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Meine Zeit in Unterdickt

erzählt von Elisabeth Dorothea Krämer

Als Buch erschienen im Andrea Stangl-Verlag und hier erhältlich.

Unterdickt

Meine ersten Lebensjahre

Als Kind war ich immer stolz darauf, in einem Schloss geboren zu sein. Nicht etwa, dass meine Eltern ein solches besessen hätten. Sie wohnten dort vorübergehend, da das alte Forsthaus, die Dienstwohnung meines Vaters, renoviert und modernisiert werden musste. Ich besitze heute noch vergilbte Fotos von diesem Schloss, an das ich mich sonst nicht mehr erinnern könnte. Denn meine Eltern zogen wieder um, als ich kaum zwei Jahre alt war. Wenige Jahre später wurde dieses Schloss abgerissen, weil die Fundamente feucht waren. Zum geplanten Wiederaufbau ist es nie mehr gekommen, weil Inflation, französische Besatzung und politische Wirren wohl solche Pläne zunichte machten. So standen etliche Jahre nur noch die Kellergewölbe, die immer etwas geisterhaftes für uns an sich hatten. Dann waren da noch die ehemals so gepflegten Anlagen und Gärten, die aber jetzt, wo sie verwilderten, ganz besonders reizvoll für mich waren. Kein Obst schmeckte so herrlich, wie die �pfel und Birnen aus dem "Villas Garten". Und wir Kinder durften dort nach Herzenslust plündern.

Im Frühling schaute ich nach den ersten Schneeglöckchen, den duftenden Märzveilchen und Narzissen; und während diese Kostbarkeiten im Garten am Forsthaus gehegt wurden und nur zum Anschauen da waren, durfte man im alten Garten auch einmal einen Strauß pflücken und in die Vase stellen.

Es verging bei gutem Wetter kaum ein Tag, an dem ich nicht zur "alten Villa", wie es später hieß, hinüberging, um dort zu spielen, zu schauen und zu träumen. Der Fußweg betrug nur fünf Minuten. Ich war also immer in Rufweite. Ein beruhigendes Gefühl für meine Eltern und auch für mich.

Aber was hätte schon passieren können. Außer den Arbeitern am Haus, die je nach Jahreszeit mal in den Stallungen, mal auf dem sechzig Morgen großen Acker oder im Wald beschäftigt waren, bekam man kaum einen Menschen zu sehen. Autos waren damals eine Seltenheit, und wenn ein oder zweimal in der Woche ein solches Vehikel auftauchte, rannten wir los, um diese Sehenswürdigkeit nicht zu verpassen. Hin und wieder machten wir uns auch einen Spaß daraus, den Staub der Schotterstraße, Asphalt gab es damals noch nicht auf solchen Nebenstrecken, den Staub also zusammenzukehren und möglichst hoch aufzutürmen. Wenn dann ein Auto kam, musste es durch diese kleinen Dünen fahren. Wir lagen irgendwo auf der Lauer und hatten unseren Spaß, wenn der Fahrer schimpfend hinter dieser Staubwolke verschwand. Wir, das waren mein um vier Jahre jüngerer Bruder und die beiden Söhne der Schweizerfamilie, die inzwischen in eine eigens dafür hergerichtete Wohnung eingezogen war. Ihr oblag die Verwaltung der Landwirtschaft und des Viehbestandes. Ich hatte noch drei ältere Geschwister, die aber schon die Schule besuchten und uns jüngere etwas beaufsichtigen konnten. Stets wollte ich Märchen vorgelesen haben. Bücher waren und blieben meine große Liebe.

Mit der Renovierung der Gebäude wurden auch große Stallungen errichtet, so dass außer der Försterei ein Gutsbetrieb unterhalten wurde. Neben zwei Kühen, die unserer privaten Pflege und Nutzung oblagen, gab es im Gutsbetrieb vierzig bis fünfundvierzig Kühe, Jungvieh und Kälber, zwei Pferde, Schweinezucht und Schweinemast. Wir Kinder lernten also nie Langeweile kennen, sondern turnten täglich zwischen Tieren, den Arbeitern, sowie in Scheune, Stall und auf dem Heuboden herum. Wir fuhren mit dem Pferdewagen auf den Acker, um dort herumzutollen.

Jede Jahreszeit hatte ihre schönen Seiten. Wenn die Kartoffeln geerntet wurden, durften wir im Holzfeuer, an dem die Arbeiter ihren Kaffee und das Mittagessen wärmten, frisch geerntete Kartoffeln braten. Wir sahen zwar beim Nachhausekommen aus wie die Mohren, aber welches Stadtkind weiß schon, wie herrlich solche Kartoffeln schmecken. Wenn es auf vollbeladenem Wagen, hoch oben auf den Säcken sitzend, nach Hause ging, war das ein erlebnisreicher Tag gewesen. Den Duft der Feuer, in dem das Kartoffellaub verbrannt wurde, habe ich heute noch in der Nase.

Eine besondere Attraktion für uns Kinder war auch die alljährliche Dreschzeit. Neben der Scheune, in der die reifen Garben bis unter das Dach gestapelt waren, befand sich ein Raum mit einem riesigen Dieselmotor. Einer der Arbeiter, der sich mit der Handhabung dieses Ungetüms auskannte, bereitete die Inbetriebnahme der Dreschmaschine vor. Und dann war es soweit. Die Sache funktionierte und wir Kinder schauten fasziniert zu, wie sich das Korn vom Spreu und Stroh trennte und wie ein Sack nach dem anderen sich prall füllte. Unter Aufsicht durften wir auch von der Tür aus den laufenden Dieselmotor bestaunen, wie sich die Räder und die breiten Lederriemen, die Tansmissionsriemen, drehten. Das war schon etwas Besonderes.

Einen bestimmten Teil dieser Schätze des Feldes bekamen meine Eltern jedes Jahr als Deputat, und zu keiner Zeit des Jahres roch es im Kartoffelkeller so gut wie im Herbst, wenn diese köstlichen braunen Früchte frisch eingelagert waren.

