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Zehn Tage Bus-Touristen-Pilger-Existenz 

unterwegs nach Santiago de Compostela

Stankt Jakob auf dem campus stellae

 

 

Sieghard Winter

 

 

Erstens - 850 km -

Ungefähr das fünfte Mal bin ich auf dieser Autobahn-Strecke:

Besançon, Lyon, Nîmes, Narbonne. Die Flur ist grün, weil Mai ist;

der Brambusch leuchtet wie Gold. 12 Stunden sitzen wir im Bus.

 

Zweitens - 540 km -

Pilger, Pilgrim, peregrinus, per aspera ad astra. Weg zu den

Reliquien des Apostels Jakobus des Älteren, des

Zebedäus-Sohnes am finis terræ. Er ist der um 44 n. Chr.

geköpfte Martyrer, später der Maurentöter, dessen Gebeine auf

sagenhafte Weise an diesen Ort gelangten, ans Ende der

damaligen Welt. Seine Symbole sind Buch, Schwert und das wohl

bedeutendste: die Muschel.

 

Die Wallfahrt kommt um 800 auf und nimmt von 1000 bis 1500

einen enormen Aufschwung. Viele gehen monate- bzw. jahrelang

diesen weiten Weg. Viele kommen nicht an. Manche Mörder

müssen ihn zur Buße gehen, sie ersparen sich dadurch Gefängnis

bzw. Todesstrafe. Am Camino liegen hunderte von Heiligtümern:

Kathedralen, Kirchen, Kapellen,  Wegkreuze, Hospize,

Herber-gen, Friedhöfe, die der Pilger besucht. So versteht sich

der Weg als Ziel. Ziel und Weg sind untrennbar eins.  Auf dem

Wege sein, "en el camino", das ist ein Symbol für das

menschliche Leben überhaupt. Das Leben ist  der Weg zwischen

Geburt und Tod. Santiago als Wallfahrtsort der Christenheit ist

zeitweise bedeutender als Rom und Jerusalem. Die vielen

Pilgerwege Europas dorthin vereinigen sich zu einem, dem

Königs-Pilgerweg,  nach dem wichtigsten Pyrenäenpaß ungefähr

in Roncesvalles.

 

Der Holunder blüht auch in Roncesvalles. Hier betreten wir das

erste Heiligtum auf unserer Reise - von insgesamt 21 -. Es ist

eine wunderschöne, frühgotische, kleine Kirche mit einer

Zedernholz-Madonna über dem Hauptaltar. Vor der Eucharistie

betet kniend eine kleine Männergruppe. Die rheinische Narbe

schmerzt. Erstmalig bewußt wurde sie mir 1982, als ich im Kölner

Dom die Bayernfenster studierte. Am Abend treffen wir in

Pam-plona ein und erleben eine Vorabendmesse zum Pfingstfest

in der "Parroquia Corpus Christi".

 

Drittens - 210 km -

Führung durch Pamplonas Altstadt in der Morgenfrühe. Die

Kirche St. Cernin ist offen. Atemberaubend, diese perfekte Gotik,

an den Wänden oft das Templerkreuz. Die "Schistulares"

trommeln und pfeifen in den Morgen. Von nun an hat jeder Ort am

Camino Heiligtümer, Stätten des Gebetes und der Gegenwart

Gottes. Geheiligt durch die vielen  Millionen  Pilger der

Jahrhunderte und durch deren Bitten und Gebete in  den letzten

1000 Jahren.

 

Durch Kreuzestod und Auferstehung von Jesus Christus sind wir

erlöst. Wir könnten niemals aus eigener Kraft vor Gott gerecht

werden  und wenn wir noch so viele Werke verrichten würden.

Der Weg hat an Bedeutung seit 1550 stetig verloren. Dennoch

gehen ihn heutzutage noch manche; zu Fuß mit Pilgerstab,

Rucksack und Muschel-Abzeichen. Bisweilen  sehen wir sie vom

Bus aus. Wir wollen diesen Weg nicht gehen.  Wir fahren mit dem

Bus. Wir wollen einige Heiligtümer und schließlich Santiago selbst

erleben. Das ist unsere Intention. Eunate ist ein heiliger Bau in

Oktogonform auf freiem Feld. Das Tageslicht beleuchtet das

Innere durch Alabasterscheiben. In Estella betreten wir die

Kirchen San Pedro de la Rua und die Parroquia San Miguel.

