi­sche 'Kinder-Hilfswerk-Postamt' befand sich im Heizungskeller des Roten Kreu­zes. Allen diesen in fleißiger Schönschrift verfassten Kindergrüßen war ein Ein­weg-Schicksal beschieden. Sie erwärmten keine Kinderherzen, sondern für kurze Augenblicke die Dienst­räume einer Ein­richtung des Internationalen Roten Kreuzes, - im Jahre 1948.

Meine eigentliche Aufgabe bei dieser Aktion bestand wieder darin, Schoko­lade, Seife, Zahnpa­sta, Zahnbürsten, Waschlappen und anderes mehr, sorg­fältig und sehr gewissenhaft in Kartons zu sortieren, auf denen später zu lesen stand: 8.6 kg Zahnbürsten oder 6,3 kg Waschlappen.

Bei solcher Beschäftigung habe ich dann meine eigene Bedürftigkeit wiede­rent­deckt. Jetzt wurde geklaut. Für den eigenen Bedarf, versteht sich. Ich habe dabei schnell Format entwickelt, das sogar Hermanns Anerkennung fand. Wen sollte es wundern, hatte ich doch bei Fritz Barufke und Schäfers Toni Privatun­terricht genommen.

Einmal wurde in Split eine Schiffsladung amerikanischer Hilfsgüter der UNRRA gelöscht, wobei neben großen Mengen Milchpulver auch Kakao angekündigt war. Milchpulver war uninteressant. Da kamen wir immer dran. Aber Kakao, das war schon eine Aufgabe. Als dieser Gütertrans­port in Belgrad eintraf, waren das insgesamt so große Mengen, dass ein zusätzliches Lager, eine Fremdlage­rung, vorgesehen war.

Mein scheinheiliges Gesicht galt inzwischen bei Chiko auch etwas. Also sollte ich bei ihm in den Waggons bleiben. Hermann transportierte, fuhr also hin und her. Die übrigen Kollegen entluden das Lastfahrzeug und stapelten die Fass­ware im Ausweichlager. Ich hatte mir, strotzend vor Bescheidenheit, ein klei­nes Säckchen, kaum größer als das Futter einer Hosentasche einge­steckt. Das sollte mir im Augenblick genügen. Aber auch das wollte erst einmal gefüllt sein. Hier auf den Waggons, vor Chikos Augen war da nicht das Geringste zu machen. Ich musste zuse­hen, dass ich von hier wegkam.

Die Idee, die mir kam, war zwar verwegen und recht optimistisch, aber warum sollte man es nicht doch einmal versuchen. Also gab ich mich erst einmal wich­tigtuerisch, halblaut ans Zäh­len.

"Pik, was hast du?" - Meine Kameraden riefen mich 'Pit'. Chiko hatte daraus wohl Pik verstanden und blieb nun auch dabei.

"Ich mache mir Gedanken, wie man drüben im Magazin stapeln wird. Der Magazineur weiß ja überhaupt nicht, welche Mengen von diesem Pulverkram bei ihm ankommen. Später wird man sich die Kindernahrung zwischen der Trockenmilch und den Kakao zwischen dem Erbsenpulver heraussuchen müs­sen. Sollte ich nicht einmal mitfahren und diesem Magazinverwalter den Frachtbrief zeigen, wo er die einzelnen Mengen aufgeführt findet?"

Ja, das war wirklich zu überlegen. Also begleitete ich Hermann bei der näch­sten Fahrt zum Lager. Dort angekommen, begrüßte ich den schon etwas älte­ren, aber sehr freundlichen Auf­passer. Ich machte ihm sofort klar, dass Chiko mich beauftragt habe, ihm den Frachtbrief vorzu­legen, damit er zu einer Über­sicht käme, was noch an Fässern zu erwarten sei. Ich händigte ihm den Frachtbrief aus.

Der gute Mann schaute arg unglücklich drein und drehte den Fracht­brief um und um. - Er konnte nicht lesen.

Das war zu jener Zeit keine Seltenheit. Ganz zu Anfang soll es tapfere und her­vorragende Parti­sanenführer, spätere Offiziere, gegeben haben, die noch mit Daumenabdruck beurkundeten. Sie seien nach dem Kriege mit stattlichen Abfindungen belohnt worden, die ihnen eine Exi­stenz­gründung ermöglichten.