Einmal im Monat fuhr unser Pferdeknecht mit dem Pferdegespann zur Mühle, die etwa eineinhalb Wegstunden entfernt lag, um Korn mahlen zu lassen, denn Brot wurde selber gebacken. Der große Backofen befand sich in einem Anbau neben der Waschküche und wurde mit eigens dafür ausgesuchten Holzscheiten geheizt.

Im Herbst, wenn die �pfel reiften, durften wir Kinder uns einen besonders dicken, rotbackigen Apfel aussuchen. Vom Vater bekamen wir, wenn er die Brotlaibe formte, eine Teigkugel, die wir dann ausrollten, um den Apfel hineinzupacken. Das Ganze kam kurz in den Backofen, weil es ja viel schneller gar war als das Brot, und dann verzehrten wir diese Köstlichkeit. Mir läuft im Gedanken daran heute noch das Wasser im Munde zusammen.

Mein Vater hat es immer verstanden, uns Kinder an die Dinge in der Natur heranzuführen. Das brachte wohl auch der Beruf etwas mit sich. Wir durften ihn oft in den Wald begleiten, und dann machte er uns auf alles und jedes aufmerksam. Kein noch so unscheinbares Tierchen oder winziges Pflänzchen wurde übersehen und eingeordnet in den großen Ablauf der Natur.

Auch die Jagd empfanden wir Kinder nicht als eine rohe Willkür, sondern sie wurde uns erklärt als gesunde Regelung des Wildbestandes. An mein erstes Jagderlebnis erinnere ich mich noch ganz besonders gut. Mutter wollte gerne für den Mittagstisch am Sonntag einen Kaninchenbraten machen. Damals konnte man diese freilebenden Tiere noch mit Appetit essen. Sie waren noch nicht von Krankheiten befallen. Ich bekam also meinen kleinen Rucksack umgehängt und durfte mit Vater auf die Pirsch gehen. Es gab eine Unmenge wilder Kaninchen und Vater wusste genau, wo sie ihre Abendmahlzeit suchen würden. So war denn auch bald ein Tierchen zur Strecke gebracht. Es kam in meinen Rucksack, und ich durfte es nach Hause tragen. Ich war damals vier Jahre alt, das weiß ich ganz genau. Der Rucksack wurde immer schwerer. Aber dieses warme Gefühl in meinem Rücken habe ich mein Lebtag nicht vergessen.

Später ging ich dann öfter mit zur Jagd, im Herbst, wenn auf den Hirsch angesessen wurde oder im Winter, wenn die Sauen eingekreist waren. Manchmal musste ich auch vor Beginn der Jagd über die Büchse springen. Das sollte dem Jäger Glück bringen.

Das Erlebnis der Kaninchenjagd war nicht das Einzige, was sich mir im Alter von vier Jahren besonders einprägte. Doch hier muss ich zum besseren Verständnis etwas vorausschicken.

Ich, als damals noch jüngster Spross in der Familie, schlief in einem weißen Kinderbett im Schlafzimmer meiner Eltern. Die "Großen" hatten schon eigene Zimmer. Und wie das so ist. Ich als die Kleinste lag immer zuerst im Bettchen. So kam es manchmal vor, dass Vater noch gar nicht zu Hause war, wenn ich den anderen 'Gute Nacht' sagte. Doch ich wusste, wenn er aus dem Wald nach Hause kommt, schaut er noch bei mir vorbei und erzählt von seinen Erlebnissen. Von den Tieren, die er gesehen hat, von Blumen, Pflanzen, vom Mond, der schon am Himmel stand, und vieles andere mehr. Doch es gab ja auch nasse und stürmische Tage. Und wenn er dann davon sprach, wie Rehe, Hirsche und Hasen jetzt kein Dach über dem Kopf haben und kein warmes Bett, dann genoss ich so recht mein Geborgensein und kuschelte mich tiefer in die Kissen. Diese Gefühle vergisst man ein ganzes Leben lang nicht mehr.

Eines Tages spielte ich, wie so oft, im großen Schuppen, der getrennt vom Hof auf der anderen Straßenseite lag. Hier waren alle landwirtschaftlichen Geräte untergebracht, Leiterwagen, Pferdekarren, Pferdeschlitten, Pflug, Egge, kurz alles was ein Gutsbetrieb so braucht. Außerdem grenzte an den Schuppen ein Gebäude mit Räumen für Kunstdünger. Diese waren jedoch immer verschlossen. Darüber befanden sich noch Zimmer für die Lagerung von Winterfutter für das Wild. In jedem Herbst kam ein riesiger Sattelschlepper mit Kastanien und Eicheln, und diese wurden dann nach oben geschafft. Diese großen Mengen hielten uns Kinder aber nicht davon ab, jede Eichel, die von dem mächtigen Baum am Hoftor fiel, zu sammeln und zu den anderen zu tragen. "Für die Rehchen", versteht sich.

An diesem Tag, von dem ich sprechen will, beschäftigte ich mich wieder einmal mit Kastanien und Eicheln, als plötzlich meine älteste Schwester nach mir rief. Sogleich erfuhr ich auch den Grund, warum ich nach Hause kommen sollte: "Wir haben ein Brüderchen bekommen!"

Die Freude war natürlich groß. Ich wurde in das Schlafzimmer geführt, und da lag das winzige Menschlein; aber in meinem Bettchen! Das weckte in mir sehr widersprüchliche Gefühle. Einerseits die Freude über das Brüderchen, andererseits musste ich meine Ecke im Schlafzimmer der Eltern und mein Bettchen abtreten. Das kann in diesem Alter in einem Kinderherzen schon Welten bewegen. Was mich dann letzten Endes wieder in's Gleichgewicht brachte, war die Aussicht, von nun an in einem großen Bett schlafen zu dürfen; bei den "Großen" im Zimmer. Da machte sich natürlich ein gewisser Stolz breit. Doch hin und wieder überkam mich auch etwas Wehmut. Mit der Zeit jedoch gewöhnte ich mich an die neue Situation.

