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Renate Bolm
 
 

Stunden der Qual

Es liegt schon viele Jahre zurück, und noch immer bekomme ich schweißnasse Hände, wenn ich an die schrecklichsten, aber auch aufregendsten Stunden meines Lebens denke. Dabei begann alles so harmlos.

Zusammen mit einem befreundeten Ehepaar verlebte ich einen sorglosen Herbsturlaub in den Alpen. Für mich war das Gebirge eine völlig neue Erfahrung. Da ich unter starker Höhenangst leide, verbrachte ich meine Tage mit Spaziergängen, Wanderungen über großflächige Wiesen, mit Sonnenbaden, Autotouren und ähnlichen angenehm-langweiligen Unternehmungen. Nur abends, wenn meine Freunde begeistert von ihren Bergwanderungen erzählten, wurmten mich meine doch recht dürftigen Erlebnisse. Ich war so neidisch, daß ich eines Abends zu fortgeschrittener Stunde wider besseren Wissens versprach, die für den kommenden Tag geplante Wanderung mitzumachen.

Mit gemischten Gefühlen betrachtete ich die kilometerlange Felswand, die wir mit der Seilbahn erobern wollten. Die schroffen Abstürze und zerklüfteten Wände glitzerten im Schein der aufgehenden Sonne. Eine Gondel schwebte lautlos zur Talstation herab.

"Komm schon", riefen Inge und Kalle wie aus einem Munde, "wir wollen die Auffahrt nicht verpassen!"

Nur zögernd folgte ich meinen Freunden. "Ich muß wahnsinnig sein, mich auf dieses Abenteuer einzulassen", schoß es mir durch den Kopf. Im Geiste verfluchte ich die paar Bierchen und Obstler, deren Wirkung mir ein derart voreiliges Versprechen entlockt hatte. Allein die Vorstellung - eingeschlossen in eine enge Kabine und nichts als eintausend Meter Luft unter mir - raubte mir fast den Verstand.

In der großzügig angelegten Wartehalle der Talstation drängelten sich die Ausflügler. Rucksäcke, Spazierstöcke und erwartungsvolle Gesichter gaben sich ein Stelldichein.

Meine Leidensmiene paßte so gar nicht in diesen fröhlichen Kreis. Hektische rote Flecken in meinem Gesicht lieferten sich einen heftigen Konkurrenzkampt mit der Farbe meines Pullovers und des neu erworbenen Rucksackes.

"Du willst doch wohl jetzt nicht mehr kneifen?" Kalle sah mich mißtrauisch an . "Das kommt überhaupt nicht in Frage! In sieben Minuten hast du alles überstanden. "Das sagst du so einfach! Weißt du eigentlich, welche Ewigkeit sieben Minuten sein kann? Seit knapp fünfzig Jahren ist mir jeder Stuhl zu hoch, jede Rolltreppe zu steil, und von Fahrstühlen schweigen wir besser ganz...! Sicher, am liebsten würde ich kneifen, aber ich komme trotzdem mit. Irgendwann muß ich ja mal beginnen, meinen inneren Schweinehund zu überwinden." Mir blieb auch gar keine andere Wahl mehr, denn inzwischen hatten wir den Gondelschacht erreicht, und die nachrückende Menschenlawine bildete eine undurchlässige Mauer.

Mit einem leichten Ruck setzte sich die Seilbahn in Bewegung. Eingekeilt zwischen 98 Beinen und 49 zufriedenen Mienen verkroch ich mich hinter Kalles breitem Rücken. Das �Ah� und �Oh� der Fahrgäste stachelte meine doch Neugierde an. Verstohlen warf ich einen Blick über Kalles Schulter und erstarrte...! Das gewaltige Bergmassiv, eben noch in weiter Ferne, raste auf uns zu. Keiner Bewegung fähig, verfolgte ich das Schauspiel und wartete auf das Krachen und Bersten der Gondel, auf die Hilfeschreie der Passagiere. Doch wie von Zauberhand stoppte die Seilbahn und glitt langsam vor der Felswand bis zum Bergrücken empor.

"Wir sind da. War�s sehr schlimm?" Kalle schob sich an meine rechte Seite. "Schau lieber nach links, denn hier geht es steil bergab."