Ich tat nun so, als habe ich seine Verlegenheit nicht bemerkt, nahm die Fracht­papiere wieder an mich und machte ihm Vorschläge, wobei ich die einzelnen Liefermengen unauffällig ansprach. Ja, das fand er auch vernünftig, vorher zu wissen, was da so im Einzelnen zu erwarten war.

Hermann half fleißig beim Abladen. Als ich ihn bat, mir sein Leinensäck­chen zu überlassen, schaute er mich an, als ob ich dringend einen Arzt brauche. Trotz­dem ging er an seinen Werk­zeugkasten und händigte mir das Säckchen aus.

Jetzt durfte ich keine Zeit vergeuden. Wenn Hermanns Wagen abgela­den war, musste ich mit ihm zurück zu den Waggons. Also holte ich tief Luft und drückte dem Zivilisten dieses Säckchen und meine Bescheini­gung von der Rotkreuz-Dienststelle in die Hand, die mir erlaubte, mich in Belgrad frei zu bewegen .

"Chef, Sie müssen mir zwölfeinhalb Kilogramm Kakao für des Kinderheim des dritten Rejons abwiegen." Ich zeigte auf die Dezimalwaage, die gleich in seiner Nähe stand. - Briefkopf und Stempel meiner Bescheini­gung waren ohne Zwei­fel echt.

"Wieg es dir selber ab. Kannst ja wohl mit einer Waage umgehen."

"Ich wiege hier nichts ab. Wenn nachher etwas nicht stimmt, kriege ich mächtig Ärger."

Das sah er dann wohl ein. Ich half ihm beim Öffnen eines Spanfasses und holte die Schöpfkelle, die zur Lagereinrichtung gehörte, herbei. Ich hielt das Säck­chen auf, und der Alte schaufelte. Als der Boden des Säckchens soweit gefüllt war, dass man es auf die Waage stellen konn­te, legte ich die Gewichte auf. Sobald sich das vorgegebene Gewicht einstellte, hielt ich gewissenhaft seinen Arm zurück, der schon wieder eine gefüllte Kelle führte.

"Stop, stop, dosta, genug!" - Aber der Alte war nicht zu halten. Diese Schaufel kam noch dazu und das mit einem solchen Schwung, dass das Kakaopulver nur so hochwirbelte.

"Sa dete!" Für die Kinder! hat er damit sagen wollen.

Das Säckchen wurde zugebunden. Ich nahm meine Bescheinigung wieder an mich, und Her­mann verstaute unsere Zuteilung. Ich war mit dem Ergebnis ganz zufrieden. Dem Alten war Gelegenheit gegeben, sein Herz für Kinder zu zeigen. Nur Hermann wirkte etwas mürrisch.

Einige Tage später gab es sehr schlechte Nachrichten. Adolf kam zu mir und wirkte sehr nieder­geschlagen. Zuerst dachte ich, dass er von zu Hause schlechte Nachricht habe. Aber dem war nicht so. Ihm selbst ging es nicht gut. Unser Lagerarzt hatte ihn sofort von der Arbeit freige­stellt. Nun war er im Lag­errevier, wie man die Krankenstube nannte, untergebracht. Es ging das Gerücht um, dass in der nächsten Zeit wieder ein Krankentransport in die Hei­mat geplant sei. So hatten seine Freunde, und mit ihnen der ganze Chor, die Hoffnung, dass Adolf dann mit auf die Reise gehen würde. - Dieser Heimtrans­port kam tatsächlich zustande, aber dazu wäre noch einiges zu sagen.

Bis zu seinem Abtransport auf den Kalvarienberg, wo sich jetzt das zen­trale Entlassungslager befand, blieb mir Gelegenheit, ihn im Revier etwas zu ver­wöhnen. Wenn ich am Abend von der Rotkreuz-Dienststelle kam, war das Abendbrot für ihn dabei. Aber was für eins! - Neuerdings gab es Kakao, jede gewünschte Menge, dazu Meatpaste, Cornet Beef, Irish Stew und verschie­dene Sorten Fisch. Adolf durfte ruhig auf das eine oder andere einmal keinen Appetit haben; dann bekam er eben etwas anderes. Die Sanitäter schlichen um mich herum wie um eine Erb­tante. Adolfs Stimmung aber blieb gedämpft. Armer Kerl. 