Wenn in der darauffolgenden Zeit das Brüderchen von einem der größeren Geschwister im Kinderwagen ausgefahren wurde, lief ich oft mit dem Puppenwagen hinterdrein. Doch fuhr ich nicht eine meiner Puppen spazieren. Aus meinem Wagen schaute ein Dackelkopf heraus. "Hexe", unsere brave Hündin, ließ das alles mit sich machen. Ich konnte sie sogar mit einem roten Steppdeckchen zudecken. Wenn ich mit meiner etwas merkwürdigen Fuhre ankam, gab es natürlich überall Gelächter.

Mit den Puppen spielen war mir zu langweilig. Da konnte man mit Tieren schon eine ganze Menge mehr anfangen. Doch ich erinnere mich, dass ich zu aller erst eine KätheKrusePuppe besaß. Die liebte ich über alles und schleppte sie ständig mit herum. Doch als diese im wahrsten Sinne des Wortes verschlissen und nach mehreren Reparaturen nicht mehr zu retten war, konnte ich mich nie mehr mit einer anderen Puppe anfreunden, so schön sie auch sein mochte. Da musste halt der Dackel in den Wagen. Und später kam noch "Waldi", ein Junges von ihr, dazu.

Nun besaßen wir außer dem Dackel noch einen größeren Jagdhund. Es war ein DeutschDrahthaar mit dem vornehmen Namen "Dora vom Unkeler Rabenhorst". Wie der Name vermuten lässt, war sie eine Hündin, gutmütig zu uns Kindern, was nicht ganz unwichtig war. Eines Tages kam es zu einem besonderen Erlebnis. "Dora" war Mutter von fünf kleinen Sprösslingen geworden. Eine meiner älteren Schwestern übernahm die Pflege und Aufzucht und hatte damit alle Hände voll zu tun. Ich trieb mich natürlich auch die meiste Zeit des Tages bei den Kleinen herum. Und als sie so groß geworden waren, dass sie allmählich an Ausgänge gewöhnt werden sollten, ging ich mit um zu helfen, wenn die Ausreißer eingefangen wurden. Sie blieben ja beileibe nicht brav auf dem Weg, sondern strolchten gerne abseits in die Büsche. Eine Aufsicht allein hätte Hände zu wenig gehabt, also konnte ich mich da schon nützlich machen.

Unter der quirligen Schar war einer, der eine lustige Angewohnheit zeigte. Er war in seiner ganzen Art etwas scheuer und wie es schien, braver als seine Geschwister. Bei solchen Ausgängen biss er sich immer an einen Zipfel der Schürze fest, die meine Schwester trug.

Er ließ sich einfach ziehen. Das war ein ulkiges Bild. Er zeigte sich auch sonst als der Anhänglichste von allen, und diese Zuneigung beruhte auf Gegenseitigkeit. Darum sollte er auch nicht verkauft werden, wie die anderen, sondern zu einem guten Gebrauchshund für die Jagd abgerichtet werden und meinem Vater als Diensthund zur Seite stehen.

Die übrigen Tiere sollten in gute Hände abgegeben werden. Und so wurde hier und dort unter Jagdkollegen gefragt, ob jemand einen Drahthaar gebrauchen könnte. Als dann die kleine Gesellschaft stubenrein und für eine Übergabe alt genug war, kamen Interessenten, um sich einen Hund auszusuchen.

Meine Schwester verkroch sich dann jedes mal im äußersten Winkel des Hauses, um nicht mit ansehen zu müssen, wenn eines ihrer Lieblinge den Besitzer wechselte. Mein Vater achtete darauf, dass der von uns Auserwählte nicht verkauft wurde.

Doch eines Tages wollte ein Interessent partout diesen Hund haben. Diesen oder keinen! Was meinen Vater bewogen hat, schweren Herzens zuzustimmen, weiß ich heute nicht mehr. Doch dass danach viele Tränen geflossen sind, daran erinnere ich mich noch genau.

Dem uns gebliebenen gaben wir den Namen "Treu". Doch schon nach kurzer Zeit stellte sich heraus, dass dieser Name nicht so recht zu ihm passte. Zwar ist er ein wirklich treuer Gefährte für meinen Vater und für uns alle geworden, doch sein Temperament, sein quirliges Wesen und seine Beweglichkeit veranlassten uns, ihn in "Renno" umzubenennen; denn rennen, das konnte er.

Zudem entwickelte er sich zu einem gut veranlagten Jagd und Wachhund, und seine Nase hat sich oft bewährt. Uns Kindern gegenüber war er äußerst gutmütig. Wir konnten mit ihm herumtollen, ob sanft oder unsanft. Das ließ er alles mit sich geschehen.

Ein kleines Erlebnis am Rande verdeutlicht dies vielleicht recht gut. "Renno", der den Tag im Zwinger verbrachte, wenn er nicht gerade "im Dienst" war, lag dösend in der Sonne, alle Viere von sich gestreckt. Eine Glucke mit Küken näherte sich dem Zwinger, und die Kleinen huschten durch die Gitterstäbe hinein, um einige Krümel vom Hundekuchen aufzupicken. Dabei stiegen sie auch sorglos und frech auf Rücken und Bauch von Renno herum und zupften völlig respektlos mal hier und mal da an seinem Fell. Als ihm das zu viel wurde, hob er ganz bedächtig den Kopf und schaute sich nach den Plagegeistern um; mit einer Mimik, als wollte er sage: "Nun laßt das endlich.".

Ganz anders benahm sich die Hauskatze den Küken gegenüber. Zu gerne hätte sie eines gefangen und versuchte sich immer wieder anzuschleichen. Doch die Glucke war auf der Hut, plusterte sich auf und ging gleich zum Angriff über, um ihre Kinder zu verteidigen. Dann wurde die Katze zum Feigling und suchte das Weite, so schnell sie nur konnte. Vor dem spitzen Schnabel der Kükenmutter und ihrer Angriffshaltung hatte sie viel Respekt.