Mit schlotternden Knien und klopfendem Herzen kletterte ich aus der Kabine. Der feste Boden unter den Füßen gab mir jedoch etwas von meinem Selbstvertrauen zurück. "Was haltet ihr davon, wenn ich auf die überstandene Tortur einen Enzian ausgebe?" Mein Vorschlag wurde mit Begeisterung angenommen.

Wir marschierten über eine breite, verkarstete Hochebene zu einer nahegelegenen Berghütte. Die abfallenden Steilwände waren glücklicherweise weit genug entfernt, und so konnte ich das überwältigende Panorama ohne Angst genießen. Über schmalen Hochtälern, abgelegenen Bergweiden, tiefen Schluchten und klaren Bergseen spannte sich ein strahlend blauer Himmel. Weit unten, in den grünen Tälern, suchten kleine Spielzeugorte Schutz an den sanft ansteigenden Hängen.

Trotz der frühen Morgenstunde herrschte schon lebhaftes Treiben in der urigen Hütte. Ein flackerndes Kaminfeuer spendete behagliche Wärme, und eine zwanglos geführte Unterhaltung von Tisch zu Tisch erhöhte das Wir-Gefühl.

Bald drängte Kalle zum Aufbruch. "Wir haben noch einen weiten Weg vor uns. Wenn wir unser Pensum bei Tageslicht schaffen wollen, müssen wir weiter"

Über Geröllhalden, spärlich bewachsen mit Latschenkiefern, erklommen wir ein in fast 2000 Meter Höhe gelegenes Plateau. Fast andächtig genoß ich diesen phantastischen Augenblick. "Ich bin richtig glücklich, daß ihr mich zu diesem Ausflug überredet habt. Mein Gott, was hätte ich versäumt!" Wie konnte ich auch ahnen, daß sich die Gondelfahrt als das kleinere Übel entpuppte. Denn..., von nun an ging�s bergab!

In Zickzacklinien schlängelte sich der Weg über einen steilen Abhang nach unten. Kein Baum, kein Strauch, an dem sich mein Auge festhalten konnte. Nur schwindelnde Tiefe! Verzweifelt klammerte ich mich an Kalle, den Blick starr gegen den Berg gerichtet. Jede Wegbiegung strapazierte mein ohnehin stark angekratztes Nervenkostüm noch etwas mehr, galt es doch einen fliegenden Hand- und Blickwechsel zu überstehen.

Nach einer Stunde, einer Ewigkeit, erreichten wir ein langgestrecktes Hochtal. "Geschafft!", jubelte alles in mir, "geschafft!". Erschöpft und mit Gott und der Welt zufrieden, ließ ich mich ins Gras fallen. Um mich herum Wiesen, Felswände und vor allem keine Abgründe! Eine ausgedehnte Brotzeit und die Hoffnung auf ein baldiges Ende meines Überlebenskampfes gaben mir Mut den Mut, die nächste Etappe in Angriff zu nehmen.

Wir durchquerten das einsame Hochtal und genossen die Wärme der über uns stehenden Sonne. Abrupt endete unsere Wanderung vor einer Felswand und mit ihr der Traum vom Ende meiner Qualen. Ein schwarzes Loch gähnte uns furchterregend entgegen.

"Hier führt eine Treppe runter." Inge übernahm jetzt die Führung und verschwand in der Öffnung. Erneut kroch in mir die Angst hoch. "Keine zehn Pferde bringen mich in diese Totengruft!" Alles in mir wehrte sich gegen diese neuerliche Mutprobe. Allerdings hatte ich die Rechnung ohne Kalle gemacht. "Nun reiß dich aber mal zusammen", fuhr er mich an, "es ist nur eine ganz gewöhnliche Treppe. Also kein Grund zur Panik!"