Und dann war er weg, zum Kalvarienberg, wo auch für ihn das ganze Trauer­spiel vor Jahren begonnen hatte. Dieses Trauerspiel sollte noch nicht zu Ende sein.

Wilhelm Dignus hielt über die Lagerleitung Kontakt zum Entlassungslager. Wir wunderten uns, dass sich das alles so sehr dahinzog. Die Kerle da oben gehör­ten doch so schnell wie möglich in ärztliche Behandlung.

Als sich nach zwei Wochen immer noch nichts getan hatte, wurde es mir zu viel. Ich sah ständig Adolfs Gesicht vor meinen Augen. Was hatte ich für Mög­lichkeiten? - Ganz einfach betrachtet, überhaupt keine. -

Die Sache mit dem Kakao ging mir durch den Kopf. Aber natürlich! Meine schöne Bescheini­gung. Sie berechtigte zwar zu keiner Reise nach Zemun, aber so ganz nackt kam man sich mit dieser schön gestempel­ten Potwrda auch nicht vor. Jawohl, das war's! -

Das musste jetzt schnell gehen, bevor ich Bammel vor meiner eigenen Courage bekam. Zuerst brauchte ich Konserven. Eine ganze Packta­sche voll. Meine Kollegen, die Adolf inzwischen auch kannten, klauten alle mit. Gleich am näch­sten Tag wollte ich losziehen. Chiko erzählte ich etwas von heftigen Ohren­schmerzen. Ob ich einen Tag im Lager blei­ben könne. Aber das war ja das erste Mal, dass ich etwas zu bejammern hatte. Natürlich sollte ich mich mal einen Tag warm halten.

Am nächsten Morgen zog ich mein 'Bestes' über. Zu dieser dunkelblauen Kammgarnhose pas­send, besaß ich inzwischen auch recht ansehnliche, braune Halbschuhe. Das Oberleder war gelocht. Ein ausgesprochener Som­merschuh. Na, wer leistete sich hier schon Schuhe, die nur für den Sommer geeignet waren. In meinen Nachtschichten bei 'Voce i P˜vrce' hatte ich sie mir schon verdient. Aber davon werde ich ja noch erzählen.

Jetzt ging es erst einmal um Adolfs Verbleiben in Zemun. Um dorthin zu kom­men, fuhr man am besten mit dem Schiff. Den Weg zur Anlegestelle machte ich mit der Straßenbahn. Um mein Drehbuch zu ordnen, ließ ich erst einmal ein Schiff an- und ablegen. Man musste ja wissen, was dort bei den Landungs­brüc­ken auf einen zukam. Und das war auch gut so. Auch 1948 standen bei der Fahrscheinkontrolle zwei Uniformierte, die mich irritierten. Die blaue Farbe ihrer Kra­genspiegel mochte mir nicht gefallen. Man kannte sich inzwi­schen aus. Also, wie sollte ich die Sache anpacken? Ich merkte mir vom Fahrplan die nächste Abfahrt nach Zemun und fuhr mit der Straßenbahn wie­der ein Stück stadteinwärts.

Pünktlich zum Ablegetermin ließ ich mich mit einem Taxi direkt bis an die Anle­gebrücke kut­schieren. Dem Fahrer gab ich etwas ausgeholt ein Trinkgeld, dass er die Hand an die Mütze legte. Dann bin ich mit hocher­hobener Kappe an die­sen Uniformierten vorbei. Wenige Minuten später lag ich auf dem Oberdeck in einem Liegestuhl und dankte meinem Schutzengel, dass er an dieser Aktion auch Gefallen fand. So machte ich nach vielen Jahren wieder einmal eine Schiffstour, was diesmal allerdings kein reines Vergnügen war.

Jetzt wollte ich es auch schnell hinter mich bringen. Als das Schiff in Zemun anlegte, machte ich mich im Eiltempo hinauf zum Kalvarien­berg.

Als der Wachposten am Lagertor mein Rotkreuz-Papier sah, hat er es sich nicht einmal genauer angeschaut. Womöglich war ich sogar irgend so ein 'Internationaler'. Bei meinem Aufzug und meinem Auftreten sowieso. Die Idee, ihn auf englisch zu begrüßen, war vielleicht etwas überzo­gen, mir aber momen­tan auf die Zunge gelegt. Also marschierte ich in ein Entlassungslager.-

Heute mag man da nicht allzu Besonderes bei finden. Damals hätte ich diese Story niemandem zu erzählen brau­chen.