Aber nicht nur bei den Hunden gab es Nachwuchs. Auch im Pferdestall ging es eines Tages aufgeregt zu, und Vater führte uns zu einem soeben geborenen Fohlen, das immer wieder versuchte, auf seinen wackeligen Beinen zu stehen. Wir gaben ihm den Namen "Fritz" und hatten es gleich in unser Herz geschlossen.

Nun konnten wir in den nächsten Wochen und Monaten miterleben, wie aus dem Pferdchen mit den viel zu langen Beinen ein wohlgestaltetes Pferd wurde. Wenn seine Mutter zu irgend einer Arbeit auf das Feld musste, trabte Fritz nebenher und vergnügte sich auf seine Weise.

Manchmal wurden auch die beiden Hoftore geschlossen und Fritz galoppierte rastlos herum, um sich auszutoben. Dabei schauten wir Kinder vom Fenster aus zu, und ich wunderte mich immer, wie er im letzten Moment vor einer Wand zum stehen kam, während ich schon dachte, er schaffte es nie und würde sich alle Knochen brechen. Da der Hof eine Länge von fünfzig und eine Breite von fünfunddreißig Metern hatte, war schon einigermaßen Platz zum Toben.

*

Der ganze Gutskomplex bestand aus einem Rechteck. Die Front zum Osten hin war unser Forsthaus. Daneben schlossen sich zum Süden hin die Kuhställe und der Pferdestall an und am Ende die Wohnung für den Schweizer. Nach Westen hin lag der Motorenraum und die Scheune. In östlicher Richtung befanden sich eine Milchküche mit Kühlraum, eine Wagenremise für zwei Kutschen und ein großer Schweinestall.

Von diesem Trakt war jedoch mit den Jahren das Lehmfachwerk so brüchig geworden, daß es erneuert werden musste. So rückte eines schönen Tages eine Maurerkolonne an, um diese Arbeit in Angriff zu nehmen. Sie wurde geleitet von einem "Polier", einem kleinen, temperamentvollen Mann, der ständig hinundher rannte und seine Augen überall hatte. Ich sehe ihn noch heute vor mir als kleine, weiße Gestalt, denn sein heller Overall, Gesicht und Hände, ja sogar die ehemals schwarzen Arbeitsschuhe hatten von der Tätigkeit mit Kalk und Mörtel die gleiche Farbe.

Nun sollte just in jenen Tagen der alte Stier verkauft und gegen einen jungen ausgetauscht werden. Ein entsprechender Lastwagen mit Rampe sollte das Tier abholen. Diese Rampe, über die der Stier in den Wagen steigen sollte, wurde vorsorglich mit Stroh belegt, und man vermied im Umgang mit dem Stier jede Hektik, um ihn nicht nervös zu machen. Der Arbeiter, der ihn alle Tage versorgt hatte, der also ein guter Bekannter für ihn war, sollte ihn zum Auto führen. Erst schien auch alles gut zu gehen, und alle, die sich am Hof aufhielten, schauten aus respektvoller Entfernung zu. Als der Stier jedoch die Rampe empor gehen sollte, wurde er misstrauisch und bewegte sich nicht mehr von der Stelle. Mit Gewalt aber war bei einem so großen, starken Tier nichts zu machen. Also führte man ihn zurück in den Stall an seinen angestammten Platz, damit er sich erst einmal beruhigte. Danach wurde die ganze Prozedur wiederholt, doch einmal misstrauisch geworden, ging er auch dieses Mal nur bis zur Rampe und war nicht weiterzubewegen. Also wieder zurück in den Stall.

Ich hatte aber nicht nur das Geschehen um den Stier beobachtet, sondern auch den immer zappeliger werdenden Polier. Aufgeregt tanzte er hinter einer halb geöffneten Tür herum, gab hin und wieder seinen Kommentar ab und schien vor lauter Energie fast zu explodieren.

Jetzt stand er mit in der Beratungsrunde und machte seine Vorschläge. Sein sonst so blasses Gesicht war hochrot angelaufen. Er war ganz in seinem Element. Irgend jemand machte dann den Vorschlag, dem Tier mit einem Sack die Augen zu verbinden, um es so in den Wagen zu führen. Mit einiger Mühe schaffte man es auch, den Sack an den Hörnern gut zu befestigen. Nun wurde der nächste Versuch unternommen. Doch man erreichte damit genau das Gegenteil von dem, was man erreichen wollte. Statt zahmer zu werden, wurde der Stier plötzlich wild und rannte los. Alle brachten sich schleunigst hinter irgend einer Tür in Sicherheit. Doch nun versuchte das Tier den Sack loszuwerden und wurde immer aufgeregter. Mal rannte es gegen eine Wand, mal gegen das Auto, welches mitten im Hof stand.

Zwischendurch blieb der Stier immer wieder schnaubend stehen und in solchen Augenblicken versuchte der Polier sich heranzuschleichen. Seiner Meinung nach musste dem Wüterich doch beizukommen sein. Aber das aufgeregte Tier witterte sogleich jede Annäherung, und dann nahm der wackere Mann die Beine in die Hand und rannte so schnell er konnte in Sicherheit. Am Ende setzte sich der Stier in Richtung Scheune in Bewegung, drückte beim Aufprall ein Fachwerk ein und konnte nun nicht mehr vorwärts noch rückwärts. Das war die Gelegenheit, den Sack von den Augen zu nehmen. Nachdem das total verausgabte Tier ohne fremde Hilfe an seinen Platz im Stall getrabt und dort angebunden war, musste der Lastwagen unverrichteter Dinge wieder wegfahren.

Ein paar Tage später brachten Arbeiter den Stier ohne Auto an seinen Bestimmungsort. Das war zwar ein Fußweg von drei Stunden, doch lange nicht so aufregend und anstrengend, wie das Verladen auf einen Viehtransporter.

Noch tagelang sprach der Polier von nichts anderem als vom Verladen des Stiers: Ja, wenn man es so oder so gemacht hätte ... , und dabei geriet er immer wieder in helle Aufregung. Es hatte zu komisch ausgesehen, wenn er sich wagemutig anschlich und dann, so schnell es die kurzen Beine erlaubten, in Sicherheit brachte.

