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THEMA:   Persönliche Tabus in einer enttabuisierten Gesellschaft

 18 Antwort(en).

dirgni begann die Diskussion am 05.04.04 (00:02) mit folgendem Beitrag:

Es wir über alles und jedes geredet und berichtet. Weder in der Berichterstattung noch in der Werbung gibt es noch Tabus. Manchmal hat man den Eindruck, tabu ist nur mehr, daß es noch Menschen gibt, die Tabus als sinnvoll erachten :-)

Sind denn Tabus immer nur eine Einschränkung bzw. ein von der Gesellschaft aufgezwungenes Korsett? Sind sie denn nicht z.B. auch ein natürlicher Schutz der Intimsphäre?
Gibt es für Euch noch persönliche Tabus, obwohl öffentlich längst über alles gesprochen werden darf?


julchen antwortete am 05.04.04 (05:25):

Warum muss ein Tabu inbedingt "eine Einschränkung bzw. ein von der Gesellschaft aufgezwungenes Korsett"
sein?

Warum kann oder darf nicht jeder Mensch seine
eigenen Tabus haben? Und entscheiden ob, wann,
oder ueberhaupt er/sie diese diskutieren moechte. Oder, noch schlimmer,
unter dem Druck der "oeffenltichen tabu-losen" Meinung einfach meint aufgeben zu muessen?

Gewisse Tabus, die ich in als Teil meiner Persoenlichkeit sehe, empfinde ich NICHT als
"eine Einschränkung bzw. ein von der Gesellschaft aufgezwungenes Korsett"..sondern wehre mich
dagegen diese, meine Ueberzeugungen, unter Druck
gesetzt zu sehen von der "Gesellschaft".

Eine Gesellschaft die mir raten moechte, dass ALLES
ok ist und ich altmodisch, verstaubt, und dusslig bin,
wenn ich meinen persoenlichen Satz Tabus huete
wie das geerbte Geschirr der Oma, ist eine Gesellschaft
mit der Einiges nicht im Reinen liegt!


radefeld antwortete am 05.04.04 (06:59):

Du hast Recht, Julchen: SO eine Gesellschaft ist nicht UNSERE. Gottseidank leben WIR in Ländern, in denen man noch seinen eigenen Vorstellungen entsprechend leben kann. Mindestens in der ideelen Sphäre. Materiell geht das zwar nicht immer so gut, schon wegen der begrenzten Mittel- aber man kann auch da durchaus SEINEN Werten, wenigstens für sich selbst, Geltung verschaffen.
Und wenn die Anderen uns eben als altmodisch, verstaubt und dussellig ansehen, dann sollen sie nur! Wenn sie denn etwas davon haben? Und das haben sie: Ein gesteigertes Selbstwertgefühl, das sich mangels Masse und Leistung auf reeler Basis kaum steigern lässt.


wanda antwortete am 05.04.04 (09:34):

ich sehe es genau so wie julchen, nur denke ich, dass sich Tabus auch verschieben. Ein Tabu ist nichts feststehendes, heute mag ich darüber reden aber in einem halben Jahr auf gar keinen Fall.
Das Schamgefühl ist das, was uns vom Tier unterscheidet.
Auch Jugendliche haben durchaus Tabus - es ist nichts unmodernes.


schorsch antwortete am 05.04.04 (10:02):

Ich denke, Tabus und Schamgefühl sind nicht unbedingt dasselbe. Beispiel: Ich weiss zwar, dass ich das und das nicht tun darf oder sollte, weil es die momentane "Etikette" so verlangt. Aber ich schäme mich nicht, es hin und wieder trotzdem zu tun......


Medea. antwortete am 05.04.04 (13:33):

Zu meinen persönlichen Tabus gehört es, daß ich wissentlich kein Fleisch von geschächteten Tieren esse - um die entsprechenden Lokale mache ich einen Bogen ......
Meinen eigenen Fleischverbrauch habe ich sowieso auf ein Mindestmaß reduziert, bin allerdings keine Vegetarierin, genieße aber durchaus zwischendurch einen Rinderbraten in Rotweinsauce oder einen Tafelspitz mit Merettichsahne.


carla antwortete am 05.04.04 (15:03):

In dem Link unten werden Tabus u.a. unter dem Gesichtspunkt des Nutzens betrachtet, was mir sehr einleuchtet. Ich finde diesen Link sehr nachdenkenswert.
Er zeigt, daß eine Gesellschaft, die glaubt, keine Tabus mehr zu brauchen, dadurch andere aufstellt, die den Trend der GEsellschaft untermauern: jung, dynamisch, gesund und ohne Hinweis auf die Vergänglichkeit des Lebens zeigt die Werbung den Menschen. Das Gegenteil davon ist dadurch tabuisiert.