Aufwendiges Treppensteigen war die Voraussetzung. In Santo

Domingo de la Calzada betreten wir die Kirche, wo des

Hühner-Wunders gedacht wird. Den Höhepunkt des heutigen

Tages erleben wir gegen Abend: Die mächtige Kathedrale von

Burgos.

 

Viertens - 200 km -

Fromista, hier gehen wir bei strömendem Regen [es ist der

einzige Regentag] in die St. Martins-Kirche, reinste Romanik aus

dem 11. Jh. Wir bewundern die herrlich gestalteten Kapitelle und

die Fratzen außen an den Dachsparren. In Carrion de los condes

sehen wir einen romanischen Fries über den ganzen Bau,

Christus in der Mandorla. In Sahagun erhebt sich der mächtige

Kirchturm von San Lorenzo im Mudejar-Stil [maurischer Einfluß].

Mitten in der regnerischen Landschaft erreichen wir  San Miguel

de Escalada, ein romanisch/gotisches Kloster, wieder im

Mudejar-Stil, das Mönche aus Cordoba errichtet haben. Innenlicht

durch Alabaster-Fenster. 14 Säulchen, verschieden in Färbung,

Muster und Dicke, tragen das Dach des kleinen Langhauses. Die

Häupter der drei Schiffe sind apsidenartig geformt und gewölbt.

Der Höhepunkt des Tages wird am Abend erreicht: León. Hier

steht eine große, gotische Kathedrale, mit Köln vergleichbar, was

Größe, Glasfenster, Reinheit des Stils und Baubeginn - 1253 -

anbetrifft. Ich bin entzückt.

 

Fünftens - 335 km -

Am Wege morgens sehen wir die moderne Beton-Kirche Virgen

del Camino. 12 Apostel und Maria in Erz, je sechs Meter hoch,

sehen am Eingang dieser Kirche auf den Besucher herab.

Eindrucksvoll!

 

In Astorga gehen wir in eine gotische Kathedrale. An einem

Seitenaltar betrachte ich ziemlich versunken gemalte gotische

Bilder mit Szenen aus der Leidensgeschichte Jesu. Obwohl ich

solche schon hundertfach anderswo gesehen habe, wird mir jetzt

die Wahrheit von Jesu Erlösungswerk und von Gottes

Barmherzigkeit tief innerlich deutlich: Aus der menschlichen

Aporie, aus der Verkettung der Sünden von einer Generation zur

anderen, aus dem lähmenden Zwang, das Böse zu tun und nicht

das Gute, was wir wollen, aus der Ausweglosigkeit, die Tod und

unbedingtes  Ende unseres Lebens bedeutet, aus dieser

zweifachen Aporie kommen wir nicht heraus, durch keine

menschliche Anstrengung der Welt, es sei denn durch

unverdienten Glauben an Jesus Christus und an Gottes

übergroße Barmherzigkeit: Gott wird Mensch und läßt sich

kreuzigen und erscheint am Ostermorgen als Auferstandener,

weil er sein Geschöpf Mensch überaus liebt. Das ist

verstandesmäßig nicht zu fassen. Man kann sich diesem

Mysterium nur ergriffen, andächtig, gläubig  nähern. Der Geruch

dieser Kirche verrät die verflossene Zeit seit ihrer Entstehung und

die Gebetsstimmung vieler Jahrhunderte. Das ist es auch, was

mich in unserer Buchheimer Kirche so unsagbar anzieht und

befähigt, in das Gebet mit einzustimmen.