Doch eines Tages hatten die Maurer ihr Werk vollendet und nun kam der Malermeister. Das Fachwerk musste geschwärzt werden, die Klappläden bekamen einen schönen grünen Anstrich; und weil der gute Mann schon einmal da war, wurde auch so manches andere frisch getüncht.

Da wir Kinder wenig fremde Gesichter zu sehen bekamen, war uns jede Abwechslung sehr willkommen. Wir schauten dem Meister zu, unterhielten uns eifrig und hatten schnell herausbekommen, dass er ein äußerst gutmütiger Mensch war.

Er mischte seine Farben selber und hatte, wohl der besseren Übersicht wegen, die Farbtöpfe und Pinsel auf einer Treppe stehen, auf jeder Stufe eine andere Farbe.

Heutzutage haben solche Handwerker alle ein Auto, mit dem sie nach getaner Arbeit nach Hause fahren. Damals bestand diese Möglichkeit jedoch noch nicht. So kam es, dass der gute Mann zwei Wochen lang bei uns wohnte, mit Familienanschluss sozusagen, oder mit "Kost und Logis", wie man es nannte.

Eines Mittags saß unser Meister also beim Mittagessen und unterhielt sich anschließend noch ein Weilchen mit meinem Vater. Mich aber zog es magisch zu den Farbtöpfen. Nachdem ich zugeschaut hatte, welch interessante Farbtöne der Meister gemischt hatte, begann auch ich damit, den roten Pinsel in die grüne, oder den gelben in die braune Farbe zu stecken und auf einem Brett zu probieren, was dabei herauskam. Bevor der gute Mann auftauchte, brachte ich mich jedoch in Sicherheit, denn ich ahnte wohl, dass er mit meinen Versuchen nicht ganz einverstanden war.

Das fand ich dann auch bestätigt, als ich ihn plötzlich fürchterlich schimpfen hörte. Von dieser Seite hatte ich ihn noch gar nicht kennen gelernt. Aber wen wunderte es. Heute sehe ich das ein. Ich weiß nicht mehr, ob die eine oder andere Farbe noch zu retten war, oder ob der eine oder andere Anstrich einen etwas merkwürdigen Farbton erhielt. Dicke Freunde waren wir am Ende aber doch wieder.

*

Eine besonders gute Freundschaft verband mich mit dem Kutscher, der die Pferde betreute, die Feldarbeit verrichtete und ansonsten Mädchen für alles war. Wie lange er schon am Hof arbeitete, kann ich nicht mehr sagen. Er war einfach immer da.

Pünktlich jeden Morgen schob er sein Fahrrad in die Remise. Bei jedem Wind und Wetter, Sommer wie Winter, war er zur Stelle. Dabei musste er einen Anmarsch von einer Stunde auf sich nehmen und dies auf zum Teil recht holprigen Waldwegen. Die Straße entlang wäre die Strecke noch weiter gewesen. Später habe ich das aufrichtig bewundert, doch damals war alles um ihn selbstverständlich.

Wenn die Pferde am Morgen gefüttert waren, kam er zur Absprache zu meinem Vater, falls der Arbeitsplan nicht schon vorher festgelegt worden war. Doch manchmal musste auch etwas geändert werden, weil zum Beispiel das Wetter einen Strich durch die Rechnung machte.

In der Landwirtschaft hängt sehr vieles vom Wetter ab. Im Frühling und Sommer gab es alle Hände voll zu tun, ganz zu schweigen vom Herbst, der Erntezeit. Wenn das Heu eingefahren wurde, saßen wir Kinder mit auf dem großen Leiterwagen. Während die Männer aufluden, vertrieben wir mit Laubästen die lästigen Stechfliegen, die den Pferden keine Ruhe ließen und zu einer echten Plage werden konnten. Dass man dabei selber auch Stiche abbekam, störte wenig. Man hatte nur das Wohl der Tiere im Sinn.

Wenn später die Felder abgeerntet, umgepflügt und die Wintersaat ausgebracht war, wurde der Arbeitstag etwas ruhiger. Die Pferde wurden mit Dingen beschäftigt, für die vorher keine Zeit war. Dazu gehörte auch das Herbeischaffen von Brennholz, damit es gut ablagern konnte. Mindestens ein Jahr lang blieb es liegen, bevor es mit der Kreissäge, die auch vom Dieselmotor angetrieben wurde, in Stücke zersägt und zum Spalten in den Holzschuppen gefahren wurde. Zentralheizung gab es damals im Forsthaus noch nicht. In der Küche stand ein guter alter Gussherd, an dem seitlich ein sogenanntes "Wasserschiff" mit Deckel angebracht war. Ihm konnte man täglich immer heißes Wasser entnehmen. Es fasste etwa zwanzig Liter.

Abends vor dem Zubettgehen, bevor die letzte Glut im Herd verlosch, legten wir einige Tannenzapfen in den Backofen. Diese trockneten bis zum Morgen, so dass sie wie Zunder brannten. So entfachte man im Handumdrehen das Feuer im Herd, oder auch in einem der anderen Öfen. Hinzu kam noch, dass sich ein angenehmer Geruch von Harz und Holz im Haus verbreitete, den man heute eigentlich nur noch auf dem Lande kennt.

Doch erst einmal zurück zu unserem Kutscher, der von allen, auch von uns Kindern, nur mit seinem Vornamen Josef angesprochen wurde. Zu seiner Beschäftigung im Winter gehörte auch das Ausbessern der Waldwege und der Zäune. Doch es gab Tage, wo dies nicht möglich war, denn damals gab es noch Winter mit viel Schnee. Dann bewegte Josef am Morgen erst einmal die Pferde, indem er mit ihnen ausritt, denn länger als einen Tag dürfen diese Tiere nicht untätig im Stall stehen. Wir hatten damals eine Pferderasse, die etwa ein Mittelding zwischen Ackergaul und Reitpferd war, aber mehr zum Reitpferd tendierte. Sie hießen Max und Olga, wobei Olga, die Stute, auch ab und zu vor die Kutsche gespannt wurde.

