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THEMA:   Wie (un)solidarisch ist unsere Gesellschaft?

 10 Antwort(en).

Ernst begann die Diskussion am 31.01.03 (23:02) mit folgendem Beitrag:

Unaufhaltsame technische, wissenschaftliche und wirtschaftliche Aufwärtsentwicklungen machen immer mehr Arbeitsplätze überflüssig. So wird Fortschritt paradoxerweise zur eigentlichen Ursache stetig zunehmender Arbeitslosigkeit samt ihrer negativen Auswirkungen, wie Abbau von Sozialleistungen, schwindenden Steuereinnahmen, rückläufigem Wirtschaftswachstum ....
Politiker suchen nach flinken Patentrezepten, rechnen mittels statistischer Kosmetik das Problem schön, bilden Kommissionen zur Besänftigung gutgläubiger Wähler. Aber bei logischem Nachdenken sind Vorschläge zur Erhöhung des Rentenalters, eine optimierte Verwaltung der Arbeitslosigkeit, Greencards oder Steuersenkungen kaum geeignet, nennenswerte Arbeitsplatzvermehrungen erbringen.
Das Problem wäre lösbar, wenn unsere reiche Gesellschaft in der Lage wäre, vom eigenen Besitzstandsdenken etwas abzurücken und die vorhandene Menge an Arbeit solidarisch zu teilen - d. h. ohne Anspruch auf Verdienstausgleich. Mit einer durchdachten (!) Arbeitzeitregelung würde die Gesellschaft Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren. Die sozialen Sicherungsprogramme würden wieder funktionieren, da sich mehr an den erforderlichen Abgaben beteiligen. Die Lebensqualität des Durchschnittsbürgers steigt. Bei anziehender Konjunktur können längere Arbeitszeiten angeboten werden, Lohnnebenkosten würden sinken. Frauen, die gerne während der Schulstunden ihrer Kinder einer Arbeit nachgehen möchten, bekämen hierzu die Möglichkeiten ...
Aufgabe des Staates wäre es, die erforderlichen Rahmenbedingungen zu schaffen. So muß es sich für Arbeitgeber lohnen, Arbeitszeiten zu verkürzen und dafür mehr Leute einzustellen. Wer viele kürzer Arbeitende beschäftigt, könnte steuerlich begünstigt werden. Unternehmen sollten für Überstunden verstärkt zur Kasse gebeten werden. Rentenansprüche und Steuern, Kindergeld oder Arbeitslosenversicherung wären entsprechend neu zu regeln. Bestimmte Unternehmenszweige dürften dabei nicht durch pauschalisiert vereinheitlichte Arbeitzeitverkürzungen in ihrer Aufgabenerfüllung behindert werden. So bedarf es z. B. einer genügend großen Zahl an Krankenhausärzten, ehe man deren Arbeitszeit verkürzen kann; denn ihre Ausbildung erfordert Zeit.
Politiker denken zumeist nur in 4-Jahres-Zeiträumen, Gewerkschaften sind ausschließlich Lobby der in Arbeit stehenden, nicht der Arbeitslosen, Entlassungen sind für Unternehmer zu oft profitabler als Neueinstellungen, Führungskräfte halten sich für unersetzlich und die noch ausreichend bemittelte Mehrheit ist durch Vorurteile und Ängste blockiert. Wenn überhaupt, wird man wohl erst ernsthaft etwas begreifen, wenn es uns wirklich dreckig geht.
Hängt die Unfähigkeit zu teilen wie ein Damoklesschwert über unserem zu oft bejammerten Wohlstand? Was könnte/müßte man tun?


Barbara antwortete am 01.02.03 (00:50):

Ernst,

ich stimme Dir 100%ig zu. Wie Du es in Deinem Titel schon andeutest: unsere Gesellschaft ist leider nicht solidarisch!