Adolf zu finden, war so schwierig nicht. Es waren nur zwei Baracken belegt. Gefunden habe ich ihn aber außerhalb, auf einer frisch eingesä­ten Böschung. Dort lag er auf dem Bauch, sein Gesicht in die ver­schränkten Arme vergraben.

"He Adolf, hast du einen Augenblick Zeit?"

Adolf nahm seinen Kopf hoch. - Aber das konnte doch nicht sein. Dann lagen wir uns in den Armen. Hier auf dieser Böschung gefiel es mir gut. Da konnte man ohne Sorgen reden. Also bat ich Adolf erst einmal, seine Marschverpfle­gung wegzustecken. Er begriff das aber alles noch nicht.

Dann erzählte Adolf von den Vorgängen hier auf dem Kalvarienberg. Das war eine Schande und ein Skandal zugleich:

Im Abstand von wenigen Tagen kam jeweils eine Abordnung unserer ANTIFA  'im Auftrage des Innenministeriums' und verlas vor angetretener Mannschaft die Entlassungslisten. Am Ende stellte sich heraus, dass etwa fünfundzwanzig bis dreißig Mann nicht auf dieser Liste standen. Die Sache sollte überprüft werden. Mit dieser Erklärung zogen diese Gal­genvögel wieder ab.

Bei der nächsten Segnung waren vielleicht zwanzig von diesen fünfund­zwan­zig gelistet. Jetzt fehlten ganz andere Aspiranten, die bei dem letz­ten Entlas­sungs­appell noch aufgerufen wurden. Aber nicht der gering­ste Grund zur Panik. Das wurde gewissenhaft überprüft.

So ging das eine Woche. Nicht anders in der zweiten. Da standen sie wieder, diese selbster­nannten Götter, jene Herren über Leben und Tod, die wir doch noch so wach in Erinnerung hat­ten. Und es machte wohl noch die gleiche Freude.

*

Jetzt will ich aber von meiner einträglichen Nachtarbeit bei 'Voce i P˜vrce' berichten. Wenn mein Einsatz gefragt war, fuhr beim Roten Kreuz ein Liefer­wa­gen vor, der mich zum Güterbahnhof brachte. Diese klapprige Kiste wurde von einer jungen Frau kutschiert, an der nun wirk­lich gar nichts klapperte. Sie war ausgesprochen hübsch, wirkte auf mich sehr gepflegt und sprach ein tadelloses Deutsch. Aber wie kam sie auf den Bock dieser alten Mühle?

Ihr Vater besaß vor und noch während des Krieges ein namhaftes Export-Unternehmen. Auch er handelte mit Obst und Gemüse, das er aber in Konser­ven verarbeiten ließ. Vor zwei Jahren ungefähr hatte die OZNA Vater und Mut­ter zugleich abgeholt. Sie waren hier irgendwo in Bel­grad eingesperrt. Die junge Frau war froh, dass ihre Eltern noch leb­ten. Der alte FORD war ein Relikt aus dem elterlichen Betrieb. Mit diesem Vehikel stand sie nun den neuen Her­ren zu jeder Tages- und Nachtzeit zu Diensten.

Diesem Monstrum von Lastwagen und ihrer bedingungslosen Arbeitswil­ligkeit glaubte sie es zu verdanken, dass sie nicht auch inhaftiert war. Das war jeden­falls ihre Überzeugung, und da mochte etwas dran sein.

Ich sagte ihr, dass ich Peter heiße und im Lager 'Pit' gerufen würde. Aber nein, dieses Pit gefiel ihr absolut nicht. Sie sagte 'Peder'. So, wie sie es sagte, gefiel mir Pit auch nicht mehr.

Mit einem so hübschen Wesen zu nächtlicher Stunde durch Belgrad zu kut­schieren, weckte Empfindungen, die sich heute kaum mehr beschreiben las­sen. Sie war ja nicht nur schön. Sie hatte eine Ausstrah­lung und auch einen Geruch wie eine Verheißung. Ich habe mich die­sen Empfindungen hingege­ben, in der glücklichen Vorstellung dessen, was mir wohl bald bevor­stand. So hatte ich überhaupt keine Hemmun­gen, ihr gutes Aussehen festzustellen. Und sie? - Sie hatte ihre Freude daran. Sie spürte wohl auch, dass mir der Sinn nicht nach Abenteuern stand.