Natürlich gab es an Wintertagen auch manches in Haus und Hof zu tun. Reparaturen waren fällig. Die Wildfütterung musste ausgebracht werden, und oft waren wir dabei mit von der Partie.

An manchen Tagen jedoch saß Josef im Arbeiterraum, der eigens für die Helfer eingerichtet war. Darin befand sich ein großer Küchenherd, auf dem sich die Arbeiter das mitgebrachte Essen und den Kaffee wärmten. Ferner war da ein langer Tisch, mit jeweils einer breiten Bank davor und dahinter, worauf man in der Mittagspause auch einmal ein Schläfchen halten konnte. Einige bequeme alte Stühle standen noch herum und an einer Wand befanden sich Haken für die Kleidungsstücke, die im Laufe des Jahres nicht selten einmal getrocknet werden mussten. Wer draußen in der Natur arbeitet, der wird auch hin und wieder nass. In diesem warmen, behaglichen Raum nun saß Josef an manchen Tagen im Winter und band Reisigbesen aus Birkenzweigen oder flocht Körbe für die Apfel oder Kartoffelernte. Dabei erzählte er uns Kindern allerlei Geschichten, und wir saßen oft bei ihm, bis die Dämmerung hereinbrach und er sich auf den Heimweg machte.

Um von diesem Raum aus sein Fahrrad aus der Remise zu holen, musste er am Zwinger von Renno vorbei. Dieser gebärdete sich dann immer ganz wild und verbellte ihn wie einen Fremden, den er noch nie gesehen hatte. Das Gleiche spielte sich am Morgen ab, wenn Josef zur Arbeit kam, und das habe ich eigentlich nie verstanden. Natürlich war Renno nicht zu allen freundlich und anhänglich wie zu den Mitgliedern unserer Familie. Schließlich fungierte er nicht nur als Jagdhund sondern auch als Wachhund, und da war er wirklich unübertroffen. Ging draußen auf der Straße jemand vorbei, spitzte er zwar die Ohren, meldete sich aber nicht. Blieb der Betreffende jedoch stehen, gab es sofort ein lautes Gebell. War es jemand aus der Familie, stand er wartend da, wackelte mit seinem Stummelschwanz und freute sich auf die Begrüßung. Was also mochte ihn veranlassen, bei Josef jedes mal so zu bellen, wo dieser doch fast zum lebenden Inventar gehörte, wie man scherzhaft sagt. Ich konnte es mir nur so erklären, daß er gemerkt hatte und empfand, dass Josef Angst vor ihm hatte. Das ist ja auch eine Voraussetzung bei Dompteuren, dass sie keine Angst zeigen dürfen, obschon der Vergleich hinkt. Die Beiden waren sich noch nie direkt begegnet. Erst wenn der letzte Arbeiter den Hof verlassen hatte, wurden die Tore verriegelt, und Renno konnte frei herumlaufen. Dann bekam er auch seine Abendmahlzeit und musste erst wieder in den Zwinger, wenn der Letzte von uns zu Bett ging. Eigentlich hatten alle Arbeiter Angst vor dem Hund, doch bei den anderen stellte er sich nicht so ungebärdig an.

Es gab da noch eine Merkwürdigkeit. Vater beschäftigte im Wald einen Vorarbeiter, der über lange Jahre viel Erfahrung und Wissen gesammelt hatte. Wenn nun Schnee gefallen war und auf Wildschweine gejagt wurde, kam dieser Mann erst um neun, halbzehn Uhr im Forsthaus an, weil er vorher um etliche Tannendickungen herumgegangen war, um festzustellen, wie viele Sauspuren in das Dickicht hineingingen und wie viel herausführten. Waren mehr Tiere hineingewechselt als heraus, musste der Rest sich noch versteckt halten. Einkreisen nannte man das.

Schien die Sache lohnend, dann rief Vater Jagdkollegen an und vereinbarte ein Treffen. Außerdem wurden Treiber bestellt, die mit viel Lärm den Jägern das Wild vor die Flinte treiben sollten. Dass dabei auch die Hunde, Dackel wie Drahthaar, dabei waren, bedarf keiner Frage. Und jetzt kommt das Merkwürdige: Renno wurde bei solchen Jagdunternehmungen immer von unserem Vorarbeiter geführt und benahm sich vorbildlich. Er parierte diesem, als hätte Vater ihn an der Leine. Auch von Seiten dieses Mannes gab es weder Angst noch Bedenken. Renno war eben im Dienst. Zu einer anderen Zeit hätte er dem Hund nicht begegnen mögen. Selbst Hunde untereinander, die sich sonst als Rivalen gegenüberstanden, arbeiteten bei der Treibjagd im gleichen Jagen einträchtig miteinander.

Doch muss ich nach dieser Abschweifung noch einmal auf Josef zurückkommen.

Jedes Jahr, wenn der Nikolaustag näherrückte, waren wir Kinder natürlich voller Erwartung und redeten auch mit Josef von nichts anderem mehr. Am Nikolausabend packte er etwas früher als sonst seinen Rucksack und schwang sich auf das Fahrrad. Wie er sagte, wollte auch er rechtzeitig zu Hause sein, wenn der Hl.Mann kommt. Er hatte nämlich einen Sohn in meinem Alter. Was wir damals noch nicht wussten, und was wir erst Jahre später entdeckten, war, dass Josef nur bis zur nächsten Wegbiegung fuhr, um aus unserem Blickfeld zu verschwinden. Dann schlich er aber auf Umwegen zum Haus zurück, um an vereinbarter Stelle von meinen Eltern einen Korb mit Gebäck und den sonst üblichen Leckereien in Empfang zu nehmen. Er war also unser Sankt Nikolaus.