Wer einen Arbeitsplatz hat, kann sich gar nicht vorstellen, ihn zu verlieren. Bei gewerkschaftlichen Umfragen unter den Bankangestellten wurde danach gefragt, wer zur Teilzeitarbeit mit Lohnverzicht bereit wäre, wenn dafür andere ihren Arbeitsplatz behalten könnten. Das Ergebnis war deprimierend..... In Diskussionen äußerten die meisten völliges Unverständnis, wieso sie auf Geld verzichten sollten.... Hinzu kommt, dass die meisten von ihnen nicht einmal in der Gewerkschaft waren. Und nun werden Zehntausende entlassen.....

Oskar Lafontaine hatte Dein Modell Anfang der 70er Jahre vorgeschlagen. Er hat von den Gewerkschaften dafür Prügel bezogen.

VW hat es vorgemacht, dass man bei Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich das gesamte Jahresgehalt einschließlich sämtlicher Sonderzahlungen in zwölf Beträgen auszahlen kann, so dass das Monatsgehalt dadurch in etwa gleich bleibt. Natürlich fällt dann das Weihnachts- und Urlaubsgeld weg. Die Menschen können aber besser ihren laufenden Lebensunterhalt bestreiten. Und es entstehen viele neue Arbeitsplätze, die anderen eine Perspektive für ein abgesichertes Leben ermöglichen.

In Frankreich hat man vor Jahren die 35-Stunden-Woche eingeführt. Dort sind alle damit glücklich, so dass sie beim Regierungswechsel beibehalten wurde.

Genau wie Du sehe auch ich kein Problem darin, in einigen Jahren, wenn Arbeitskräfte knapp werden sollten, die Arbeitszeit wieder zu verlängern. Die Menschen werden bereit dazu sein, weil sie dadurch auch wieder mehr verdienen.

Leider wird bei uns die Arbeitslosigkeit nur verwaltet. Aber schließlich bringt auch das viele neue Arbeitsplätze :-(


Marianne antwortete am 01.02.03 (15:13):

Letzendlich sind solche Erwägungen wie von Euch, Ernst und Barbara, auch mit ein Grund, warum es in Österreich ( bei uns) im Augenblick so schwer ist, eine neue Regierung zu bilden. Die großen Reformen (Renten-, Steuer reform) werden nur durch " unsolidarisch- solidarische" Maßnahmen durchgeführt werden können, und da spießt sich dann das Parteiengespiel: Alle wollens - keiner wills allein verantworten.


Fred Reinhardt antwortete am 01.02.03 (16:23):

Wenn wir wie bisher an den Besitzstand, bezahlte Feier- und Urlaubstage festhalten, werden wir das Problem nicht lösen.

Unsere Arbeit ist zu teuer. Bis zu 13 Feiertage und ca. 25 - 32 Urlaubstage sind in den Stundenlöhnen die der Handwerksbetreib verrechnet, enthalten. Wenn wir dies alles in Zukunft ohne Einschränkung erhalten wollen, dürfen wir das Thema, Renten-, Sozial- Arbeitslosenversicherung nicht mehr anschneiden. Ohne Einschränkung keine Lösung. Dies gilt nicht nur für Arbeiter und Angestellten sondern auch für unser Staatsdiener.
Fred Reinhardt


Ernst antwortete am 02.02.03 (02:19):

@Barbara und Marianne
Die dringende Notwendigkeit einer gerechteren Verteilung verfügbarer Arbeit ist vielen unserer Geistesgrößen seit langem bewußt. Neben Oskar Lafonataine wären hier auch Äußerungen von Carl Friedrich von Weizsäcker oder Sabine Hildebrand zu erwähnen. Unter der Literatur zu dem Thema sei auf eine Publikation von Gerd Flum und Barbara Gierull �Immun gegen Arbeitslosigkeit� hingewiesen, wo sich neben Lösungsansätzen und Argumenten auch weitere Literaturhinweise finden, runterzuladen s. Link. Ein Problem ist wohl auch, daß bei vielen ähnlichen Denkanstößen entweder zu stark vereinfachende Milchmädchenrechnungen oder zu langatmige Verkomplizierungen vereiteln, daß es die Allgemeinheit begreifen kann. Ganz zu schweigen von jenen, die kraft ihres Amtes dem Wohl der Allgemeinheit verpflichtet wären, jedoch aus Eigennutz die Umsetzung unter fadenscheinigen Begründungen boykottieren.

