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Herr Amtmann

Renate Bolm
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"Die Besucher des Hotels "Arischa" bitte aussteigen!" sagte der Reiseleiter und überlies uns unserem Schicksal.

Alle Augen waren auf uns gerichtet, als mein Mann Jens und ich uns von unseren Plätzen erhoben. Je nach Temperament blickten sie uns mitleidig oder herablassend nach. Einige Mitfahrer drehten sogar peinlich berührt ihren Kopf an die Seite, als sei es eine Zumutung, mit Menschen in einem Bus zu fahren, deren Urlaubsziel so klein und bescheiden, ja primitiv war. Kein Luxushotel, keine Touristenattraktionen weit und breit!

Auch ich fühlte mich nicht sehr wohl in meiner haut, als wir nun mit unseren Koffern auf dem menschenleeren Marktplatz von Houmt-Souk standen und dem Bus nachsahen, der langsam in einer der schmalen Gassen verschwand.

"Ich bin Gerd", sagte eine Stimme hinter uns und fügte ironisch hinzu, "wir scheinen Leidensgenossen zu sein!"

Gemeinsam gingen wir auf das "Arischa" zu. Die weiße Farbe des Hauses bröckelte von den fensterlosen Wänden und schwarze Längs- und Querrillen ließen es wie ein altes, zu stark geschminktes, zerfurchtes Gesicht aussehen.

"Nur Mut", sagte ich mir, als wir durch einen Torbogen gingen, der offensichtlich als Hoteleingang diente. Überrascht blieben wir stehen und staunten über die Idylle, die sich uns bot. Die großen roten Blüten von zwei riesigen Hibiskussträuchern leuchteten uns entgegen und überdeckten das verwaschen Weiß der Wände und das ausgelaugte Grün der Fenster und Türen. In ihrem Schatten entdeckten wir einen kleinen Swimmingpool. Amphoren standen überall herum, und auch ein paar verschleierte Frauen huschen vorbei, die die exotische Atmosphäre unterstrichen. Wir hatten das große Los gezogen!

Stundenlang könnte ich über diesen Urlaub erzählen, von diesem "verwunschenen Schloß" schwärmen, aber eine kleine Episode am Rande - sie ereignete sich gleich am ersten Tag - ist mir besonders im Gedächtnis geblieben.

Nachmittags, die ersten Kontakte waren schon geknüpft, saßen wir in feucht fröhlicher Begrüßungsrunde zusammen. Wir, das waren Yvonne, Marcel, Jean und René - vier junge Franzosen - , Gerd aus Hamburg, zwei reizende ältere Damen aus Ostpreußen, denen die Lebensfreude nur so aus den Augen blitzte, und Jens und ich.

Neugierig beobachteten wir einen Neuankömmling, der am Rande des Pools stand und mit ausdrucksloser Miene vor sich hiinstarrte. Er sah aus wie das Finanzamt höchstpersönlich. Schwarzer Anzug mit Weste und Krawatte, bleiches Gesicht, exakt gescheiteltes Haar und Schuhe, die glänzten, als wären sie durch ein Lackbad gezogen worden. Kraß hob sich eine dicke goldene Uhrkette von dem Dunkel des Anzugstoffes ab, als er der Sonne und der Wärme ein Zugeständnis machte und sein Jackett aufknöpfte. Langsam setzte er sich in Bewegung, und es entbehrte nicht einer gewissen Komik, als er gemessenen Schrittes durch das unkonventionelle Treiben im Innenhof spazierte.

Wir sahen uns an. "Typischer Beamter", stellte Gerd fest, und schon hatte der einsame Wanderer seinen Spitznamen weg. Aus der anonymen Gestalt war "Herr Amtmann" geworden.

"Ein bißchen Nachhilfeunterricht in Lebenskunst kann ihm nicht schaden", meinte Yvonne. Begeistert nahmen wir die Idee auf, und ein reges Getuschel begann an unserem Tisch, dem sich auch unsere beiden Ostpreußinnen nicht entziehen konnten. Ein zündender Einfall blieb zunächst jedoch aus.

Inzwischen war "Herr Amtmann" auf seinem Rundgang wieder an den Rand des Schwimmbeckens zurückgekehrt und starrte erneut in das etwas trübe Wasser, als ob er nur dort die Erfüllung seiner Urlaubsträume finden könnte.

"Schwimmen ist besser für ihn", faßte Jean, der bislang noch nicht viel zu unseren Überlegungen beigetragen hatte, seinen Geistesblitz in Worte.

Die paar getrunkenen Gläschen Rotwein hatten uns auf angenehme Art und Weise "hemmungslos" gemacht und Jeans Vorschlag gefiel uns aus nehmend gut. Wir dachten nicht an seinen Sontagnachmittags-Ausgehanzug, nicht an seine vielleicht wertvolle Taschenuhr oder ähnliche Banalitäten, wir wollten unseren Spaß!

Nur mein Mann, selbst ein Beamter, versuchte uns auf den Boden der Wirklichkeit zurückzuholen. "Wir sollen drei Wochen mit ihm auf engem Raum zusammenleben. Wenn er will, kann er uns den ganzen Urlaub verderben."

Nicht überzeugt, aber einsichtig schmiedeten wir eine halbe Stunde lang Pläne für den nächsten Tag und immer noch stand "Her Amtmann" am Beckenrand. Das war zuviel für Marcel. Der junge Franzose sprang auf, lief auf ihn zu, und ehe wir richtig begriffen hatten, was passiert war, blickten wir erschrocken auf ein heilloses Durcheinander von zappelnden Armen und Beinen, die das Wasser aufwirbelten.

"Jetzt ist es passiert. Hoffentlich überlebt unser Freund die kalte Dusche", flüsterte Yvonne.

Mittlerweile hatte "Herr Amtmann" wieder Grund unter den Füßen und blickte fassungslos (oder war es hilflos?) um sich. Unser schlechtes Gewissen regte sich doch sehr, als er sich nun, behindert durch seine nasse Kleidung, mühsam zur Leiter vorarbeitete und schwerfällig aus dem Becken kletterte.

Wir waren sehr gespannt auf die Reaktion des unfreiwilligen Schwimmers. Und die Reaktion kam! Er sah noch einmal verstört um sich, schüttelte sich wie ein begossener Pudel, und dann hellte sich sein Gesicht plötzlich auf. "Hurra!" schrie er, "hurra!" und sprang so wie er war zurück ins feuchte Nass.


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