 

Nebenan hat Gaudi vor der Jahrhundertwende im Walt-Disney-Stil

ein Bischofshaus erstellt. Beide genannten Komplexe erheben

sich malerisch über einem Stück römischer Stadtmauer. Dahinter

steht  ein altes Pilgerhospiz, das wir aber nicht betreten. Immer

wieder einmal sehen wir aus dem Bus zu Fuß gehende Pilger auf

dem Weg. In Villafranca del Bjerzo sind wir in einem kleinen

gotischen Heiligtum. Es besitzt ein frühgotisches Portal mit noch

erkennbaren Szenen aus der Heilsgeschichte. Dieses Portal heißt

Puerta del Perdón und das Heiligtum Templo de Santiago. In

Lugo umfahren wir die beträchtlich lange und gut erhaltene

römische Stadtmauer mit 50 Türmen.

 

Sechstens - 300 km -

Heute früh erreichen wir Santiago de Compostela. Es ist den

ganzen Tag sonnig aber nicht heiß. Wir haben viel Zeit. Zuerst

verbringen wir eine gute Stunde in der weitläufigen romanischen

Kathedrale beim Gottesdienst sitzend, schauend, betend. Ich

denke in Hinsicht auf Romanik und Größe an Speyer. Wir gehen

am Reliquienschrein  und an einer wertvollen Statue des Heiligen

im Hochaltar-Bereich vorbei. In Köln bei den Heiligen Drei

Königen war es im Mittelalter ähnlich. Für den heutigen Fußpilger

gilt wohl die mittelalterliche Wahrheit: "Auf dem Weg, Metapher

irdischen Daseins, beginnt eine wahrnehmbare, personale

Veränderung aufgrund einer Reihe von Riten, die im Moment der

Ankunft ihren Höhepunkt erreicht. Wenn der Pilger hier sein Ziel

erreicht hat, wandelt er sich in einen neuen Menschen." Wir

erleben die Kathedrale am Nachmittag durch einen sachkundigen

Führer, der u.a.  ihre beiden Fassaden und die barocken Plätze

an der Kirche erklärt.

 

Siebtens - 420 km -

In Betanzos - auf dem Rückweg - sehen wir eine

romanisch/gotische Kirche des 14. Jh., St. Franziskus geweiht.

Außerhalb von Oviedo besuchen wir, am Hang gelegen, wohl die

ältesten Heiligtümer: 9. Jh.,  ganz frühe Romanik, San Miguel de

Lillo, nur von außen, das andere daneben stehende, Santa Maria

del Naranco, können wir  für Eintrittsgeld auch von innen

besichtigen. Die Kathedrale in der Stadt hat ähnliche romanische

Apostelfiguren im Portal wie Santiago. Das Retabel verdeckt das

gotische Chorhaupt.

 

Achtens - 420 km -

Santillana del Mar ist ein mittelalterliches, fast museales

Städtchen mit einer Collegiats-Kirche und Kreuzgang aus dem

12. Jh. Ganz alte, schwere Romanik, der heiligen Juliana geweiht.

Gegen Eintritt zu besichtigen und mit mönchischer Gregorianik

von der CD leise erfüllt. Am Abend sind wir am Strand von

Biarritz.

 

Neuntens - 580 km -

Lange Fahrt durch die Landes und durch die Dordogne. Mittags

erreichen wir Perigueux und die Kathedrale St. Front, sie hat fünf

Kuppeln. Hier ist gerade im Kreuzgang und im darin liegenden

wiesenartigen Hof Pfarrfest, woran wir eine Stunde essend und

trinkend teilnehmen.

 

Zehntens - 570 km -

Am Vormittag sehen wir von außen die Kathedrale St. Lazare in

Autun, nicht von innen, weil gerade der Sonntags-Gottesdienst

stattfindet. Aber wir sehen das Tympanon des Hauptportals mit

dem segnenden Christus und den ausdrucksvollen Mittelpfeiler,

der den Titelheiligen darstellt. In Beaune ist es uns vergönnt, das

Hotel Dieu zu besichtigen. Dies ist ein orginal mittelalterlich

erhaltenes Krankenhaus. Super. Und was am schönsten ist:

Endlich bekomme ich das mir von Abbildungen her schon lange

bekannte "Jüngste Gericht" von Rogier van der Weyden zu

Gesicht.

 

                                                                             

                                                                                                                                                                                

                                                                                            


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