Das Argument, Arbeitsplätze erhalten zu wollen, wird leider von schlitzohrigen Führungskräften auch zu einträglichem Abzocken mißbraucht. Hierbei werden Mitarbeiter unter Androhen von Massenentlassungen zu �freiwilligem� Verzicht auf Entlohnung oder Arbeitszeit bewegt, ohne daß eine echte Notwendigkeit bestünde. Das klappt jedoch immer seltener. Weil sich niemand auf die Dauer für doof verkaufen läßt, ist die ablehnende Skepsis gegen eine gerechtere Aufteilung der verfügbaren Menge an Arbeit nicht verwunderlich. Fänden sich unparteiische Kontrollmechanismen, die diesen Mißbrauch einschränken und damit das Vertrauen zwischen Belegschaft und Führung stärkten, so sind die Beschäftigten durchaus zu solidarischem Verhalten fähig, wie Betriebe ( Beispiel Nationaltheater Weimar) demonstrieren, in denen der Mensch wirklich noch vor der Ökonomie rangiert, wo Wirtschaftlichkeit Mittel zum Zweck und nicht Selbstzweck ist.

@ Fred Reinhardt
Hohe Tarife, beträchtliche Lohnnebenkosten, steigende Urlaubsforderungen oder �soziale Hängematten� sind Teilaspekte, die das Problem der unaufhaltsam sinkenden Menge an verfügbarer Arbeit zusätzlich verschärfen. Sie sind Folge und nicht Ursache kurzsichtigen Anspruchsdenkens. Ist dieses Denken nicht nur eine Sonderform von Rücksichtslosigkeit, wie sie sich halt eben auch in der Unfähigkeit, Vorhandenes zu teilen, zeigt?

mfg
Ernst

Internet-Tipp: https://www.reformwerkstatt-ruhr.de


schorsch antwortete am 02.02.03 (10:25):

Ich Unterstütze die Ausführungen von Ernst vollumfänglich.

@Fred Reinhard
Wäre denn DIE Lösung, alle Sozialbeiträge der Arbeitgeber zu streichen? Meine Meinung: Wer im Alter Geld hat, lässt es wieder der Allgemeinheit zufliessen. Wer im Alter kein Geld hat, muss von der Allgemeinheit leben.

Frage: Wer ist die Allgemeinheit?
Antwort: Wir - die grosse Masse!


Angelika antwortete am 02.02.03 (11:05):

All dem bleibt wenig hinzuzufügen - ausser vielleicht der Amerkung, dass die einen die gesellschsaft sind und die anderen sie (versuchen zu) verwalten. Solidarität ist "ganz unten" sehr gross - ich brauch nur an das Haus zu denken in dem ich wohne: Es ist ein riesiges altes Bauernhaus, in dem es 5 Wohnungen gibt. Eine davon habe ich. Dann sind Bruder und Schwester, beide fast 80, der Pflegedienst kommt 2x am Tag, nur einer von den beiden kann noch mal bis in den Schuppen, um Kohle zu holen (einige hier im Haus haben noch Ofenheizung) - ausserdem sind da noch 1 Student, 1 trockner Alkoholiker, der arbeitslos ist und sehr hilfsbereit ist, den riesigen Garten versorgt und den Flur putzt. Dafür legen wir anderen zusammen. Und im ersten Stock wohnt noch ein ehem. Obdachloser, der nun aber seit 5 Jahren einen Job als Wachtmann hat und jede nacht arbeitet und dann bin ich mit meinen Hunden noch da. Jeder von uns guckt mindestens 1x am Tag bei den beiden Alten rein, wir erledigen für sie die Einkäufe, 1x im Monat koch oder back ich für "die Jungs" im Haus und schmeiss ihre geswaschene Wäsche in meinen Trockner, da keiner sonst einen hat. Jeder hilft jedem - und doch bleibt es bei dreundlicher Distanz, keiner geht dem anderen auf den Wecker. Da denke ich fängt Solidarität an - und nicht bei den "Köpfen". Ich denke, die Gesellschaft ist viel besser als ihr Ruf. Vielleicht kommen die Gewerkschaften auch mal dahinter und wehen "Solidarität" zum Leidwesen aller anderen nicht so schrecklich eindimensional.


