Zu Autoren im ST bis 2007 | Neuere Autoren

Kinderschmerz


Renate Bolm
[email protected]

Andy blickte sich noch einmal in seinem Zimmer um. Es war fast dunkel im Raum, nur eine Straßenlaterne warf ihren schwachen Lichtschein auf seinen Schreibtisch. Der kleine Radiowecker, den er von seinen Eltern zu Weihnachten bekommen hatte, zeigte mit seinen rot leuchtenden Ziffern an, daß es 4.30 Uhr morgens war. Andys Augen suchten das Bett, das warm und kuschelig in der Ecke stand. Am liebsten wäre er sofort wieder hineingekrochen. Die Versuchung war groß, aber er hatte sich anders entschieden!

Entschlossen nahm Andy seinen Rucksack, den er mit allen möglichen zweckmäßigen Dingen, wie Autos, Taschenmesser, Kuscheltieren usw. sowie unzweckmäßigen Dingen, wie Kleidung, Unterwäsche und Zahnbürste, vollgestopft hatte und schlich zu dem Schlafzimmer seiner Eltern.

Andy zog einen schon etwas zerknitterten Zettel, den er eilig geschrieben hatte, aus seiner Jeans und schob ihn unter der Tür durch. "Hoffentlich hören sie mich nicht, sonst ist alles verloren", dachte der Junge, als er vorsichtig die Treppe hinunter stieg.

Unten im Flur brannte, wie jede Nacht, die kleine Lampe neben der Garderobe. Im Vorbeigehen fiel sein Blick auf den Spiegel, und er sah einen hochaufgeschossenen zehnjährigen Jungen, dick vermummt in einen Parka. Ein paar vorwitzige schwarze Haarsträhnen waren unter der gelben Pudelmütze hervorgekrabbelt und ließen sein Gesicht noch blasser erscheinen, als es ohnehin schon war.

Als Andy auf die tiefverschneite Straße trat, war er doch sehr froh, daß er seine Snowboots angezogen hatte. "Wenn noch mehr Schnee fällt, wird man meine Fußspuren nicht mehr erkennen", überlegte er und war sich nicht sicher, ob ihm das gefallen würde.

Schnell lenkte er seine Schritte nach rechts, denn er wollte möglichst bald die große Landstraße erreichen, die ihn von Kiel nach Hamburg - und damit zu seiner Tante Gabi - bringen sollte. "Ach Tante Gabi, wenn ich doch bloß schon bei Dir wäre!", dachte Andy verzweifelt, "dann bin ich nicht mehr so alleine! Vati und Mutti haben ja doch keine Zeit für mich. Sie sind nicht da oder sie streiten sich. Dabei habe ich sie doch so lieb!" Er seufzte schwer und sein ganzes großes Herzeleid lag in diesem einen Seufzer.

Der Klang der Kirchturmglocke hallte fünfmal zu ihm herüber, als er die Landstraße erreichte. Kein Auto war weit und breit zu sehen, das ihn hätte mitnehmen können, und so maskierte er tapfer die Straße in Richtung Hamburg entlang. Auf einem Wegweiser konnte er erkennen, daß ihn noch 75km von seinem Ziel trennten. "Was ist das schon?", machte er sich selber Mut.

Schon eine Stunde später taten Dandy die Füße weh, und er beschloß, eine kleine Rast einzulegen. Einen halb zerfallenen Gartenzaun, der ein brachliegendes Grundstück umschloß, lud zum Anlehnen ein. Seinen Rucksack stellt er neben sich auf die Erde, und gedankenverloren zeichnete er mit einem vertrockneten Ast, den er unterwegs gefunden hatte und als Spazierstock benutzte, Kreise und Linien in den Schnee. "Jetzt stehen Vati und Mutti auf und finden meinen Brief. Ob sie wohl Angst bekommen, wenn sie merken, daß ich nicht in meinem Bett liege? Sollen sie doch!"

Andys Zähne klapperten, denn trotz Parka und Snowboots hatte sich die Kälte mittlerweile in seinem ganzen Körper ausgebreitet. So setzte er sich wieder in Bewegung und ging schnellen Schrittes weiter. Am Horizont zeichnete sich ein heller Streifen ab, der den neuen Morgen ankündigte.

Verstohlen blickte Andy sich immer wieder um,. und sein Herz begann zu rasen, als er in der Ferne das Brummen eines Motors hörte. Angestrengt beobachtete er die beiden Scheinwerfer, die sich langsam durch die Dämmerung fraßen. "Ob sie es wohl sind?", fragte er sich erwartungsvoll. "Hoffentlich!"

Neben sich hörte er das Quietschen von Bremsen, und der Wagen hielt an. "Andy! Andy!", riefen seine Eltern wie aus einem Munde und Andy empfand ein starkes Gefühl der Geborgenheit, als er sich erleichtert und glücklich in die Arme seiner Mutter schmiegte. "Sie sind gekommen, um mich wieder mit nach Hause zu nehmen, sie haben mich doch lieb!" Nichts anderes zählte mehr für ihn.

Ein schon etwas zerknitterter Zettel flatterte aus dem Auto und blieb unbeachtet auf der Straße liegen. Auf ihm stand der ganze Kinderschmerz in einem kurzen Satz zusammengefaßt: "Ich gehe zu Tante Gabi. Ich gehe über Neumünster, falls ihr mich zurückholen wollt."


nach oben