"Wirklich, Kalle, du hast eine seltsame Vorstellung von einer gewöhnlichen Treppe!" Skeptisch sah ich auf die steile Leiter, die sozusagen ins dunkle Nichts führte. Ich setzte mich auf meine vier Buchstaben und versuchte so, Sprosse um Sprosse zu überwinden. Meine feuchten Hände glitten immer wieder von dem Stahlseil ab, das als Geländer diente. Plötzlich hellte es von unten her auf. Meine Augen blickten direkt auf einen breiten, mannshohen Spalt im Felsen, durch den mich ein strahlender Himmel höhnisch anlachte. Entsetzen packte mich. Die Angst kroch in mir hoch und der Schweiß rann in Strömen. Ich bekam meinen Körper kaum noch unter Kontrolle. Verzweifelt schloß ich die Augen. Trotz Kalle und trotz einiger Wanderer, die sich ohne große Mühe an mir vorbei schoben, fühlte ich mich von aller Welt verlassen.

"Ich kann nicht mehr, ich will zurück Oder noch besser, ich bleibe einfach hier sitzen", schrie ich. "Ist mir egal wie ihr mich hier heraus bekommt!"

"Du weißt genau, daß das nicht geht, aber du hast es gleich geschafft", seine Stimme wirkte jetzt beruhigend auf mich, "nur noch zehn Stufen, dann wartet eine Bank auf dich."

Zehn Stufen! Noch einmal mobilisierte ich all meine Kräfte. Noch neun Stufen..., noch acht..., noch vier... und endlich die letzte! Doch welch grausames Erwachen! Die Bank, die auf mich wartete, beruhigte mich keineswegs. Sie stand auf einem Felsüberhang, nicht größer als ein normaler Küchentisch!

"Ich gehe nur mal kurz um die Ecke und erkunde den Weg", sagte Kalle, "bleib ruhig sitzen und ruh dich aus." Eng an die Wand gepreßt, suchten meine Hände vergeblich Halt an dem nackten Felsen. Meine Gedanken überschlugen sich: Ich schaffe es nicht..., ich komme hier niemals wieder runter..., am schnellsten geht es, wenn ich einfach springe!

Als Kalle nach einigen Minuten zurückkam, sah ich ihm flehentlich entgegen. "Was ist los? Wie geht es weiter? Kalle, ich habe Angst! Noch nie in meinem Leben habe ich mich so gefürchtet. Und das Schlimmste daran ist, ich kann nichts dagegen tun."

"Ich weiß, und ich mache mir Vorwürfe. Weißt du, ich habe nie so recht an deine Höhenangst geglaubt. Tut mir leid", er räusperte sich etwas verlegen und meinte, "du mußt mir glauben, ich habe nicht geahnt, was bei dieser Wanderung auf uns zukommen würde. Aber ich verspreche dir, ich bringe dich heil runter." Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: "du mußt jetzt noch einmal deinen ganzen Mut zusammen nehmen. Wir müssen noch etwa 200 Meter am Felsen entlang gehen, dann kommen wir zu einer Hütte. Ich denke, Inge wartet da schon auf uns. Nach einer ausgiebigen Ruhepause ist der restliche Abstieg - nur durch Waldgebiete - sicher ein Kinderspiel."

Kalle hatte gut reden. Schritt für Schritt schoben wir uns auf einem 50 Zentimeter breiten Felssteig vorwärts. Schweißtropfen verklebten meine Augen und mein Körper verkrampfte sich mehr und mehr. Der unwiderstehlich Drang, einfach in die Tief zu springen und die Angst, Kalle mitzureißen, zerrte an meinen Nerven. Irgendwann - dauderte es eine Stunde oder zwei, oder waren es nur wenige Minuten? - war ich so ausgelaugt, daß ich überhaupt nichts mehr wahrnahm. Doch plötzlich fand ich mich in einer kleinen, mit Gras und Moos ausgepolsterten Senke wieder. Ich sah das beruhigende Lächeln meiner Freunde, hörte das unbeschreiblich schöne Rauschen der Bäume und wußte: Ich bin gerettet!

Obwohl ich heute trotz all der überstandenen Ängste und Qualen manchmal so etwas wie Stolz empfinde, habe ich gelernt, mich nie wieder auf Dinge einzulassen, denen ich nicht gewachsten bin. Und noch etwas Gutes hat dieser Ausflug bewirkt: Heute kann ich bedenkenlos mit einer Rolltreppe fahren!


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