Helga B. antwortete am 02.02.03 (22:18):

Hat nicht auch die Globalisierung etwas mit der wirtschaftlichen Misere zu tun? Die staatlichen Betriebe werden verkauft, privatisiert, und es geht danach nur noch um Gewinn - und das bei lebenswichtigen Ressourcen als da sind Wasser, Strom, Post, Telefon, Gesundheit, Schulen, Renten etc. Und wo es um Gewinn geht, funktioniert dann alles anders. Am Beispiel Chile läßt sich das sehr gut sehen; dort sind nicht einmal die Renten mehr sicher (weil privatisiert).
Außerdem haben die meisten größeren Firmen die "Fusionitis", die Börsen schieben Riesengeldbeträge hin und her und rund um den Globus,und niemand kann das mehr richtig kontrollieren. Fast jede Fusion fängt damit an, daß angeblich niemand entlassen wird, aber da das meistens einer der Gründe für die Fusion ist, ist das nur ein Ammenmärchen, denn nach einer solchen ist vieles ja doppelt, und man kann weiter rationalisieren, also entlassen. Und so weiter, und so weiter, und so weiter...
U.a. können wir in Chile sehen, wohin diese Machart geht; dortsind nicht einmal mehr die Renten sicher, weil privatisiert.


schorsch antwortete am 03.02.03 (09:58):

Fusionen können verschiedene Gründe haben:

1. Ein starkes Unternehmen fusioniert mit einem anderen starken. Grund: Erlangen eines Monopols - damit man die Preise diktieren kann.

2. Ein starkes Unternehmen reisst sich ein paar marode unter den Nagel. Grund: Eliminieren unliebsamer Konkurrenz. Erst zu spät merkt dann der Aufkäufer, dass man - genau wie wenn man infiziertes Fleisch isst - dabei selber krank werden kann.

3. Ein starkes Unternehmen reisst sich ein paar marode unter den Nagel. Grund: Die Aufgekauften schliessen.

Aber eigentlich ist ja der "Grund-Grund" immer der gleiche: Ich will herrschen und bestimmen!


Fred Reinhardt antwortete am 03.02.03 (10:52):

Hallo Schorsch.

Meine Überlegung mehrere Feiertage und einige Urlaubstage abzuschaffen, dafür eine kräftige Lohnerhöhung, würde prozentual, allen Sozialkassen zu Gute kommen. Mit dem Abbau von bezahlten Feier- Urlaubstagen kann man auch ganz neu über eine Reform im sozialen Bereich nachdenken.




henner antwortete am 03.02.03 (17:54):

@ Fred Reinhard
Meine Überlegung-entgegen Deiner-,,,Urlaubstage verdoppeln,bei etwas weniger Lohn/Gehalt und dafür die Arbeitslosen einstellen bei etwas mehr Lohn/Gehalt als "Stütze",dafür alle Arbeitsämtler einsparen (da ja dann auch diese Beschäftigten Arbeit ,Lohn und Brot fänden)
,,,ich weiß das ist nicht gewollt,passt nicht ins Konzept und ist natürlich nicht bis zuende durchdacht,,,
ich bin nach wie vor der Meinung auf den meisten Behörden und Ämtern wird nicht gearbeitet ,sondern beschäftigt.(als wir in den Siebziger Jahren einen grossen Produktionsbetrieb aufbauten begann alles mit einer allgemeinen Verwaltung-Personalabteilung,Lohnrechnung,Investbereich,Materialplanung,Beschaffung/Absatz und und und,,als dann die Produktion beginnen sollte musste die Verwaltung aufgestockt werden weil sie mit sich selber schon voll beschäftigt war)
wir hatten aus den Augen verloren,das auch noch produziert werden sollte *ggg*