Was uns erwartete, zeigte sich schon bald auf dem Güterbahnhof. Da standen Waggons, vollbe­laden mit Zwetschgen, Zwetschgen und nichts als Zwetsch­gen. Sie waren in morschen Kisten verpackt. Man musste sie schon etwas vor­sichtig aufnehmen; aber nicht nur des morschen Hol­zes wegen. Die Wespen, die sich tagsüber auf den Zwetschgen gutgetan hatten, waren über einer eintö­nigen Bahnfahrt wohl eingeschlummert. Sie hatten sich am liebsten da nieder­gelas­sen, wo man die Kisten anzu­fassen gedachte. Rücksicht kannten sie auch nicht. Sie stachen sofort zu. - Alle Welt war gegen uns!

Dieses Zwetschgenverladen dauerte etwa eine Woche. So Nacht für Nacht war mir das eigent­lich etwas viel. Andererseits brachte mir das natürlich umso schneller die erforderlichen Mone­ten. Mittlerweile freute ich mich aber auch etwas darauf, wenn am späten Abend der alte FORD ans Haus fuhr und DANA mich freundlich begrüßte. DANA, das ist die Kurzform des slawischen Namens Bogdana. Das hat sie mir aber auch erst erklären müssen.

Tagsüber ließ ich mir lustige Geschichten einfallen. Meistens musste meine Sofioter Zeit dafür herhalten, denn was hatte ich vorher schon erlebt? Aber der Stoff ging mir so schnell nicht aus. Dana lachte gerne, doch wer tut das nicht. Bei Zwetschgen, Wespen und lustigen Geschich­ten vergingen die Stunden zwischen Güterbahnhof und Markthalle wie im Fluge.

 

*

Hermann machte mich darauf aufmerksam, dass er in den nächsten Tagen eine Fahrt nach Zemun auf dem Plan habe. Er fragte mich, ob ich dann mitfah­ren wolle. Aber ja, das war doch eine Gelegenheit, Adolf noch einmal zu sehen. Die armen Kerle hingen immer noch da oben auf dem Kalvarienberg fest.

Hermann forderte mich als Beifahrer an, was keine Schwierigkeiten bereitete. Eine Packtasche mit Konserven hatte ich auch schnell bei­sammen. So konnte es also losgehen.

Ehe wir vom Hof fuhren, bin ich schnell noch einmal in die Unterkunft und habe mir in aller Eile meinen Sommerchic angezogen. Das waren für diese Unter­nehmung notwendige Requisiten.

Hermann brachte mich in Zemun bis ans Lagertor. Dann erledigte er seine dienstlichen Besor­gungen. Es sah nicht schlecht aus, mit einem Rotkreuz-Wagen vorzufahren, auch wenn dies ein LKW war. Ich konnte wieder ohne Schwierigkeiten das Lagertor passieren. Aber dann erschrak ich mich doch fast zu Tode. - In dem Augenblick, als der Wachmann das Lagertor wieder hinter mir verschloss, öffnete sich die Tür der Wachstube, und der Wachoffizier trat heraus. Ach du lieber Himmel! Jetzt durfte nichts schief gehen. Das Beste war, wenn ich am Zuge blieb. Also marschierte ich forsch auf den Wachoffizier los, grüßte ihn respekt­voll und fragte ihn nach dem Dienstzimmer des Lagerlei­ters. Ich hätte bei ihm im Auftrag des Zentralausschusses ein Akkor­deon abzuho­len, das im Rahmen eines Chorkonzertes benötigt werde.

Der Offizier erklärte mir freundlich, wie ich zur Lagerleitung hinfände. Dann gin­gen wir beide unserer Wege. Das heißt, ich ging nur bis zur nächsten Baracke. Dann schlug ich einen Haken und sah zu, dass ich schnell zu Adolf hinkam.

Der Schrecken saß mir noch so in den Gliedern, dass ich mich bei ihm nur kurz aufhielt. Jetzt fehlte nur noch, dass dieser Offizier dem Lagerfüh­rer über den Weg lief. Dann war ich aufge­schmissen. Nein, ich hatte keine Ruhe mehr;  nur schnell wieder weg von hier.