Internet-Tipp: https://www.beepworld.de/members45/asher/tabu.htm


juergen1 antwortete am 05.04.04 (18:17):

>> kein Fleisch von geschächteten Tieren essen <<

Ja göttliche Medea,
ich habe da die gleiche Meinung - sowas ist wirklich nicht mehr ganz koscher. Brrrrrrrr :-(


julchen antwortete am 06.04.04 (05:55):

hallo Radefeld,
...Ein gesteigertes Selbstwertgefühl, das sich mangels Masse und Leistung auf reeler Basis kaum steigern lässt...........

Das empfinde ich als wahr!

Das Motto, je doller, je uneingeschraenkter, desto Moderner hat sich leider in westlichen Gesellschaften
sehr breit gemacht.
Konsequenzen in der Zukunft (psychologich fuer uns
und/oder Einfluss auf das Leben der Kinder unserer Kinder etc) wird wohl abzuwarten sein.
(Ich bin ein bisschen juenger und mein sohn ist erst 18)....
....aber, der waere mit 16 SEHR (und auch jetzt) schlecht beraten gewesen mir zu unterbreiten, dass
er gedenkt mit seiner 16/17/18-jaehrigen Freundin die
Nacht in seinem zimmer zu verbringen......zum Beispiel!

Medea sagt: .....Zu meinen persönlichen Tabus gehört es, daß ich wissentlich kein Fleisch von geschächteten Tieren esse - um die entsprechenden Lokale mache ich einen Bogen ......

Das ist auch so eine Sache, fuer den der Grossteil der
Gesellschaft wenig Verstaendnis hat und es fuer
"Kooky" befindet.
Ich Meine, Medea sollte sehr wohl frei sein zu tun und
zu lassen was sie moechte in der Beziehung, ohne
Gesellschaftlich dafuer aufgezogen/unter Druck gestellt zu werden.

Wie egal sollte es den Andern denn noch sein, ob jemand
Fleisch, kein Fleisch, nur gewisses Fleisch, oder Insekten zum Verzehren mag?

Carle empfindet dass die Welt der 50ig und drueber
tabuisiert wird,

...Er zeigt, daß eine Gesellschaft, die glaubt, keine Tabus mehr zu brauchen, dadurch andere aufstellt, die den Trend der GEsellschaft untermauern: jung, dynamisch, gesund und ohne Hinweis auf die Vergänglichkeit des Lebens zeigt die Werbung den Menschen. Das Gegenteil davon ist dadurch tabuisiert..

in Gewisser Beziehung hat sie da Recht.

Zurueckdenkend muessen wir aber alle sagen, dass
wir in Jungen Jahren wenig Zeit fuer die Oma hatten.
Dachten dass wir fuer immer Leben und fuer immer Jung sind............

Da hat sich doch wenig gaendert.- Ausser den Werbeplakaten.

Bei Licht betrachtet kocht jede persoenliche Tabu-Suppe
doch runter zu dem Fakt, dass sich keiner einen Dreck
scheren sollte um was DIE ANDERN FUER GUT UND RICHTIG HALTEN.
Schliessliche sehen wir NUR uns selber wenn wir in den Spiegel kucken. Ich persoenlich moechte das
jeden Morgen tun koennen mit dem Gefuehl mir selber treu geblieben zu sein in den letzten 24 Stunden -
und wenn's der Ganzen Welt nicht passt.


Geli antwortete am 06.04.04 (08:51):

Hallo dirgni, meinst Du vielleicht (auch) die uns u.a. durch die Werbung und andere Medien aufgezwungene ständige Verletzung unserer persönlichen (oder vor einigen Jahren auch noch gesellschaftlichen) Tabus? Es ist natürlich auch tabu, sich darüber zu beklagen ;-)))

Ein wenig in diese Richtung geht wohl auch der Titel einer Sendung auf Ö1 heute zwischen 9 und 10 Uhr: "Von den unaussprechlichen Unterhosen zur allgegenwärtigen Nacktheit" (was natürlich nur einen Aspekt beleuchtet).


pilli antwortete am 06.04.04 (08:57):

mmhhh...ob dirgni weiss was "Tabu" bedeutet...?

magst du mal eines deiner tabus mitteilen, dirgni damit dein gedankengang für mich verständlicher wird?

:-)


Medea. antwortete am 06.04.04 (15:48):

Vor ein paar Abenden gab es den Krimi "Abschaum" im Ersten.
Es ging um "Sanatismus" mit Kindesmißbrauch in unserer Gesellschaft - der ja im Verborgenen existieren soll.