Wir waren derweil erwartungsvoll in der Küche versammelt und beteten den Rosenkranz zu Ehren des großen Heiligen. Dann hörten wir das Klingeln eines Glöckchens näherkommen, unter dem Küchenfenster vorbei, bis an die Tür. Mutter sagte dann:

"Nun wollen wir dem Hl.Mann die Tür öffnen."

Wir hörten das Rasseln einer Kette. Wo Tiere sind, gibt es deren ja genug. Das war das Zeichen, dass auch Knecht Ruprecht den Nikolaus begleitete. Eine heisere Stimme fragte:

"Waren die Kinder alle brav?"

"Ja, lieber Nikolaus."

Mutter hatte uns die Antwort schon abgenommen. Dann kam zuerst die Rute in die Küche geflogen, verziert mit einer roten Schleife. Darauf folgte erneut Kettengerassel. Hernach kullerten all die leckeren Sachen in die Stube, die ein Nikolaus gewöhnlich so bringt.

Für mich war das immer ein ungemein aufregender Abend, und meine Gefühle zu beschreiben, ist nicht so ganz einfach. Auf der einen Seite die Erwartung und Freude, dass der Tag nun endlich gekommen war; auf der anderen auch ein wenig Furcht, denn ein ganz reines Gewissen, wer hatte das schon.

Gesehen haben wir Kinder den Nikolaus nie. Wohl später in der Schule. Umso geheimnisvoller und aufregender blieb für uns dieser Abend. Da konnte man der Phantasie freien Lauf lassen. Eines muss ich noch anmerken. Ich hatte meinen Platz am oberen Ende des Esstisches, direkt neben meinem Vater, der am Kopfende saß. Ich war also am weitesten vom Schuss.

Trotzdem, zur Sicherheit holte ich Renno aus dem Zwinger und band ihn neben mir an die Bank fest. Jawohl, sicher ist sicher. Man munkelte ja, dass böse Kinder von Ruprecht in den Sack gesteckt würden. Mit Renno an meiner Seite konnte der das ja mal versuchen.

Wenn wir dann am nächsten Tag Josef aufgeregt vom Nikolausabend erzählten, schmunzelte er und freute sich mit uns. Dass er nicht nur Birkenbesen gebunden, sondern auch die obligate Rute geflochten hatte, das verriet er uns erst Jahre später. Ich kann mich aber auch nicht erinnern, dass sie jemals zum Einsatz kam. Aber sie war da, greifbar, zur Abschreckung sozusagen.

War der Nikolaustag vorüber, freuten wir uns auf des Christkind. Längst schon hielt Vater bei seinen Waldgängen Ausschau nach einem besonders schön gewachsenen Tannenbäumchen. Ein paar Tage vor Weihnachten nahm er Josef mit und trug mit ihm das frisch geschnittene Prachtexemplar nach Hause. Er montierte es in einen Ständer und stellte es ins Wohnzimmer.

"Damit das Christkind sich diese Mühe sparen kann. Es hat ja so viel zu tun." So hieß es uns Kindern gegenüber. Das war ganz Vaters Art, wir dachten uns also nichts dabei.

Von diesem Tag an war die Glasscheibe in der Wohnzimmertür, durch die sonst etwas Licht in den langen Flur fiel, mit einem Tuch verhängt. Angespannt horchten wir, ob ein Geräusch aus dem Zimmer zu vernehmen sei. Hörten wir dann etwa Papier rascheln oder leise Schritte, wussten wir, das Christkind, vielleicht sogar ein paar hilfreiche Engel, bereiteten den Hl.Abend vor. Dann konnte einem eine Gänsehaut von Spannung und Ehrfurcht über die Haut laufen. In keiner Zeit des Jahres waren wir so hilfsbereit und brav wie in diesen Tagen. Das Christkind bekam ja alles mit, hautnah. In dieser Vorweihnachtszeit ließen die Eltern sich von Josef mit der Kutsche zum Bahnhof fahren. Von dort aus brachte die Eisenbahn sie nach Bonn, wo sie ihre Einkäufe erledigten.

Auf einer solchen Fahrt durfte ich sie einmal begleiten. Ich war noch sehr klein damals und sehr stolz, dass ich dabei sein konnte, als sie 'das Christkind bestellten'. In der Stadt, wo es die vielen Spielsachen in den Kaufhäusern gab, da konnte man dem Christkind begegnen. In dem Trubel von Weihnachtsschmuck, Glocken, Engel und Flitter fiel es nicht schwer, daran zu glauben. Ich hatte es am Ende nicht gesehen, aber doch den ganzen himmlischen Reichtum, der für die Kinder gedacht war. Wenn ich mich recht erinnere, war es mein erster Besuch in einer Großstadt; daher auch der überwältigende Eindruck. Am stärksten faszinierte mich jedoch im damaligen Kaufhaus Tietz eine in Szene gesetzte Bärenhochzeit. Der Bärenbräutigam im Frack und die Bärenbraut im weißen Kleid und riesenlangem Schleier, den Bärenkinder trugen. Kurz die ganze Bärengesellschaft einschließlich der Kapelle, sind mir ein Leben lang in Erinnerung geblieben. Sie spielten damals das Hochzeitsständchen, und wenn ich diese Weise heute im Radio höre, habe ich momentan das Bild von der Bärenhochzeit vor Augen.

Waren die schönen Winterfeste Nikolaus und Weihnachten vorbei, wurden bald die Tage wieder länger. Ab März bedurfte es zum Abendessen schon keiner Lampe mehr. Bald würden die Zugvögel zurückkehren und als Erste wahrscheinlich die Schnepfen. 'Langgesicht' nennt man sie in Jagdkreisen, wohl des langen Schnabels wegen. Sie siedeln sich in Feuchtgebieten an und nisten in Schilf und Riedgras. In der Dämmerung kann man ihren Balzruf hören. Ich saß oft mit einem Fernglas an, um hinterher berichten zu können, wie viele Paare ich gesehen hatte.