Im halben Berg wartete ich auf Hermann und seinen LKW. Von meiner Begeg­nung mit dem Offizier erzählte ich ihm nichts. Wenn man es sich so recht bedachte, hatte ich auch ihn mit die­sem Exkurs in Gefahr gebracht. Also nie wieder. -

Das war auch nicht mehr notwendig. Die Nachricht, dass Adolf und die übrigen Kranken in die Heimat abgedampft seien, erreichte mich und unseren Chor noch in der gleichen Woche.

*

Tage später wurde ich wieder zum Nachtdienst bestellt. Es waren große Men­gen Wassermelo­nen auszuladen. Wer mochte mich wohl am Abend mit dem Wagen abholen? - Aber wer sollte das schon sein. Dana begrüßte mich in bester Laune. Ich glaube, so ein ganz klein bisschen mochte sie mich wohl - oder meine lustigen Geschichten.

Bei den Wassermelonen machten wir es so, dass Dana mit der Ladeflä­che ganz dicht an den Waggon zurücksetzte. Als ich dann die breite Ladeklappe zur Seite schob, kullerten diese dicken Dinger schon munter auf unseren LKW.

Beim weiteren Umladen machten wir eine merkwürdige Entdeckung. Da musste jemand zur frü­hen Jahreszeit mit einer Nadel Adressen in die Melo­nenschalen geritzt haben. Jetzt, wo diese Früchte ausgewachsen waren, hat­ten sich diese Schriftzeichen entsprechend vergrößert und waren auf dem dunkelgrünen Untergrund hellgrau vernarbt. Es waren immer zwei Frauenna­men und die Anschrift eines Arbeitslagers bei Panschevo. Immer die gleichen Namen.

Wir konnten jetzt natürlich nicht alle Melonen auf solche Markierungen unter­su­chen. Trotzdem hielten wir beide die Augen offen. Als wir den Waggon umgela­den hatten, waren uns etwa ein halbes Dutzend dieser gekennzeichne­ten Melonen in die Hände gefallen. Dana hatte sie ins Führerhaus gepackt. Ich wollte sie am Morgen in die Unterkunft mit­nehmen. Auf Danas Frage, was ich damit vorhabe, werde ich wohl etwas großmäulig eine Aktion angedeutet haben.

"Peder, du bist verrückt!"

Als wir uns an diesem Morgen voneinander verabschiedeten, war nicht damit zu rechnen, dass wir uns noch einmal wiedersehen würden. Also dann:

"Dana, halt die Ohren steif!"

"Na klar, und du sieh' zu, dass es bald nach Hause geht."

Diese Melonenstory war natürlich für uns alle was. Panschevo, das war ja nur eben über die Donaubrücke.

Unsere konkreten Entlassungsaussichten, die Repatriierungs-Organisation lief auf Hochtouren, in dieser glücklichen Erwartung trieb es uns noch einmal zu gewagter Wohltätigkeit. Was man aus diesen Arbeitslagern hörte, das hatte auch 1948 noch wenig mit dem 'Sloboda narodu', mit der Freiheit des Volkes gemein.

So saßen wir am Abend in der Runde und stierten auf diese abenteuer­lich inspirierenden Melo­nen. Jeder hatte seine schrecklichen Vorstellun­gen vor Augen, die zu diesen Hilferufen geführt haben konnten. Aber wir wollten ja jetzt keinen Krimi schreiben. Wir wollten etwas Konkretes tun. Oder? -

"Na klar tun wir was." Das sagte Hermann, der wusste, dass sich ohne sei­nen LKW überhaupt nichts tat.

"Und was machen wir?"

"Weiß ich noch nicht."

Beim Sinnieren kam mir Toni Schäfer in den Sinn. Wie war das doch noch? Er hatte sich ein­schließen lassen und dann die Kollektion zusam­mengestellt. Das war doch genau unser Pro­blem. Also gab ich Tonis soziales Engagement zum Besten. Zuerst wurde darüber nur gelacht - und dann gesponnen.

"Wir könnten ja so etwas nur tagsüber auf die Beine stellen."