Dieses Thema würde auch zu den "Tabus" gehören.


schorsch antwortete am 06.04.04 (17:40):

Auf meiner PC-Tastatur ist eine Taste mit "Tabu" angeschrieben. Jahre lang habe ich mich nicht getraut, sie zu berühren. Nun bin ich per Zufall darauf gekommen, dass das die Abkürzung für "Tabulator" ist (;--))))


simaja antwortete am 06.04.04 (17:51):

für mich persönlich gibt es keine tabuthemen.

ich rede über alles sehr offen. so ist einfach meine art. ABER eigentlich finde ich es nicht wirklich ok, das ich so frei und offen ohne jeglichen tabus bin. weil dadurch werde ich oft als nicht ganz zurechnungsfähig, als bissel beschucke angesehen. weil normaler weise ist die menschheit schon in der regel so, daß sich jeder mensch ein gewisses maß an tabuverhalten gibt.

daher eigentlich ist ein sich zurückhalten, ein tabu eher gutes benehmen.


carla antwortete am 06.04.04 (19:48):

Also gibt es (zu diesem Gedanken bringt mich das Posting von Simaja) zweierlei Tabus bzw. Tabu-Freiheit: mein eigenes Tabu (oder eben NIcht-Tabu) und das meines Gesprächspartners.
Ich bin zwar auch für möglichst große Freiheit in der Wahl von Gesprächsthemen. Trotzdem werde ich manche Themen meiden oder nur sehr vorsichtig anschneiden, wenn ich weiß, daß mein GEsprächspartner damit Tabu-Probleme hat.


dirgni antwortete am 06.04.04 (20:31):

<mmhhh...ob dirgni weiss was "Tabu" bedeutet...?>
Nein natürlich nicht pilli, allerdings erstaunt es mich, daß Du in dieses Thema hereingeschaut hast.

Die Beiträge der anderen Teilnehmer habe ich mit viel Interesse verfolgt. Es wäre wohl auch nicht sinnvoll, sämtliche auffindbaren Definitionen hierher zu kopieren.

Mir ging es vor allem um die Diskrepanz zwischen öffentlicher Enttabuisierung und den persönlichen Ansichten. Über vieles z.B. Gewalt, Ausländerfeindlichkeit usw. gibt es unzählige Berichte, aber ich kenne niemanden, der darüber sprechen würde, daß in seinem persönlichen Umfeld solche Ansichten oder Geschehnisse vorkommen. Die meisten würden wohl nicht einmal eine Nachbarin fragen, woher das verschwollene Gesicht kommt oder das Kind die blauen Flecken hat.


schorsch antwortete am 07.04.04 (11:06):

Diskutieren kann man über alle Tabus - aber man sollte sich hüten, einige davon auf einem öffentlichen Marktplatz bei Tageslicht zu praktizieren......


siria antwortete am 10.04.04 (11:12):

Darf ich etwas Lustiges beifügen? Es ist absolut nicht ernst gemeint, ich möchte nicht, dass jemand denkt, ich ziehe berechtigte Tabus ins Lächerliche.

Also: In einem Affenkäfig sind 10 Affen. In der Mitte hängt ein Büschel Bananen. Die Affen lieben Bananen, sie greifen nach der erstbesten. Da erfolgt eine Dusche von oben.

Affen hassen Duschen, also werden sie nach der zweiten Dusche die Bananen nicht mehr anrühren, um nicht nass zu werden.
Jetzt wird ein Affe ausgewechselt. Der Neue geht sofort auf den Bananenbüschel los, wird von den andern aber gehindert daran, denn die wissen ja, dass man geduscht wird, wenn man an den Bananen zieht.

Nach und nach werden alle Affen ausgetauscht, keiner weiss mehr um die Dusche.
Jeder weiss, dass die Bananen tabu sind, und keiner weiss warum!!!


Karl antwortete am 10.04.04 (14:30):

Liebe siria,


das ist ein sehr schönes und lehrreiches Beispiel! Es zeigt nämlich, dass viele Tabus einen sinnvollen Anfang haben. Meistens haben oder hatten Tabus eine Schutzfunktion. Nimm z. B. das Inzestverbot. Es ist genetisches Basiswissen, dass Kinder aus Verwandtschaftsbeziehungen große Gefahr laufen, erbkrank zu sein. Das kommt daher, dass die meisten Menschen mischerbige Überträger für irgendeine Erbkrankheit sind. Verwandte (nicht angeheiratete) Personen sind mit größerer Wahrscheinlichkeit für die gleichen Erbkrankheiten mischerbig. Kinder von verwandten Eltern haben deshalb eine höhere Wahrscheinlichkeit krank zu sein. Biologisch ist dieses Inzestverbot so tief in uns verwurzelt, dass das "Tabu" meistens gar nicht kulturell verstärkt werden muss.
Auch bei anderen Tabus ist es interessant nach den häufig "biologischen" Ursachen zu forschen. Meistens wird man fündig.