Nicht selten bekam ich dabei auch noch anderes Wild zu Gesicht. Vor allem aber genoss ich es, wie die Natur schlafen ging. Bevor die bunte Vogelwelt verstummt, gibt es noch einmal einen vielstimmigen Abendgesang. Dann fällt eine Stimme nach der anderen aus, und als letzte hört man nur noch die Amsel. Verlöschen dann die leuchtenden Farben des Abendhimmels, tritt plötzlich Stille ein.

Auf dem Heimweg hörte ich dann manchmal den Waldkauz. Für ihn war jetzt die Zeit der Jagd gekommen. Vater konnte seinen Ruf sehr täuschend nachahmen, und wenn wir abends gemeinsam unterwegs waren, lockte er den Kauz oft heran. Ganz dicht strich der dann lautlos über unsere Köpfe. Ich mochte, und mag heute auch noch, diese Eulenvögel sehr gerne und weiß von ihnen eine interessante Geschichte zu erzählen.

Im Wohnzimmer unseres Forsthauses stand ein großer, grüner Kachelofen. Beheizt wurde er mit Buchenscheitholz, und in kurzer Zeit verbreitete er eine wohlige Wärme. Allerdings benutzten wir das Wohnzimmer eigentlich nur an hohen Feiertagen oder wenn Gäste im Haus weilten. Sonst saß die Familie in der gemütlichen Wohnküche. Man konnte auf diese Weise eine Heizquelle sparen. So blieb der Kachelofen manchmal kalt. In der Nistzeit der Käuze aber auf jeden Fall. Und das hatte seinen Grund.

Die Asche aus dem Ofen fiel in einen Schacht im Keller, und just diesen Platz wählte sich der kleine Waldkauz für sein Nest. In der Zeit also, wo er sein Brutgeschäft betrieb, durfte der Kachelofen nicht geheizt werden.

Erst benutzten diese Vögel den Kamin um Nistmaterial herunterzuschaffen. Es hörte sich an, als jage eine Hexe durch den Kamin. Später, wenn die Kleinen geschlüpft waren, musste das Futter auf dem gleichen Weg nach unten gebracht werden.

Irgendwann wurden sie dann flügge und saßen eines Morgens mit der Eulenmutter oben auf dem Kaminrand, nahe beim Dachfirst. Die Alte hatte schützend die Flügel um die Kleinen gelegt, und unter den Federn schaute je ein Eulenkind heraus. Ich fragte mich nur, wie die Kleinen den Aufstieg schaffen mochten. Vielleicht wurden sie von der Mutter hochgetragen. Sie saßen oben beim ersten Sonnenstrahl. Wenn ich sie anrief, schloss die Alte mal das eine, mal das andere Auge und blinzelte herunter.

Mehrere Jahre lang brüteten die Käuzchen an diesem Ort. Sie hielten zwar eine gewisse Distanz zu uns Menschen, aber etwas zutraulich wurden sie doch. Ich mag Eulen seit dieser Zeit ganz besonders. Und weil sich das anscheinend herumgesprochen hat, bekam ich mit der Zeit Nachbildungen verschiedenster Art. So wird man wohl zum Sammler. Alle diese Eulen erinnern mich an meine Kindheit und Jugend.

In dieser Jahreszeit des Aufbruchs, wo Tiere und Pflanzen neue Aktivitäten mobilisieren, fällt das von allen Kindern lang ersehnte Osterfest. Schon Wochen vorher war Vater bei seinen Waldgängen dem Osterhasen begegnet und hatte ihn darauf aufmerksam gemacht, dass nicht nur im Dorf, sondern auch im Forsthaus Kinder seien, die auf seinen Besuch warteten. Begegneten wir in diesen Tagen irgendwo einem Langohr, war das ganz sicher ein Osterhase, der mit Hochdruck daran arbeitete, für all die vielen Kinder Eier zu färben. Wie das geschah, das konnten wir ja auf Postkarten und in Bilderbüchern sehen. Jedenfalls muss er sich Vaters Hinweis immer hinter die langen Löffel geschrieben haben, denn übergangen wurden wir nie. Allerdings nahm Mutter dem überlasteten Osterhasen eine Menge Arbeit ab, indem sie am Karfreitag einen Korb frischer Eier färbte. Wir durften dabei helfen. Zumindest war es unsere Aufgabe, die noch heißen Eier mit einer Speckschwarte abzureiben. Danach glänzten sie wie lackiert. Blieb am Ende noch etwas brauchbare Farbe übrig, holten wir unseren alten, abgenutzten Gummiball und gaben ihm so wieder Farbe.

Am Ostermorgen dann, wenn wir den Kirchgang hinter uns hatten, schauten wir, ob nicht der Osterhase schon um das Haus lief. Mutter stellte ein Körbchen mit bunten Eiern an das Hoftor, damit er sie dort finden konnte. Am Ostermorgen stand Vater immer zuerst vom Frühstücktisch auf. Er schaute dann nach, ob der Hase seine Arbeit schon erledigt hatte. Dass wir Kinder nicht vorwitzig sein durften, hatte man uns eingeschärft: "Sonst würde er uns nie mehr Eier bringen." Welches Kind hätte schon dieses Risiko gewagt!?

Also warteten wir geduldig, bis Vater zurückkam und verkündete, er habe ihn soeben in den Wald verschwinden sehen. Jetzt war der große Moment gekommen. Auf einer Wiese hinter der Scheune musste der Osterhase die bunte Pracht versteckt haben. Dort standen auch einige Apfelbäume. So fanden wir manchmal sogar ein Ei in einer Astgabel. Wie es da oben hingekommen war, darüber machte ich mir erst viel später meine Gedanken.

Weil die Sucherei am Vormittag solchen Spaß gemacht hatte, versteckten wir Kinder untereinander am Nachmittag noch einmal einige Eier. Dabei verbarg ich eines so gut, dass ich es nie mehr gefunden habe, obschon ich sicher war, mir jede Stelle genau gemerkt zu haben. Für jedes Mitglied der Familie färbte Mutter übrigens ein frisches Gänseei, als besondere Attraktion. Die brachte der Osterhase natürlich nicht; da hätte er sich auch zu sehr anstrengen müssen.

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