Für Hermann war die Transportfrage offensichtlich schon kein Problem mehr. Aber wie kam man an dieses Gelumpe. Ich brachte meinen Vorschlag. Durch meine Nachtschichten bei 'Wtsche i Powtsche' musste jedem einleuchten, dass ich mit einer Menge Schlaf im Rück­stand war. Was würde man also davon halten, wenn ich mich im Textillager ein­schließen ließe und zwei ansehn­liche Kollektionen Damenober- und -unter­be­kleidung zusammenstellen würde. Da brauchte Hermann mit dem LKW nur gegen die Oberlichter zurück­zuset­zen, und die beiden Pakete ent­gegenneh­men.

Hermann fiel auch nichts besseres ein. Wie sollte es auch. Mir wäre sol­ches auch nicht in den Sinn gekommen, wenn ich nicht diese 'Vorbilder' gehabt hätte.

Machten wir es gleich. Morgen wollte ich mich am Nachmittag ein­schließen las­sen. Hermann würde laden. Ein Abstecher nach Panschevo war immer drin. So ist es auch gelaufen. Ich packte zwei gut sortierte Pakete und übertrug die Melonen-Adressen. Nur wollte ich im Textilla­ger nicht übernachten. Als unsere Beschaffungsphase abgeschlossen war, telefonierte Her­mann mit Chiko auf dessen Privatenschluss. Chiko wohnte weit draußen, am Avala.

Chiko machte sich sogleich auf den Weg zurück in die Uliza Simina. Ich weiß nicht, ob er wütend war. Jedenfalls hörte ich ihn mit seinem Jeep vorfahren, und wie er sich dann kurz mit Hermann unterhielt, der ihn lediglich darüber informiert hatte, dass ich nicht auffindbar sei.

Chiko schloss das Magazin auf. Natürlich hatte er mich bald entdeckt. Ich war ihm dabei durch vernehmliches Schnarchen behilflich. Dann hörte ich flüstern und wenig später Wasser in ein Gefäß laufen. Da wusste ich schon Bescheid. Wenn ich das Wasser ins Gesicht bekam, hieß es die Luft anhalten.

Chiko hatte seinen Spaß. Mir hat er meine Schlafmützigkeit nicht weiter übel­genommen. Wie gut, wenn man nicht alles weiß.

Den Rest hat Hermann ganz allein besorgt. Ihm steckte immer noch die Sache mit dem Kakao. Direkt an der Front wollte er mich nicht mehr haben. Und ich habe mich nicht aufgedrängt.

Wie Hermann hinterher berichtete, hatte er diese Aktion absolut 'geschäfts­mäßig' abgewickelt. Es war auch nicht das erste Mal, dass er mit die­sem Lager zu tun hatte. In dieses Frauenlager hatte er schon eini­ge Male Lebensmittel abzuliefern gehabt. Wir wollten natürlich wissen, ob er diese bei­den Frauen zu Gesicht bekommen habe. - Na, es war doch klar, dass er sich den Emp­fang der beiden Pakete in seiner Kladde quittieren ließ. Nein, ange­schaut hat er sich die Frauen nicht. Das war typisch Hermann.

Der Gefangenenchor des Donaulagers war mittlerweile im Belgrader Kulturle­ben eine feste Größe. Wir sangen längst nicht mehr nur für unsere gefange­nen Kameraden. Wir traten in der breiten Öffentlichkeit auf, in großen Sälen, vor anspruchsvollem Publikum. Von unserem Abschieds­konzert für den 'Klub Deut­scher Schaffender' besitze ich noch ein ver­gilbtes Pro­grammexemplar.

Vier Tage später standen wir auf der größten Kinobühne des Belgrader Corso, der Terasia. Hier gaben wir in unseren eingefärbten Ami-Jacken, die inzwi­schen unser Markenzeichen waren, unser letztes Konzert vor der Belgrader Bevölkerung.

Statt dem sonst üblichen Madrigal- und Volksliederteil brachten wir aus­schließ­lich Chöre großer Meister zum Vortrag. Höhepunkt war ohne Zwei­fel der Gefangenenchor aus dem 'Fidelio'. Mit einer solchen Ergriffenheit wird man die­sen Chor nie zuvor aufgeführt haben. Wir sangen und wein­ten in eins.

 

Oh welche Lust,

in freier Luft den Atem leicht zu heben.

Nur hier, nur hier ist Leben!

Haltet euch zurück,

wir sind belauscht mit Ohr und Blick!

 

Oh welche Lust!

 

***

Fortsetzung: Entlassung und Heimkehr

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